Progressiver hat geschrieben:(30 Jul 2017, 00:48)
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Irgendwann im 4. Jahrhundert wurde das Christentum Staatsreligion im Römischen Reich. Der damalige Bischof von Mailand emanzipierte sich aber gegen Ende des Jahrhunderts vom Kaiser. Als dieser mal wieder 6.000 Aufrührer niedermetzelte, sollte der Kaiser zur Strafe im Büßergewand in der Kirche erscheinen und seine Taten bereuen. Er tat es. Zwanzig Jahre später wurde Rom selbst von feindlichen Barbarenstämmen überrannt.
Das war eine persönliche Entscheidung des Kaisers Theodosius. Sie verwies allerdings auf die mittelalterliche Entwicklung, auf den sog. Investiturstreit, der die Frage der Vorherrschaft der geistlichen (Papst) oder der weltlichen Gewalt (Kaiser) in den politischen Mittelpunkt rückte und den Anfang einer Trennung von Staat und Kirche einleitete. Theodosius unterwarf sich als Mensch, nicht als Kaiser der geistlichen Gewalt des Bischofs. Im oströmischen Reich ist es dem Patriarchen nie gelungen, sich der Oberherrschaft des Kaisers zu entwinden. Im Westreich konnte der Papst kaisergleiche Stellung erlangen und sich dem Einfluss des oströmischen Kaisers entziehen, schließlich mit Karl d. Gr. aus eigener Machtvollkommenheit einen westlichen Kaiser einsetzen. Kurz: Eine Schwächung des Kaisertums durch die Kirche fand nicht statt, im Gegenteil sicherte die Kirche durch ihre Verwaltungsstrukturen, die gelegentlich die Staatsverwaltung ersetzte, und durch eine Neuausrichtung von Karrieren der Reichseliten auf eine geistlich-bischöfliche Laufbahn insgesamt das Reich und seinen Zusammenhalt.
Aber auch an der Basis stimmte die Welt der Antike nicht mehr. Vorher erfüllten die materialistischen Römer ihre Pflicht als Staatsbürger. Sie ließen sich, wenn sie reich genug waren, in Staatsämter wählen. Und fast alle huldigten dem Kaiser als Gott. Diese Sicht war sicher totalitär. Die aufrührerischen Christen jedoch mochten ihre staatsbürgerlichen Pflichten nicht mehr erfüllen. Wichtiger als die Ausschweifungen des irdischen Daseins war ihnen die Sorge, dass sie nach dem Tode in einem Jenseits landen würden, in dem sie weiter leben konnten. Während die Konflikte der römischen Gesellschaft vorher durch irdische Gewalt gelöst wurden oder auch nicht, glaubten die eskapistischen Christen, dass sich alle Probleme in einer jenseitigen Welt auflösen würden.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich die Mentalität der Menschen im Laufe der Antike verändert hat. Dass sie sich vom Staat abgewandt hätten, ist nicht belegbar. Das gilt auch für die Christen – dass die Reichskirche den Staat in schwierigen Zeiten eher stabilisiert als destabilisiert hat, habe ich schon geschrieben. Dass das Christentum das römische Reich geschwächt hätte, ist eine seit langer Zeit schon widerlegte These Gibbons.
In diesem Sinne kann man meiner Ansicht nach schon die Frage stellen, ob das einstmals kriegerische Volk der Römer durch das Christentum nicht einer Art Defätismus anheimfiel. Als Rom nämlich noch gegen Karthago kämpfte, wurde in der Serie betont, zeichneten sich die Römer dadurch aus, dass sie sich lieber wie in Cannae von Hannibal zu zehntausenden abschlachten ließen als aufzugeben. Dass das für das christliche Rom galt, lässt sich nicht belegen. Im Gegenteil. Anstatt sich für den römischen Staat aufzuopfern, wie es Generationen vor ihnen schon taten, gierten die ersten Christen laut der DVD geradezu danach, als Märtyrer zu sterben, da ihnen mit dieser Methode das "Reich Gottes" als absolut sicher galt. Viele wollten dabei lieber hingerichtet werden als weiterhin dem Staat zu dienen und dem Kaiser zu huldigen.
Solche Thesen sind schon dadurch widerlegt, dass das oströmische Reich einen ähnlichen Weg hätte einschlagen müssen. Soweit man das nachvollziehen kann, waren seine Bewohner in weit größerer Zahl christianisiert als das weströmische Reich, in dem das Heidentum lange Zeit, gerade in ländlichen Gebieten überlebte. Fest steht, dass weder die Bewohner des oströmischen Reiches noch des weströmischen Reiches nur noch nach dem “Reich Gottes“ gestrebt und ihre weltlichen Aufgaben vernachlässigt hätten. Beide Reiche überlebten in unterschiedlicher Form: während das oströmische Reich sich nur allmählich wandelte und mittelalterliche Strukturen annahm, vollzog sich diese Entwicklung unter germanischem Einfluss im Westen schneller. Nicht zuletzt durch den Aufstieg des Papsttums blieb aber die Idee, weiterhin Teil des römischen Reiches zu sein, lebendig und fand seine reale Fortsetzung in der Wiederbelebung des weströmischen Kaisertums durch den Papst.
Meine Einschätzung ist, dass sowohl das alte martialische Denken als auch der christliche Glaube auf ihre Art und Weise totalitär wirken. Jedoch gab es zu alten Zeiten, in denen die römischen Götter angebetet wurden, im schlechtesten Falle Bürgerkriege. Gegen äußere Feinde wusste man sich dagegen zu wehren. Die neue Religion dagegen stellte alles auf den Kopf. Da den Christen die "ewige Stadt Gottes" und ihr eigenes jenseitiges und zukünftiges Leben wichtiger war als das schnöde Diesseits mit ihren Städten der Menschen, war auch die Einnahme Roms durch die Barbaren kein Weckruf mehr. Zumindest, was das Weströmische Reich betrifft, so zerfiel die staatliche Einheit. Das Weströmische Reich wurde schließlich vernichtet.
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Das römische Reich in irgendeiner Art und Weise mit dem Totalitarismusbegriff in Zusammenhang zu bringen, geht an der historischen Realität vorbei.
Dass die Römer dem Ansturm der germanischen Völker unterlagen, ist nur die halbe Wahrheit. Die Germanen wollten Teil des römischen Reiches werden und seine Vorzüge genießen. Umwelteinflüsse, wirtschaftliche Krisen und innere Unruhen bzw. Auseinandersetzungen über viele Jahrzehnte (sog. Reichskrise des 3. Jahrhunderts) haben die Kräfte des Reiches geschwächt. Konnten die germanischen Vorstöße im 3. und 4. Jahrhundert noch einigermaßen abgewehrt werden, gelang das im 5. Jahrhundert nicht mehr. Die Eroberungen und Plünderungen Roms waren für die gesamte römische Welt ein Schockerlebnis!
Unsolidarisches Verhalten der östlichen Reichsleitung führte dazu, dass das Westreich die Hauptabwehrlasten zu tragen hatte mit dem Ergebnis, dass immer mehr Germanen an der Reichsleitung beteiligt werden mussten bzw. immer mehr Reichsgebiet unter ihren Einfluss geriet, was die weströmische Reichsleitung mehr und mehr schwächte. Zwar fühlten sich die germanischen Herrscher zunächst als Angehörige der Reichseliten und der Reichsverwaltung, sie respektierten die Kaiser im Westen und Osten, doch im Laufe der weiteren Entwicklung, vorallem seit es keinen weströmischen Kaiser mehr gab, gelangten sie zunehmend zu einer unabhängigen Stellung, die dem oströmischen Kaiser allenfalls einen Ehrenvorrang zugestand. Wie schon geschrieben, errang sich im Westen der Papst eine kaisergleiche Stellung. Insofern ist das Westreich auch nicht “untergegangen“, sondern seine Strukturen und Herrschaftseliten wandelten sich.