Vielen Dank für den von Ihnen verwiesenen Artikel mit dem anmaßenden Titel „Nietzsche verdankte alles einem Amerikaner“. Er hat mich in seiner bodenlosen Impertinenz und Verdrehung köstlich amüsiert. Ein vorzügliches Exempel bundesdeutscher Schmierfinkerei!
Frech und falsch ist er in doppelter Hinsicht:
1) Wird Ralph Waldo Emerson implizit mit dem heutigen, postmodernen Amerikanismus gleichgesetzt, was natürlich Unsinn ist, hätte dieser feine Geist kulturell besserer Zeiten den letzteren doch kaum weniger verachtet als Nietzsche, Goethe, Stendhal, Schopenhauer oder La Rochefoucauld.
Emerson in den jetzigen USA wäre zu einer Existenz à la Nicolás Gómez Dávila verurteilt worden. –
2) Entsprechend waren manche Deutschamerikaner, die Nietzsche noch zu dessen Lebzeiten in Neuengland lasen, noch gar keine barbarischen „Amis“ im heutigen, postmodernen Sinne, sondern eben noch Kulturmenschen, mit Sinn für Geist und Geistigkeit, der damals in mancher Hinsicht in Amerika vorübergehend vielleicht sogar besser gedeihen konnte als im sich überhastig industrialisierenden Hohenzollern-Deutschland, das Nietzsche ja als „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches“ empfand.
Die deutschamerikanischen Nietzsche-Leser haben sich damals ja nicht in die jetzige McDonalds- und Mickey-Mouse-USA integriert, sondern in ein noch sehr junges, wachsendes Staatsgebilde, dessen Zukunft in vieler Hinsicht damals noch offen zu sein schien. –
3) Ist die Formulierung, selbst wenn sie nur als stilistische Zuspitzung gemeint war, „ohne Emerson hätte Friedrich Nietzsche wahrscheinlich kein Wort geschrieben“ an suggestiver Debilität kaum noch zu überbieten. Als ob der bedeutende Kopf von Natur aus eine denkunfähige Tabula rasa ist und erst durch seine Lese-Eindrücke mit dem eigenen Denken anfängt! Man könnte die Passage fast als kruden Ausdruck rein behavioristischer Denkungsart deuten – welche, in parenthesis, in Amerika ihre Wurzeln hat!
Besonnener hätte man vielleicht schreiben können: „Ohne Emerson würde unser Nietzsche wohl in manchen Passagen seines Werkes ein wenig anders klingen.“
4) War nun gerade Emerson – wohl mehr als jeder andere amerikanische Intellektuelle seiner Zeit – von deutscher Geistigkeit tiefstens beeinflusst, namentlich von der Transzendentalphilosophie des Königsbergers. Somit hat nicht nur Nietzsche vom großen Amerikaner, sondern dieser auch vom großen Preußen (und anderen deutschen idealistischen Denkern) profitiert. Eine generationenübergreifende Win-Win-Situation, um es einmal auf amerikanisch auszudrücken! Damals waren die USA noch ein Säugling an der Brust der europäisch-abendländischen Mutterkultur, auch wenn sie sich langsam aber sicher anschickten, auf den eigenen Füßen zu stehen, bald auch schon zu laufen, ja und bald auch schon gegen die eigene Mutter anzurennen. –
Gegenseitige Befruchtung zwischen verschiedenen Ländern oder gar Kulturen hat es natürlich immer gegeben, von daher schon muß der ganze Duktus des Welt-Artikels ungemein trivial und reklameartig erscheinen. Was dieser alberne Artikel will das ist ungefähr dasselbe als wenn ein deutscher Konservativer bitter-triumphierend ausrufen würde: „Ohne Friedrich Wilhelm von Steuben würde es anstelle der USA immer noch eine britische Kolonie dort geben!“ – und dies sogar mit einer nicht zu unterschätzenden Berechtigung. Umso krasser, daß diese USA, die ohne die Taten des preußischen Generals schwerlich über Britanniens Söhne triumphiert hätten im Kampf um ihre Unabhängigkeit, 1947 schließlich Preußen endgültig ermordeten. Undank ist auch der neuen Welten Lohn!
So könnte man es, mit einer gewissen Zuspitzung, tatsächlich formulieren – von der historischen Wahrheit entfernt man sich damit keineswegs weiter als jener tolldreiste Artikel. –
Des Weiteren weisen Sie hin auf:
Hans Albers hat geschrieben:Charlie Chaplin, experimentelle Undergroundfilme, Andy Warhol, usw. - jede Menge Filme gegen Kapitalismus und Entfremdung zum Thema haben.
Nun, das ist ja auch das Allermindeste, daß es in einem Land, welches wie kein anderes Kapitalismus und Entfremdung auf die Spitze treibt, wenigstens einige Köpfe gibt, die das ansprechen bzw. kulturell aufarbeiten. Es geht mir nicht darum zu bestreiten, daß es selbst heute noch auch drüben einige begabte Köpfe gibt, die zumindestens in Ansätzen erkennen, wie verderblich doch der postmoderne amerikanische Ungeist für den Menschen und dessen Kultur ist. Es geht mir vielmehr um das Herausarbeiten einer Beschreibung dieses Ungeistes selbst. –
Amerika hat sich nun einmal, spätestens seit 1917, eigentlich aber schon 1898 für das Imperium und gegen die Kultur entschieden. Es wurde ein dominant politisches Land auf Kosten der Kultur. Nicht mehr Emerson und Thoreau, sondern Wilson und Roosevelt wurden zu den großen Gestalten, die für amerikanisches Daseinsgefühl prägend und vorbildlich wurden. Wie Nietzsche schon sagte, kann ein Volk bzw. Land schwerlich gleichzeitig imperiale Großmacht und feinste Kulturnation sein – genausowenig wie ein Mann literaturkundiger bzw. schöpferischer Feingeist und Bodybuilder bzw. Leistungssportler zugleich sein kann. Was man in die eine Richtung an Kräften ausgibt, das fehlt für die andere wie Nietzsche sagt.
Auch in Europa stehen die imperialen Völker, etwa Spanier, Portugiesen und Briten, in ihrem kulturellen Reichtum durchaus zurück gegenüber den nichtimperialistischen Völkern, vor allem denen, die erst spät zu sich selbst, zu einem Nationalstaat fanden, also Deutschland und Italien. Letztere beiden Völker haben zusammen für die abendländische Kultur vielleicht mehr geleistet als der europäische Rest und Amerika zusammen.
Ich bin durchaus nicht gegen den Nationalstaat, aber ich bin gegen den Imperialismus. Dieser zerstört ja gerade Nationen und mit diesen ihren Kultur. Während der frühen Neuzeit hat der spanische Imperialismus mittels seiner Conquistadores die alten amerikanischen Hochkulturen der Inka und Aztekten ausgelöscht und ein Ruinenfeld hinterlassen, das heute von kulturell wie zivilisatorisch wenig fruchtbaren Mestizenvölkern bewohnt wird.
Auch der britische Imperialismus hat alten Kulturvölkern wie den Indern keinen Nutzen, sondern nur zeitweise Unterdrückung und Ausplünderung gebracht. Eigene Kulturen haben die Briten nur dort geschaffen, wo selbst keine Hochkultur bestand und sie das Land im Wesentlichen selbst besiedelt haben, also „down under“ und Nordamerika. Nur sind diese Kulturen eben niemals Hochkulturen geworden, sondern platte, „demokratische“, d. h. plutokratische Zivilisationen.
Im gesamten Bereich des heutigen Imperium Americanum, zu dem die gesamte englischsprachige Welt sowie Europa zählt, also dem, was man schon verräterisch „den Westen“ nennt (und nicht etwa mehr: das Abendland!) fehlt die feine Vergeistigung des alltäglichen Lebens, fehlt die innere, kulturelle Form, wie sie Hochkulturen immer zueigen und für die einzelnen derselben charakteristisch ist. Der moderne „kulturelle“ Amerikanismus besteht aus Platitüden, flachen Sprachwitzen (siehe Hollywoodfilme), „actionartiger“, kurzfristiger Unterhaltung (Filme, Videospiele, rasches, geistloses „Sightseeing“) im Sinne einer Zerstreuung und Ablenkung (von der inneren Leere kulturloser Menschen eben!) sowie dem umfassenden Siegeszug von Dekadenz in allen Bereichen. Letztere besteht der Definition nach darin, daß das Mittel zu einem Zweck zum Selbstzweck wird – man prüfe mittels dieses Satzes einmal den „Sinn“ des heutigen Sportes, Reisens, Automobilismus, des Sexualverhaltens und dergleichen!