Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Ich widerspreche der Schlussfolgerung, die du daraus ziehst, dass nämlich dadurch, das der Atheist dem Theist nicht glaubt, er dadurch selbst einen Glauben hätte. Du setzt nicht glauben mit glauben gleich und dieser Gedankengang ist falsch. Darum ist auch deine Behauptung, der Atheismus wäre ein Glaubenssystem, falsch.
Dann hast du mich falsch verstanden. Ich bezweifle, dass es so etwas wie "nicht glauben" geben kann. Ich bleibe da ganz bei der These des Pans Narrans, des "erzählenden Affen", die Pratchett aufgestellt hat:
“The anthropologists got it wrong when they named our species Homo sapiens ('wise man'). In any case it's an arrogant and bigheaded thing to say, wisdom being one of our least evident features. In reality, we are Pan narrans, the storytelling chimpanzee.”
Und der Atheist glaubt eben andere Geschichten als der Theist. Man kann zwar angeben, Gott als Antwort auf Fragen auszuschließen, die der Theist eben mit "Gott" beantworten würde - glaubt dafür aber, dass es andere Antworten auf diese Fragen gibt.
Beispiel: Der Theist sagt: "Gott hat den Urknall ausgelöst." Worauf der Atheist zwar sagen kann: "Nein, es gibt keinen Gott" - was aber kein Argument ist, da es keine Alternative anbietet. Er muss also korrekterweise sagen "Wir wissen nicht, was den Urknall, sofern es einen gegeben hat, ausgelöst hat. Es muss etwas anderes als ein Gott gewesen sein."
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Auch hier unterliegst du wieder einem logischen Fehlschluss. Göttliche Macht "gibt" es nur weil Theisten existieren die diese postulieren. Man kann also die Existenz göttlicher Macht nur ablehnen weil es jemanden gibt der diese zuerst behauptet. Wenn niemand behauptet das es einen Gott gäbe kann es auch niemanden geben der diese Behauptung ablehnen kann. Dein Versuch die Existenz eines Atheisten ohne Theisten zu definieren kann gar nicht funktionieren. (A-Theist, klingelt da was?)
Auf welcher gemeinsamen Basis bewegen sich jetzt These (Gott) und Antithese (Kein Gott)? Auf der weltanschaulichen. Die gemeinsame Fragen, die sich beide stellen, sind:
- Wo kommen wir her?
- Warum sind wir?
- Und wo gehen wir hin, wenn wir mal waren?
Während der Theist relativ einfach antworten kann (was den Theismus für simple Geister attraktiv macht - nämlich "Von Gott, für Gott, zu Gott"), sagt der Atheist, dass es hierfür keine einfachen Antworten gebe, man müsse forschen, es gäbe eventuell keine Antwort - was, objektiv genommen, Lösungssubstitute oder Lösungen sind. "Es gibt keine Antwort." ist eine Antwort. Und zugleich auch ein Glaubenssatz, weil der menschliche Geist begrenzt ist. Vielleicht gibt es eien Antwort, die wir einfach nicht erkennen können. Vielleicht nicht. Auch "Egal" ist eine Antwort, die ausdrückt, das die Existenz einer Antwort im Grunde nicht kümmert, weil man die Relevanz der Frage in Zweifel stellt. was aber eine persönliche Aussage ist, welche an der allgemeinen Relevanz der Frage nichts ändert.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Und natürlich gebe ich deiner Behauptung, der Atheismus wäre ein Glaubenssystem, weil er sich durch die Negation der Behauptung des Theisten definiert, nicht Recht. Wie kommst du jetzt nur darauf?
Weil sich beides auf dem selben argumentativen Boden abspielt, wie ich oben schon geschildert habe. Es wird ein andere Lösung oder ein Lösungssubstitut für genau die selben Fragen zur Verfügung gestellt, die sich der Theist auch stellt. Die Überprüfbarkeit ist nur bis zu einem bestimmten Punkt gegeben, und ab diesem Punkt muss man sich auf die Erzählung anderer verlassen.
Genau das ist Glaube: Sich auf die Erzählung anderer verlassen.
Und das macht der Atheist in ähnlichem Maße wie der Theist.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Spielt aber für die Definition eines Atheisten keine Rolle. Ein Flugzeugträger ist ein Flugzeugträger völlig gleichgültig ob er gebaut wurde weil irgendein Diktator seine Potenzprobleme kompensieren will, eine Nation sich für die Weltpolizei hält oder ein größenwahnsinniger seine Nachbarn in Schutt und Asche legen will. Die Motivation für die Existenz einer Sache spielt in der Frage nach der Natur einer Sache nur eine untergeordnete bis gar keine Rolle.
Dinge haben keine Motivation. Sie existieren. Auch in Potentialen. Der Flugzeugträger ist größtenteils Eisenerz, von den Menschen in Form gegossen, aber ohne menschliche Motivation macht der nichts. Irgendwann hört der sogar auf, zu schwimmen und zu sein. Seine Verwendung hängt von den Motiven der handelnden Personen ab.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Und das zu verstehen ist essentiell. Denn jeder Schluss den du auf falscher Basis ziehst kann nur formal richtig sein, aber nicht wahr.
"Wahr" ist auch eine Glaubensfrage. Man kann die Existenz jeder Wahrheit verneinen, ohne damit Probleme zu bekommen. Nennt sich "Dekonstruktivismus", Jacques Derrida hat dazu viel erhellendes geschrieben.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Das hat aber mit dem Atheismus nichts zu tun. Atheismus heisst nicht "Jemand glaubt an etwas anderes als Theisten." Atheismus bedeutet, dass die Behauptung der Theisten abgelehnt wird. Mehr nicht. Was ist daran so schwer zu verstehen?
Weil ein "Nein" keine abschließende Antwort ist, und weil jeder Mensch jede Aussage nur bis zu einem bestimmten Punkt überprüfen kann, glaubt auch der Atheist.
"Glauben" beschränkt sich eben nicht nur auf die Religion, sondern auf die gesamte Weltmechanik. Der Atheist kann nur mit weissen Flecken auf der mentalen Landkarte besser Leben als der Theist. Der Theist sagt: "An diesem weißen Fleck wohnt Gott.", der Atheist sagt "Na, fahren wir mal hin." Er denkt in Potentialen und ersetzt die abschließende Wahrheit des Theisten durch mehrfache "könnte sein". Aber auch der Atheist ist nicht davor gefeit, eine Möglichkeit als wahrscheinlichste anzunehmen. Und ab diesem Augenblick fängt er an zu glauben.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Richtig, Gott oder nicht hat damit nichts zu tun, darum hat dein Ausflug hier auch nichts mit Atheismus zu tun.
S.o....erweiterter Glaubensbegriff.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Jemand der postuliert, man könne wissenschaftlichen Tatsachen mangels Kompetenz ja schliesslich auch "nur" glauben und dies dann mit dem religiösen Glauben gleichzusetzen ist mutig. Sehr mutig. Nicht besonders clever, aber mutig.
Eine Spitze, in ein Kompliment verpackt...ist das jetzt ein Hundeköder mit Glasscherben oder eine Praline hinter Panzerglas?
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Lass es mich mal so sagen: Fakten sind wahr ob man an sie glaubt oder nicht. Der Mond existiert ob du an ihn glaubst oder nicht. Die Sonne existiert ob du daran glaubst oder nicht. Der Glaube, im religiösen Sinn, existiert in der Wissenschaft nicht.
Das stimmt nicht. Der Glaube, dass da etwas anderes sein könnte, macht Wissenschaft erst möglich. Nimm die Poincaré-Vermutung. Sie wurde lange Zeit als unbewiesen angesehen (bis Perelman sie bewiesen hat), aber man konnte damit arbeiten, weil sie eben geglaubt wurde.
Glaube beschränkt sich eben nicht nur auf "Gott" oder "nicht-Gott".
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Wenn du einem Wissenschaftler beweisen kannst, dass seine Thesen falsch sind wird er das, den Beleg vorausgesetzt, akzeptieren. Der Religiöse, nun, sagen wir mal, er hat eine sehr tödliche Historie in Bezug auf die Apostasie.
Auch in der Wissenschaft wird leidenschaftlich gestritten. Othniel Charles Marsh gegen Edward Drinker Cope, Westinghouse gegen Edison, Sarrazin (Wissenschaft *hust*) gegen Fouratan.
Alle glauben, dass die Thesen, in die sie so viel Mühe und Arbeit gesteckt haben, die wahren und besten Thesen sind. Man glaubt den eigenen Geschichten! Auch Gegenbeweise werden häufig nur mit Bauchweh akzeptiert - wenn überhaupt. Häufig versucht ein widerlegter Wissenschaftler, dem sein Lebenswerk unter den Händen zerbröselt, Gegen-Gegenbeweise oder Ausnahmen zu finden, um doch noch im Spiel zu bleiben.
Amun Ra » Mi 25. Feb 2015, 09:44 hat geschrieben:
Ich vermute aber mal zu deinen Gunsten, dass du lediglich mit dem Begriff "Glaube" durcheinander gekommen bist. Der religiöse "Glaube" unterstellt die Überzeugung des absoluten Wahrheitsgehaltes des Glaubensinhaltes wohingegen der "Glaube", den du in Bezug auf Wissenschaft verwendet hast, lediglich bedeutet, dass man einer Aussage aufgrund von vorliegenden Umständen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zuordnet und ihren Wahrheitsgehalt bis zum Beleg des Gegenteils akzeptiert. Die beiden verschiedenen Definitionen sind jedoch nicht deckungsgleich und sollten nicht vertauscht werden. Eventuell liegt auch hierin dein generelles Missverständnis in deinem Postulat, Atheisten würden "glauben"?
Ich bin der Auffassung, beide Begriffe sind absolut kongruent. Beidem liegt eine Annahme zugrunde. Eine wenig plausible in dem einen Falle, ja, aber nichts desto trotz eine Annahme. Die scherzhafte "Theorie des Intelligent Falling" zeigt ganz gut, was ich meine. Hier wurde das Pferd einfach von hinten aufgezäumt und der Theismus (zum Spaße zwar) in eine abgeschlossene wissenschaftliche Diskussion implementiert.
Nachtrag:
Wow. Schönes Thema. Scheint jedenfalls einige "jimmies" zu "rustlen", wie Jingles jetzt sagen würde.
Harry riss sich die Augen aus dem Kopf und warf sie tief in den Wald. Voldemort schaute überrascht zu Harry, der nun nichts mehr sehen konnte.
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