Deutschland, deine Baustellen:

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unity in diversity
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Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von unity in diversity »

Hier möchte ich darüber diskutieren, warum die Baukosten fast immer aus dem Ruder laufen.
Ein Beispiel:
http://newscdn.newsrep.net/h5/nrdetail. ... unt=ocms_0

Man mauert, damit man den Zuschlag bei der Ausschreibung erhält und so nach und nach läßt man die Katze aus dem Sack.
Was kann man dagegen tun?
Soll man objektgebundene Festpreise in die Verträge schreiben, bei deren Überschreitung eine ebenfalls vertraglich festgelegte Schadensersatzsumme fällig wird?
Kann so etwas die Kostenexplosion eindämmen?

Oder wie würdet ihr als Kassenwart entscheiden?
Für jedes Problem gibt es 2 Lösungsansätze:
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Rochhardo
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Rochhardo »

Dein Vorschlag was festgeschriebene Vertragsstrafen bei Schlechtleistung angeht, wären in meinen Augen zweckmäßig.

In Deutschland wird der Zuschlag fast immer dem günstigsten Anbieter gewährt. Die hängt damit zusammen, dass hier darauf geachtet wird Korruption zu verhindern. Denn wenn immer an den günstigsten Anbieter der Auftrag vergeben wird, so der glaube, dann ist die Möglichkeit der Korruption vermindert. In der Schweiz läuft dies zB etwas anders. Hier werden die welche ein Angebot legen, erst eimal geprüft, darauf, wer am wahrscheinlichsten den Auftrag fertigstellen kann. Dabei wird vor allem auf Referenzen der Vergangenheit geachtet. Wenn dann immer noch mehrere Anbieter im Rennen sind, dann wird erst der günstigste herangezogen.

Nun ist in Deutschland ein entscheidendes Problem, dass diese Auftragsvergaben cirka so ablaufen.
1. Beamten schreiben einen Auftrag aus
2. Vertriebler und Anwälte von Unternehmen legen ein Angebot
3. Beamten entscheiden sich für einen Anbieter

So läuft dies zum Beispiel bei der Bundeswehr seit Jahren. Beamten schicken Unternehmen einen standardisierten Vertrag für die Beschaffung von Rüstungsgütern. Daraufhin lässt das Unternehmen eine Horde Anwälte den Vertrag prüfen und umschreiben. Unliebsame Klauseln entkräftigen. Dieser Vertrag wird zurück geschickt an Verteidigungsministerium bzw. das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung. Und diese unterschrieben den von dem Unternehmen ausgearbeitet Vertrag.

Deswegen hat es in dieser Branche (also rund um Staatsaufträge) einzug gehalten, dass Kosten absichtlich runter gespielt werden. In der sicheren Annahmen, wenn Mehrkosten auftreten, dann wird der Staat diese zahlen und nicht den Auftrag mittendrin neu vergeben. Deswegen ist die Elbphilarmonie teurer geworden, der BER immer noch nicht eröffnet, Straßenbauprojekte sind in den meisten Fällen auch teurer (Beispiel aus meinem Landkreis: kostensteigerung eines Radwegs um rund 800%) und so weiter.

Die Unternehmen haben ihnen liebsame Verträge plaziert, die die Behörden einfach so akzeptieren. So lange dies nicht geändert wird, macht die Wirtschaft damit weiter, denn staatliche Aufträge sind lukrativ. Eine sichere Bezahlung, ein Kunde ohne Erfolgsdruck, lächerliche Vertragsstrafen .... in diesem Zustand reibt sich jeder die Hände, der einen staatlichen Auftrag erhält.
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unity in diversity
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von unity in diversity »

Die Vertragsstrafe müßte gleitend sein.
Jede unvereinbarte Kostensteigerung, müßte Vertragsstrafen in gleicher Höhe zur Folge haben.
Damit hält man unseriöse Anbieter vom Markt fern.
Mich würde jetzt noch der Standpunkt der Baumafia interessieren.
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imp
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von imp »

Festpreise haben meist einen ordentlichen Aufschlag.
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Misterfritz
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Misterfritz »

Das Problem liegt auch darin - zumindest auf kommunaler Ebene - dass Nichtfachleute als erstes die Ausschreibung machen und dann andere Nichtfachleute (Kommunalpolitiker) entscheiden.
Z.B. im Bereich Strassenerhalt/-erneuerung. der Fachbereichsleiter in der Verwaltung ist im Zweifel ein Verwaltungsmensch und die Kommunalpolitker sind im Zweifel keine Tiefbaufachleute.
Da gibt es dann also den Haushaltsposten "Strassen" und man möchte mit dem Geld möglichst viel machen. Also bekommt der preiswerteste Anbieter den Zuschlag. Der war wahrscheinlich nicht vor Ort, sondern gibt ein Standardangebot ab.
Der Auftrag wird erteilt, der Unternehmer fängt an, fräst also den Belag ab und stellt fest, dass der Unterbau marode ist und erneuert werden muss. Verwaltungsfuzzie und Politik sind überrascht - weil keine Ahnung.
Dann beginnt die Verwaltung, zu rechnen, streicht hier ein paar Kilometer andere sanierungsbedürftige Strassen, damit wenigstens das Teil richtig gemacht werden kann. Dieser Entwurf geht in den entsprechenden Ausschuss und wird beraten (was wirklich lustig ist, war oft genug dabei :D ).
Dann wird entweder entscheiden, schlicht einen neuen Belag drauf zu machen, was zur Folge hat, dass der innerhalb kürzester Zeit wieder kaputt ist - oder es richtig zu machen, dafür andere Strassen weiter nach hinten zu schieben. Ihr könnt ja mal wetten, was im überwiegenden Teil gemacht wird :D

Hinzu kommt bei vielen Bauprojekten, dass keiner mehr dafür zuständig ist / sich zuständig fühlt, auch vor Ort immer wieder den Fortgang zu begleiten sowie dem Unternehmer auf die Finger zu schauen.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Misterfritz »

Und noch etwas:
Es gibt halt Kosten, die man nicht so einfach festlegen kann. Wieder Strassenbau: Da wird ein Angebot abgegeben, das von einem gewissen Bitumenpreis ausgeht. Nun kann aber der Rohölpreis innerhalb eines Jahres stark steigen, was eben zur Folge hat, dass Bitumen auch entsprechend teurer wird.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von imp »

Welches Kommunal"parlament" ist denn nicht fest in der Hand der lokalen Gewerke?
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Misterfritz »

Sole.survivor@web.de hat geschrieben:(15 Nov 2017, 20:20)

Welches Kommunal"parlament" ist denn nicht fest in der Hand der lokalen Gewerke?
Also ich war in einem Kreistag,
dort waren Lehrer, Rentner, Hausfrauen, einige Selbständige (Anwälte, Steuerberater), Landwirte. An Besitzer von Handwerksbetrieben kann ich mich nicht erinnern.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von imp »

Misterfritz hat geschrieben:(15 Nov 2017, 20:25)

Also ich war in einem Kreistag,
dort waren Lehrer, Rentner, Hausfrauen, einige Selbständige (Anwälte, Steuerberater), Landwirte. An Besitzer von Handwerksbetrieben kann ich mich nicht erinnern.
Ich kenne nun durch Umzüge diverse Städte und immer war im Hauptausschuß und im Bauausschuß die lokale Baumafia vertreten. In einem Kreis wollte ein Landrat vor einigen Jahren sein Fuhrunternehmen aktiv weiter leiten, das auch kommunale Aufträge hatte. Fand die Kommunalaufsicht weniger gut.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Misterfritz »

Sole.survivor@web.de hat geschrieben:(15 Nov 2017, 20:30)

Ich kenne nun durch Umzüge diverse Städte und immer war im Hauptausschuß und im Bauausschuß die lokale Baumafia vertreten. In einem Kreis wollte ein Landrat vor einigen Jahren sein Fuhrunternehmen aktiv weiter leiten, das auch kommunale Aufträge hatte. Fand die Kommunalaufsicht weniger gut.
Bei uns war das eher so, dass es besser war, wenn man genügend nicht so offensichtliche Beziehungen hatte.
Trotzdem sind die von mir beschriebenen Probleme besonders auf kommunaler Ebene sehr oft anzutreffen.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von imp »

Misterfritz hat geschrieben:(15 Nov 2017, 20:37)

Bei uns war das eher so, dass es besser war, wenn man genügend nicht so offensichtliche Beziehungen hatte.
Trotzdem sind die von mir beschriebenen Probleme besonders auf kommunaler Ebene sehr oft anzutreffen.
Das glaub ich wohl. Ein andere Problem ist die Demokratie. Das richtige ist nicht immer popoleer beim Wahlvolk und bei lautstarken Multiplikatorenmeinungen. Es ist auch ein Segen, wenn der Lokalredakteur möglichst weit weg wohnt.
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von Misterfritz »

Sole.survivor@web.de hat geschrieben:(15 Nov 2017, 21:10)

Das glaub ich wohl. Ein andere Problem ist die Demokratie. Das richtige ist nicht immer popoleer beim Wahlvolk und bei lautstarken Multiplikatorenmeinungen. Es ist auch ein Segen, wenn der Lokalredakteur möglichst weit weg wohnt.
Ich habe dann auch immer die Ergebnisse der Planungen und Ausführungen gesehen: Ich war dann auch noch Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses :D
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Re: Deutschland, deine Baustellen:

Beitrag von H2O »

Misterfritz hat geschrieben:(15 Nov 2017, 20:15)

Das Problem liegt auch darin - zumindest auf kommunaler Ebene - dass Nichtfachleute als erstes die Ausschreibung machen und dann andere Nichtfachleute (Kommunalpolitiker) entscheiden.
Z.B. im Bereich Strassenerhalt/-erneuerung. der Fachbereichsleiter in der Verwaltung ist im Zweifel ein Verwaltungsmensch und die Kommunalpolitker sind im Zweifel keine Tiefbaufachleute.
...
Den Vorgang kann ich mir so richtig gut nur bei der erstmaligen Bearbeitung eines Bauantrags vorstellen. Werden denn nicht auch Verwaltungsfachleute durch ihre Befassung mit solchen Bauprojekten im Laufe der Zeit zu Sachverständigen, die aufgrund gemachter Erfahrungen recht gut einschätzen können, wo ein Projekt von den Kosten her landen wird?

Ganz schlecht ist natürlich, wenn es in der Ausführungsphase niemanden gibt, der sich den Arbeitsfortschritt an der Baustelle erklären läßt und ihn gegen den Plan vergleicht. Wie soll sich dann obiger Sachverstand entwickeln können?

Mit anderen Worten: Ist ein solche unkontrollierte Abwicklung öffentlicher Aufträge überhaupt zulässig... so ganz ohne Projektleiter des Auftraggebers und des Auftragnehmers?
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