Süleymans Herz

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schokoschendrezki
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Süleymans Herz

Beitrag von schokoschendrezki »

Sultan Süleyman, erfolgreichster und bekanntester der osmanischen Sultane starb 1566 im südungarischen Szigetvár auf dem Höhepunkt der türkischen Eroberungen in Europa. Sein Körper wurde zwar in Istanbul/Konstantinopel begraben, doch seine Innereinen seien dort in Szigetvár verwahrt. Im Herbst 2016 wird anlässlich des 550ten Tosdestags Süleymans in Szigetvár ein "ungarisch-türkischer Friedenspark" eingeweiht werden. Unter Teilnahme des bekennenden Süleyman-Fans und Archäologie-Sponsors Erdogan sowie des Ungarns Orbán. Was politisch hinter dieser historisch eher popkulturell verklärenden Aktion zu analysieren und festzustellen ist: Süleyman gilt unter seriösen Historikern eigentlich und an sich als "Schlächter der Magyaren". Was bewegt einen nationalistischen ungarischen Ministerpräsidenten dazu, sich einem Verehrungsritual für diesen Feldherrn anzuschließen? Die Antwort ist (nach meiner Ansicht) erstens: Es gibt in dem gesamten osteuropäisch-türkisch-russisch-ukrainischen Raum eine Tendenz hin zu national-konservativ-autoritären Präsidialsystemen mit starker Tendenz zu wirtschaftlich extremer Einkommensungleichheit. Die Tatsache, dass Russland vs. Ukraine, Russland vs. Türkei, Ungarn vs. Türkei usw. sich in teilweise kriegsähnlicher Spannung befinden, hat nur damit zu tun, dass sich die Gegenseiten seit langer Zeit sehr gut kennen und genau wissen, was der andere tut oder will. Kurz und schlecht: In Kiew mag man noch so sehr Russen verächtlich sehen, und in Budapest Türken als Schlächter der Ungarn verachten .... in der Tendenz läuft politisch im gesamten geographischen Raum dasselbe ab: Eine psuedohistorisierende, pseudofolkloristische Hinwendung zu einem nationalkonservativen System mit einem starken ersten Mann als Präsidenten anstelle eines starken Parlaments. Diese ungute gemeinsame Tendenz sollte von fortschrittlichen Kräften attackiert werden anstelle eines (angeblich) fortbestehenden Ost-West-Konflikts. Dass türkische Historiker nach den Innereinen Süleimans suchen, statt zur Lösung der Nahostkonflikte beizutragen. Dass ukrainische Poltiker mit dem Hand auf dem Herzen die Nationalhymne absingen, statt die WIrtschaftsoligarchen in der politischen Führung abzusetzen. Dass russische Spitzenpolitiker lieber nostalgische Bewegungen wie das "Unsterbliche Regiment" unterstützen statt historische Aufklärung zu betreiben. Und dass ungarische Politiker lieber absurde historische Legenden wie die Turul-Saga mit Denkmälern unterstützen statt sich um soziale Probleme im Land zu kümmern. Das alles ist das eigentliche und vor allem allen genannten Regionen ein gemeinsames Problem. Und nicht ein angeblich fortbestehender Ost-West-Konflikt oder Poststalinismus. Und zweitens: Im Westen Europas sieht es mittlerweise kaum anders aus. Siehe Frankreich, Österreich, Belgien etc.

Nachsatz: Absurderweise kann man dieses Thema in kein Unterforum setzen, da "Asien/Fernost","Türkei" und "Osteuropa-GUS-Kaukasus" in eigenen Unterforen laufen, "EU/Efta" auch in einem eigenen, obwohl der größte Teil Osteuropas zur EU gehört und obwohl sich die Türkei in nichts von einem sonstigen größeren Staat oder Region unterscheidet... Logik ist etwas, das den Betreibern dieses Forums offensichtlich fremd ist.
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Unité 1
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Re: Süleymans Herz

Beitrag von Unité 1 »

schokoschendrezki hat geschrieben:(18 May 2016, 22:26)

in der Tendenz läuft politisch im gesamten geographischen Raum dasselbe ab: Eine psuedohistorisierende, pseudofolkloristische Hinwendung zu einem nationalkonservativen System mit einem starken ersten Mann als Präsidenten anstelle eines starken Parlaments. Diese ungute gemeinsame Tendenz sollte von fortschrittlichen Kräften attackiert werden anstelle eines (angeblich) fortbestehenden Ost-West-Konflikts. Dass türkische Historiker nach den Innereinen Süleimans suchen, statt zur Lösung der Nahostkonflikte beizutragen. Dass ukrainische Poltiker mit dem Hand auf dem Herzen die Nationalhymne absingen, statt die WIrtschaftsoligarchen in der politischen Führung abzusetzen. Dass russische Spitzenpolitiker lieber nostalgische Bewegungen wie das "Unsterbliche Regiment" unterstützen statt historische Aufklärung zu betreiben. Und dass ungarische Politiker lieber absurde historische Legenden wie die Turul-Saga mit Denkmälern unterstützen statt sich um soziale Probleme im Land zu kümmern. Das alles ist das eigentliche und vor allem allen genannten Regionen ein gemeinsames Problem. Und nicht ein angeblich fortbestehender Ost-West-Konflikt oder Poststalinismus. Und zweitens: Im Westen Europas sieht es mittlerweise kaum anders aus. Siehe Frankreich, Österreich, Belgien etc.
Pseudofolklorismus ist gut. War Nationalismus in den letzten 20 Jahren je was anderes als eine Farce? Du machst das implizit in deinen Satzkonstruktionen bereits deutlich: "Dass ukrainische Poltiker mit dem Hand auf dem Herzen die Nationalhymne absingen, statt die WIrtschaftsoligarchen in der politischen Führung abzusetzen." Das "statt" ist fehl am Platz, der als Monstranz vor sich hergetragene Nationalismus symbolisiert gewissermaßen eine Ersatzhandlung. Das Feld der Narrative wandelt sich, es stehen nicht mehr - in diesem Beispiel - Oligarchen und ihre Macht im Vordergrund, sondern die Ukraine als Projektionsfläche für alle Sehnsüchte und Hoffnungen auf ein anderes und besseres Leben.

Wer mit dem Nationalismus spielt, will sich eines Themas bedienen, das Zustimmung und Ablenkung generiert. Und beides durch leere Gesten, hohle Symbole. Man könnte das Spiel mit dem Nationalismus in diesem Sinne als Anti-Politik betrachten: Konflikte werden nicht nur nicht ausgetragen, sie verschwinden im weiten Mantel der Nation. Werden verdeckt, der Öffentlichkeit verborgen - oder entrissen. Die Perfidie der Sache ist der Appell an die Leidenschaft, die der nüchternen Betrachtung von tatsächlichen Zuständen die Sicht verschwimmen lässt. Und die subtile Botschaft, dass eine starke Nation einen starken Mann bräuchte. Nationalismus als Vehikel des Autoritarismus eben.

Was bei näherer Betrachtung auch ebenso gut als Grund für die Konstruktion eines Ost-West-Konflikts fungieren kann.

Eine Frage dazu wäre, wie kam es zum anwachsenden Nationalismus oder dem Umbau der Türkei oder Ungarns? Was ermöglichte eigentlich Orban oder Erdogan, augenscheinlich ohne größeren Widerstand Staaten in eine autoritaristische Richtung zu lenken? Meine spontane Vermutung wäre - die ist allerdings nicht von tieferer Kenntnis Ungarns oder der Türkei beeinflusst -, dass eine Depolitisierung vorher stattgefunden hat. Offensichtlich gab es keine Bereitschaft zu stärkerem Widerstand bzw. die Möglichkeit, erfolgreichen zu leisten, die Botschaften Orbans oder Erdogans verfingen und fanden Anhänger. Sieht für mich aus, als hätte zuvor eine Erodierung politischer Werte stattgefunden. Das führt mich zu deinem Zweitens und der Befürchtung, dass die westeuropäischen Länder im Zweifels- und Ernstfall sich ebenfalls als nicht zu stabil erweisen könnten.
Nachsatz: Absurderweise kann man dieses Thema in kein Unterforum setzen, da "Asien/Fernost","Türkei" und "Osteuropa-GUS-Kaukasus" in eigenen Unterforen laufen, "EU/Efta" auch in einem eigenen, obwohl der größte Teil Osteuropas zur EU gehört und obwohl sich die Türkei in nichts von einem sonstigen größeren Staat oder Region unterscheidet... Logik ist etwas, das den Betreibern dieses Forums offensichtlich fremd ist.
Wäre schon fast ein Gesellschaftsthema, da es weniger um die konkreten Länder geht, die sind nur der Anlass, sondern um die Hinwendung zum Autoritarismus, der offensichtlich von einem nicht unerheblichen Teil der jeweiligen Wählerschaften wenigstens anfänglich getragen wird. ;)

ps: Bitte baue in deinen Texten mehr Absätze der Lesbarkeit wegen ein. Meine Augen würden es dir danken.
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Re: Süleymans Herz

Beitrag von schokoschendrezki »

Unité 1 hat geschrieben:(18 May 2016, 22:55)
Eine Frage dazu wäre, wie kam es zum anwachsenden Nationalismus oder dem Umbau der Türkei oder Ungarns? Was ermöglichte eigentlich Orban oder Erdogan, augenscheinlich ohne größeren Widerstand Staaten in eine autoritaristische Richtung zu lenken? Meine spontane Vermutung wäre - die ist allerdings nicht von tieferer Kenntnis Ungarns oder der Türkei beeinflusst -, dass eine Depolitisierung vorher stattgefunden hat. Offensichtlich gab es keine Bereitschaft zu stärkerem Widerstand bzw. die Möglichkeit, erfolgreichen zu leisten, die Botschaften Orbans oder Erdogans verfingen und fanden Anhänger. Sieht für mich aus, als hätte zuvor eine Erodierung politischer Werte stattgefunden. Das führt mich zu deinem Zweitens und der Befürchtung, dass die westeuropäischen Länder im Zweifels- und Ernstfall sich ebenfalls als nicht zu stabil erweisen könnten.
Zumindest im Fall Ungarns lässt sich das relativ klar darstellen: Unmittelbarer Grund für den Aufstieg der Konservativen war die veröffentlichte "Geheimrede" des Sozialdemokraten Gyurcsáncyi. Es stellte sich im Wesentlichen heraus, dass Staatstreue gleichzeitig die Wohlhabenden sind, dass das ganze System des Postsozialismus auf Protektion beruht .
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Re: Süleymans Herz

Beitrag von Unité 1 »

schokoschendrezki hat geschrieben:(18 May 2016, 23:18)

Zumindest im Fall Ungarns lässt sich das relativ klar darstellen: Unmittelbarer Grund für den Aufstieg der Konservativen war die veröffentlichte "Geheimrede" des Sozialdemokraten Gyurcsáncyi. Es stellte sich im Wesentlichen heraus, dass Staatstreue gleichzeitig die Wohlhabenden sind, dass das ganze System des Postsozialismus auf Protektion beruht .
Stimmt. Ich erinnere mich vage. Ich zielte aber eher auf den Staatsumbau ab. Wahlerfolge Konservativer ziehen nicht automatisch die Richtung, die Orban einschlug und durchsetzte, nach sich. Vielleicht oder wahrscheinlich bin ich da naiv, aber ich würde - trotz der Mehrheitsverhältnisse im Parlament - einen Widerstand der Zivilgesellschaft erwarten, die vielleicht die Korrektur der eingeschlagenen Richtung nicht erzwingen kann, aber permanenten öffentlichen Widerspruch produziert, dass sich spätestens bei der nächsten Wahl solch ein Versuch rächen würde.
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Re: Süleymans Herz

Beitrag von schokoschendrezki »

Unité 1 hat geschrieben:(18 May 2016, 23:37)

Stimmt. Ich erinnere mich vage. Ich zielte aber eher auf den Staatsumbau ab. Wahlerfolge Konservativer ziehen nicht automatisch die Richtung, die Orban einschlug und durchsetzte, nach sich. Vielleicht oder wahrscheinlich bin ich da naiv, aber ich würde - trotz der Mehrheitsverhältnisse im Parlament - einen Widerstand der Zivilgesellschaft erwarten, die vielleicht die Korrektur der eingeschlagenen Richtung nicht erzwingen kann, aber permanenten öffentlichen Widerspruch produziert, dass sich spätestens bei der nächsten Wahl solch ein Versuch rächen würde.
Im Falle Polens gab es unlängst beeindruckenden Widerstand der Zivilgesellschaft in Form von Pro-EU-Bekenntnissen auf Massendemonstrationen in Warschau wie es sie schon seit längerem nirgends mehr in Europa gab. In Russland gab es im Winter 2011 gewaltige Proteste gegen die Putin-Partei. Auch hier allerdings beschränkt auf die Hauptstadt und einige größere Städte. Und ähnlich sieht/sah es auch in Budapest oder Istanbul aus.

Natürlich ziehen Wahlerfolge Konservativer nicht automatisch die RIchtung nach sich, die Orbán in Ungarn durchsetzte. Aber Gemeinsamkeiten sind doch schon zu erkennen: Nationalismus, pseudohistorische Mythen, Umbau von Parlamentarismus,Parteiensystem in RIchtung Präsidialsystem und starker erster Mann. Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn Erdogan nach dem Süleyman-Projekt mit Ungarn (trotz historischer Feindschaft) irgendein Geschichts-Projekt mit Russland starten würde. Die Parallelen in der Berufung auf frühere Jahrhunderte und früheren Ruhm sind doch unübersehbar.
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HugoBettauer

Re: Süleymans Herz

Beitrag von HugoBettauer »

Die russischtürkische Geschichte oder die Klammern von Panslawismus vs Islam bieten Ansatzpunkte für ein russischtürkische s Projekt. Historiker machen sowas. Sie lösen keine Nahostkonflikte
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