Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

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Brainiac
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Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von Brainiac »

Ich möchte das Flüchtlingsthema mal nicht aus deutscher Perspektive, sondern aus Sicht der Herkunftsländer betrachten.

Ich habe hier in mehreren Threads gelesen, dass gefordert wird, bestimmten Herkunftsländern die Entwicklungshilfe zu streichen oder zu kürzen, sofern diese bei der Rückführung abzuschiebender Asylsuchender nicht kooperieren. Ich bin dafür offen, und zwar noch aus einem anderen Grund: Die Aufnahme von Zuwanderern ist auch eine Art von Entwicklungshilfe, und zwar hauptsächlich dadurch, dass diese Rücküberweisungen in die Heimatländer tätigen. Rücküberweisungen sind einer der effektivsten Wege des Mitteltransfers in Entwicklungsländer, die es gibt: Die Gelder kommen direkt bei den Menschen an und werden in der Regel sinnvoll eingesetzt. Das kann man von den verschiedenen Wegen, die in der offiziellen Entwicklungshilfe bislang versucht worden, nicht unbedingt sagen.
Flüchtlinge und Migranten überweisen weltweit immer häufiger Geld in ihre Heimat, um ihre Familien zuhause unterstützen. Laut Weltbank sind es allein in diesem Jahr 440 Milliarden Dollar, berichtet die "Welt". Experten begrüßen diese Entwicklung. Wenn das Geld von privat an privat geschickt wird, kommt es laut Ökonomen dort an, wo es gebraucht wird und gezielt zur Armutsbekämpfung verwendet werden kann. Geld für Lebensmittel, Medizin und Schule[…]
http://www.t-online.de/wirtschaft/zinse ... en-zu.html
Zum aktuellen wissenschaftlichen Diskurs kann zusammenfassend festgestellt werden, dass das zusätzliche Einkommen durch Rücküberweisungen in vielfältiger Weise einen positiven Einfluss auf den Rückgang der Armut, auf Konsumsteigerungen und auch auf Investitionen hat
http://www.bpb.de/gesellschaft/migratio ... 7420/fazit

Nun hat das natürlich auch negative Aspekte: Die Zielländer (wie Deutschland) werden mit der dortigen Integrationsproblematik belastet und die Herkunftsländer verlieren möglicherweise viele junge, leistungsfähige Menschen, die eigentlich für die Entwicklung dort vor Ort wichtig wären („Brain Drain“). Auch aus der bpb-Quelle:
Das durch brain drain verloren gegangene Entwicklungspotenzial einer Volkswirtschaft ist äußerst schwierig zu quantifizieren. Es fällt umso schwerer ins Gewicht, je weniger Fachpersonal das Land insgesamt hat. Pessimistische Stimmen sehen Rücküberweisungen nicht als adäquaten Ausgleich, da sie wegen ihres geringeren Produktivitätspotenzials den Ausfall an Humankapital nicht nachhaltig ersetzen könnten.
Dies muss man aber sicherlich länderspezifisch betrachten. Z.B. im Fall von Syrien ist das sicher ein Problem. In Nigeria sicher nicht, dort existiert aufgrund der sehr hohen Geburtenrate eine enorme Bevölkerungsdichte in den jüngeren Altersgruppen, der Anteil der Auswanderer an den Gesamtbevölkerung ihrer Altersgruppe dürfte marginal sein. Des Weiteren kehren manche Migranten auch irgendwann in ihre Heimatländer zurück und bringen in der Regel nützliches Wissen, Erfahrungen und Mittel mit.

Es ist ein zweischneidiges Schwert. Aber was ist besser, im Sinne der Entwicklungspolitik für die dritte Welt? Den Stein der Weisen hat hier noch niemand gefunden.

Wie seht ihr das? Hilft es einem Entwicklungsland, wenn viele Menschen von dort in wohlhabende Länder (z.B. Deutschland) auswandern, oder schadet es ihm eher?
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H2O
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Re: Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von H2O »

Der einzelne Mensch steht doch im Mittelpunkt,
wenn er fliehen muß oder auswandern möchte.
Ihre Überlegungen machen ihn zu einem Werkzeug
einer allgemeinen Entwicklungspolitik, also einen
"brain drain" verhindern oder aber Geldüberwei-
sngen in sein Herkunftsland als Entwicklungshilfe
zu sehen.

Bei Flüchtlingen (asylberechtigt oder Kriegsflücht-
ling) müssen Vorteile/ Nachteile für das Herkunfts-
land nicht überlegt werden. Da geht es um Leib
und Leben eines Menschen. Diese Menschen kön-
nen bleiben, bis der Fluchtgrund entfällt.

Andere Zuwanderung in unser Land kann nur an allen
bestehenden Regeln vorbei gelingen, oft wohl mit
geduldetem Aufenthalt. Auch da geht es doch wieder
um einen einzelnen Menschen. Eine massenhafte
Zuwanderung dieser Art sehe ich als Staatsversagen.
Wer hier einreisen und bleiben will, das entscheidet
doch unsere Gesellschaft! Im Einzelfall wird Rückführung
allenfalls dann erwogen, wenn der geduldete Zuwanderer
hier keiner ordnungsgemäßen Erwerbstätigkeit nachgeht,
also auf lange Zeit oder dauernd Versorgungsempfänger
ist, oder er sogar mit Straftaten seinen Aufenthalt
bestreitet.

Kommt mir etwas schräg vor, in letzterem Fall zu über-
legen, ob sein Geldtransfer in sein Herkunftsland dort
nützt: Hier schadet dieser Zuwanderer auf jeden Fall.
Warum soll unsere Gesellschaft diesen lästigen Zuwan-
derer nicht abschieben?

Wenn der geduldete Zuwanderer von seinem Arbeits-
einkommen Geld nach Hause überweist, dann hat uns
das nicht auf zu regen. Er schadet hier ja niemandem,
im Gegenteil zahlt er Steuern und Sozialabgaben. Und
zu Hause wird das auch helfen... alles in Ordnung,
meine ich.

Über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg deren
Schicksal nun in eine allgemeine Entwicklungspolitik ein-
bauen zu wollen, das geht mir zu weit. Entweder ist er
hier nützlich, dann geht uns sein Familiensinn nichts an,
oder er ist lästig, dann sollten wir ihn nicht hier halten,
weil er möglicherweise unrecht erworbene Mittel nach
Hause überweist... und dort "hilft".

Bleibt noch die Einwanderung durch Anwerbung von
Fachkräften mit Arbeitsvertrag. Ich meine, daß auch da
der einzelne Mensch maßgeblich ist. Über sein Schicksal
sollte der schon selbst entscheiden dürfen; er oder seine
Fähigkeiten sind nicht Eigentum seines Herkunftslands.
Die "DDR" hatte ihre arbeitsfähigen Bürger weitgehend als
ihr gesellschaftliches Eigentum gesehen. Ich meine, wenn
ein Mensch auf der Suche nach seinem Glück ein gutes
Angebot bekommt, dann sollte er das nutzen dürfen. Das
ist schließlich sein Leben!
Wähler
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Re: Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von Wähler »

Die Entwicklungshilfe ist ein sehr wichtiges Instrument, die Lage in den Herkunftsländern der Flüchlinge zu stabilisieren. Die Schul- und Berufsausbildung der Flüchtlinge unter 25 Jahren hier ist auch eine Entwicklungshilfe für die Zukunft, unabhängig davon, ob der Flüchtling nach dem Wegfall des Asylgrundes hier bleiben kann oder nicht. Ein transparentes Einwanderungsgesetz würde die Kommunikation zwischen den potentiellen Einwanderern und den Einheimischen erleichtern. Ohne eine transparente Steuerung der Flüchtlingsaufnahme und der späteren möglichen unbefristeten Einwanderung wird es aber im Chaos enden. Daher sollten alle Bausteine, die für eine Lösung in Frage kommen, auf ihre konstruktive Verwendung geprüft werden.
Zeitungstexte bei Genios mit Bibliotheksausweis kostenlos: https://www.wiso-net.de/login?targetUrl=%2Fdosearch (Zugang auch bundesweit)
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Brainiac
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Re: Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von Brainiac »

H2O hat geschrieben:(18 Jan 2016, 00:28)

Der einzelne Mensch steht doch im Mittelpunkt,
wenn er fliehen muß oder auswandern möchte.
Ihre Überlegungen machen ihn zu einem Werkzeug
einer allgemeinen Entwicklungspolitik, also einen
"brain drain" verhindern oder aber Geldüberwei-
sngen in sein Herkunftsland als Entwicklungshilfe
zu sehen.

Bei Flüchtlingen (asylberechtigt oder Kriegsflücht-
ling) müssen Vorteile/ Nachteile für das Herkunfts-
land nicht überlegt werden. Da geht es um Leib
und Leben eines Menschen. Diese Menschen kön-
nen bleiben, bis der Fluchtgrund entfällt.

Andere Zuwanderung in unser Land kann nur an allen
bestehenden Regeln vorbei gelingen, oft wohl mit
geduldetem Aufenthalt. Auch da geht es doch wieder
um einen einzelnen Menschen. Eine massenhafte
Zuwanderung dieser Art sehe ich als Staatsversagen.
Wer hier einreisen und bleiben will, das entscheidet
doch unsere Gesellschaft! Im Einzelfall wird Rückführung
allenfalls dann erwogen, wenn der geduldete Zuwanderer
hier keiner ordnungsgemäßen Erwerbstätigkeit nachgeht,
also auf lange Zeit oder dauernd Versorgungsempfänger
ist, oder er sogar mit Straftaten seinen Aufenthalt
bestreitet.

Kommt mir etwas schräg vor, in letzterem Fall zu über-
legen, ob sein Geldtransfer in sein Herkunftsland dort
nützt: Hier schadet dieser Zuwanderer auf jeden Fall.
Warum soll unsere Gesellschaft diesen lästigen Zuwan-
derer nicht abschieben?

Wenn der geduldete Zuwanderer von seinem Arbeits-
einkommen Geld nach Hause überweist, dann hat uns
das nicht auf zu regen. Er schadet hier ja niemandem,
im Gegenteil zahlt er Steuern und Sozialabgaben. Und
zu Hause wird das auch helfen... alles in Ordnung,
meine ich.

Über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg deren
Schicksal nun in eine allgemeine Entwicklungspolitik ein-
bauen zu wollen, das geht mir zu weit. Entweder ist er
hier nützlich, dann geht uns sein Familiensinn nichts an,
oder er ist lästig, dann sollten wir ihn nicht hier halten,
weil er möglicherweise unrecht erworbene Mittel nach
Hause überweist... und dort "hilft".

Bleibt noch die Einwanderung durch Anwerbung von
Fachkräften mit Arbeitsvertrag. Ich meine, daß auch da
der einzelne Mensch maßgeblich ist. Über sein Schicksal
sollte der schon selbst entscheiden dürfen; er oder seine
Fähigkeiten sind nicht Eigentum seines Herkunftslands.
Die "DDR" hatte ihre arbeitsfähigen Bürger weitgehend als
ihr gesellschaftliches Eigentum gesehen. Ich meine, wenn
ein Mensch auf der Suche nach seinem Glück ein gutes
Angebot bekommt, dann sollte er das nutzen dürfen. Das
ist schließlich sein Leben!
Also zunächst mal zur Klarstellung hinsichtlich der Flüchtlingssituation. Ich halte die aktuelle Lage in Deutschland für besorgniserregend, habe sie mir nicht gewünscht und sehe baldige Begrenzungen als unumgänglich an, wünschenswerterweise allerdings auf EU-Ebene. (Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. ;))

Des weiteren ist Frau Merkel laut Amtseid zunächst Mal dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet. Und nicht der ganzen Welt.

Insofern steht bei der Entscheidung, ob jemand hier bleiben kann, zunächst mal der tatsächliche Schutzbedarf ganz oben, dann kommt die Brauchbarkeit für unser Land bzw. die Integrierbarkeit in dieses. Wie diese beiden Punkte im Zweifel gegeneinander gewichtet werden - zB wenn der Schutzbedarf im Sinne 16a GG oder Flüchtlingskonvention immer zuerst kommt, dürfte es keine Obergrenzen geben - dazu tobt ja gerade die Diskussion gleich nebenan. Und wenn Schutzbedarf festgestellt wird, sollten entwicklungspolitische Aspekte keine Rolle spielen, da gebe ich Ihnen recht.

Allerdings existiert auf Staatenebene auch ein Solidaritätsprinzip, in dem Sinne, dass die Starken den Schwachen versuchen zu helfen. Es gibt den UN-Sozialpakt, es gibt die Milleniumsziele und es gibt einen Jahreshaushalt des deutschen BMZ in Höhe von 6,5 Mrd Euro. Womit D übrigens, und das schon seit sehr langer Zeit, den im Rahmen der Milleniumsziele festgelegten Anteil am BIP (=0,7%) deutlich unterschreitet. Somit ist es auch ein Ziel der deutschen Politik, die Lage in Drittweltstaaten zu verbessern.

That said, bleibt für mich als ein Aspekt unter vielen für mich die Frage, inwieweit die Aufnahme von Menschen den Heimatländern nützt oder schadet. Angenommen es würde den Herkunftsländern nützen - wie ich eingangs schrieb: ob das so ist, bleibt zu diskutieren -, der Kandidat erscheint als integrierbar und zumindest nicht schädlich für unser Land, dann könnte das für mich ein ausreichendes Argument sein, ihn aufzunehmen, auch wenn es sich einfach nur um einen "Wirtschaftsflüchtling", ohne Krieg oder Verfolgung in der Heimat, handeln würde.

Ihr Punkt mit der Instrumentalisierung von Zuwanderern im Sinne eines "Werkzeugs der Entwicklungspolitik" leuchtet mir nicht ein. Jede Form von Entwicklungshilfe "instrumentalisiert" Menschen in irgendeiner Form. Man investiert, um zu erreichen, dass Menschen dieses und jenes tun, und erhofft sich positive Effekte daraus - sei es in Form von Bildung, sei es in Form von Agrarprojekten, sei es in Form von Startup-Förderung.
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Tom Bombadil
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Re: Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von Tom Bombadil »

Brainiac hat geschrieben:(17 Jan 2016, 15:09)

Hilft es einem Entwicklungsland, wenn viele Menschen von dort in wohlhabende Länder (z.B. Deutschland) auswandern, oder schadet es ihm eher?
Da es mittlerweile in vielen Entwicklungsländern eine viel zu große Bevölkerung gibt, hilft es dem Entwicklungsland, wenn viele auswandern, solange es nicht mit einem brain drain verbunden ist. Es gibt in diesen Staaten einfach zu wenig Arbeit, als dass jeder dort einen Job finden könnte, der ihn auch ernährt und der es ermöglicht, eine eigene Familie zu gründen. Die EU trägt an der Misere auch eine Mitverantwortung. Wenn man in Afrika die Landwirtschaft und Fischerei zerstört, darf man sich nicht wundern, dass immer weniger Menschen Arbeit haben.Und so machen sich die Menschen dann auf den Weg...
Die Probleme lassen sich nur vor Ort lösen. Mit einer vernünftigen Entwicklunghilfe, die nicht in den Taschen irgendwelcher halbseidenen Gauner verschwindet. Mit Hilfen zum Aufbau der Infrastruktur inkl. Schulen und Universitäten. Mit Hilfen zum Aufbau einer gescheiten, nicht korrupten Verwaltung. Mit Hilfen zur Bevölkerungsentwicklung. Mit Hilfen zum Aufbau von Sozialsystemen. Wenn jemand weiß, dass er eine Rente bekommt, von der er einigermaßen leben kann, dann braucht er keine 15 Kinder, in der Hoffnung, dass eines es schafft, ihn im Alter zu versorgen, in die Welt zu setzen. Das alles kostet natürlich Geld, das ja, wie man sieht, reichlich vorhanden ist, und Willen, an dem es, wie man auch sieht, reichlich mangelt.
The tree of liberty must be refreshed from time to time with the blood of patriots and tyrants. It is its natural manure.
Thomas Jefferson
---
Diffamierer der Linken.
Svi Back

Re: Zuwanderung, Rücküberweisungen und Entwicklungspolitik

Beitrag von Svi Back »

Wähler hat geschrieben:(18 Jan 2016, 06:58)

Die Entwicklungshilfe ist ein sehr wichtiges Instrument, die Lage in den Herkunftsländern der Flüchlinge zu stabilisieren. ...........
Dies dürfte in der Theorie durchaus zutreffen. In der Praxis versickern Unmengen der Gelder in
dunklen Kanälen, Stichwort Korruption.
Die Mittel, die bisher zum Beispiel nach Afrika geflossen sind sind gigantisch. Der Ertrag steht jedoch
in keinem Verhältnis. Den Rest haben die Bürgerkriege erledigt.
Also die Rechnung, mehr Entwicklungshilfe---> mehr Fortschritt hat die Realität leider wiederlegt.
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