Terror nach Ferdinand von Schirach

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Schuldig oder nicht schuldig ?

Umfrage endete am Do 20. Okt 2016, 21:42

Schuldig
14
40%
Nichtschulding
21
60%
 
Insgesamt abgegebene Stimmen: 35
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schelm
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von schelm »

Perdedor hat geschrieben:(19 Oct 2016, 17:09)

Das habe ich doch nun schon mehrfach erklärt.
Die Geisel greifen auch nicht an. Und sie spielen für den Angriff auch keine Rolle. Auch ohne die Geiseln könnte der Terrorist das Flugzeug in das Stadion lenken. Sie stehen lediglich der Neutralisierung der Waffe im Weg. Genau, wie das Leben des Opas der lebensrettenden Organtransplantation im Weg steht.
Wenn du den Geiseln in irgendeinerweise Verantwortung an dem Tod der 70000 geben willst (wieso sonst willst du ihnen weniger Rechte zugestehen als dem Opa?), dann musst du dies auch dem Opa vorwerfen, dessen Weigerung sich töten zu lassen ebenso mehrere Leben kostet.
Wie man das nennt ist für diese Betrachtung nicht wirklich relevant. Relevant ist der erkennbare Unterschied zwischen dem Opa und den Passagieren der entführten Maschine. Dieser Unterschied besteht, der ist nicht wegzudiskutieren. Opa ist kein Teil eines Angriffes, weder als handelnder Akteur noch als erzwungener Bestandteil. Es gibt keine Rechtfertigung sich gegen Opa wehren zu müssen, denn Opa tut nichts. Gar nichts. Die Passagiere hingegen werden als Schutzschild für das Gelingen des Angriffes missbraucht, außerdem haben sie die Möglichkeit aktiv den Angriff zu beenden, durch Überwältigung des / der Terroristen oder der Zerstörung des Flugzeuges ( Feuer legen etc. ) Klar, niemand erwartet das, aber es wäre eine Option, ein weiterer Unterschied zum Opa. Und hier deine zweite Unschärfe : Auch ohne die Geiseln könnte der Terrorist das Flugzeug in das Stadion lenken.


Praktisch eben nicht ( unbedingt ), wenn bspw. Terroristen ein unbesetztes Flugzeug gekapert und die Piloten getötet hätten, würden sie das Stadion nicht erreichen, denn sie würden vorher abgeschossen werden.
Irgendwer brachte oben ein anderes Beispiel, das es dir vielleicht klarer macht:
Zuerst einmal ein anderes Beispiel von mir, um die Konsequenzen zu verdeutlichen : Im Prinzip kann somit jeder Angriff erfolgreich umgesetzt werden. Eine fremde Armee überfällt unser Land, bindet an ihre Panzer etc. Geiseln und kann das Land somit widerstandslos erobern, da wir nicht auf die Angreifer schießen können.
Ein Selbstmordattentäter will sich in einer großen Menschenmenge in die Luft sprengen. Scharfschützen der Polizei sind in Position und man kann sich sicher sein, dass ein finaler Rettungsschuss das Zünden des Sprengstoffs verhindern würde. Leider befinden sich einige unbeteiligte (und unwissende) Menschen im Schussfeld. Man könnte die Schussbahn freiräumen, wenn man auch diese erschießt. Moralisch gerechtfertigt?
Kein Fall ist vergleichbar, dein Beispiel ist für mich praktisch nicht wirklich nachvollziehbar. Wie kommt der Attentäter unbemerkt in die Menschenmenge ? Kennt man ihn nicht, weiß man auch nicht wer es ist und wo er sich befindet. Wenn man ihn identifiziert hatte, warum wird er nicht vorher ausgeschaltet ? Wenn man ihn nicht sehen kann in der Menge, woher will man wissen wo er sich befindet ? Wenn man ihn sehen kann, kann man ihn aber auch zielgerichtet ausschalten. Und zur " Sicherheit " das Schussfeld zu optimieren und vorher noch einige Passanten zu erschießen, dass ergibt für mich auch keinen praktischen Sinn, denn wenn er die Leute um sich umfallen sieht wird er vermutlich noch Zeit genug haben aufs Knöpfchen zu drücken, auch deshalb, weil durch die entstehende Panik der umher rennenden Menschen das Schussfeld sowieso sofort wieder verdeckt wäre.
Denk ich an D in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht, Heinrich Heine.
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Kael
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Kael »

Ich halte auch Methoden der zurückhaltung im Falle einer Geiselnahme als fatal.
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relativ
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von relativ »

Kael hat geschrieben:(20 Oct 2016, 09:28)

Ich halte auch Methoden der zurückhaltung im Falle einer Geiselnahme als fatal.
Ziemlich unkonkret diese Aussage. Geiselnahme ist nicht gleich Geiselnahme und Terroranschlag nicht gleich Terroranschlag.
Ich halte nix davon bewertes Grundsätzliches nur deshalb zu ändern, damit man bei Einzelfällen rechtlich abgesichert ist. Dies wirfst nämlich, bei anders gelagerten Situationen, wieder neue Fragen auf.
Die Einzelfallprüfung und die Einzelfall Entscheidung erscheinen mir hier als das "kleineres Übel" in solchen extremen Notsituationen, selbst wenn es für die Entscheider einer aufgegebenen Zurückhaltung im Nachtrag auch unangenehm werden kann.
Das Banale braucht man nicht zu schälen.
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holymoly
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von holymoly »

Kael hat geschrieben:(20 Oct 2016, 09:28)

Ich halte auch Methoden der zurückhaltung im Falle einer Geiselnahme als fatal.
Remember Gladbeck.
Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen

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Perdedor
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Perdedor »

Zunder hat geschrieben:(20 Oct 2016, 01:42)
Wenn du eine Alternativlosigkeit auf der Seite des Empfängers behauptest, setzt du nicht nur voraus, daß der Empfänger ein Recht auf eine Organspende hätte, sondern zusätzlich das Recht auf ein bestimmtes Organ. Dann wird dein Konstrukt noch grotesker als es ohnehin schon ist.
Wieso ist das grotestk?
Bei Organen ist die Verträglichkeit sehr wichtig. Für einen bestimmten Empfänger kann die Auswahl sehr gering sein. Und es ist nunmal genau der Opa, der das passende Herz hat.
Aber welche Rolle spielt es überhaupt, dass vielleicht mehrere Totkranke ein passenden Organ haben?
Oder um die Frage wieder andersherum zu stellen: Wenn nur der Opa die benötigten Organe hätte (es also keine Alternative gäbe), wäre es dann gerechtfertigt ihn zu töten?

Du behauptest auch, dass der Stadionbesucher das Recht hat, dass ein bestimmter Mensch für ihn getötet wird (der Passagier im Flugzeug).
Zunder hat geschrieben: Eine Gegenüberstellung, um es deutlich zu machen:
Tatsache ist, daß niemand einem Terroranschlag zum Opfer fallen kann, der gar nicht stattfindet.
Tatsache ist, daß es für eine Organtransplantation keine Überlebensgarantie geben kann.
Die Passenden Gegenüberstellungen wären:

Tatsache ist, daß niemand einem Terroranschlag zum Opfer fallen kann, der gar nicht stattfindet.
Tatsache ist, dass niemand am Mangel an geeigneten Spenderorganen sterben kann, wenn es gar nicht nötig ist auf die Organentnahme beim geeigneten Spender zu warten.

Tatsache ist, daß es für eine Organtransplantation keine Überlebensgarantie geben kann.
Tatsache ist, dass auch niemand bei dem Abschuss eine Überlebensgarantie geben kann.
Du sagst nun vielleicht "Wir haben das Beispiel aber gerade so konstruiert.". Aber dann kontruieren wir das Organspendebeispiel genauso. Oder umgekehrt:
Angenommen der Abschuss des Flugzeugs verhindert nur mit 99%iger Wahrscheinlichkeit den Einschlag im Stadion. In dem Fall sollte man dMn also nicht abschießen?
Das ist ein realistisches Szenario. Die Frage solltest du also beantworten können.

schelm hat geschrieben: Es gibt keine Rechtfertigung sich gegen Opa wehren zu müssen, denn Opa tut nichts.
Die Passagiere tun auch nichts.
Wie gesagt: Du nimmst IHNEN das Leben. Wenn du das irgendwie rechtfertigen willst (und nicht zum selben Schluss kommen willst wie beim Opa), musst du IHNEN etwas vorwerfen, wodurch sie ein Recht verwirken, das du dem Opa zugestehst.
Denn die Konsequenzen sind in beiden Fällen identisch.
schelm hat geschrieben: Praktisch eben nicht ( unbedingt ), wenn bspw. Terroristen ein unbesetztes Flugzeug gekapert und die Piloten getötet hätten, würden sie das Stadion nicht erreichen, denn sie würden vorher abgeschossen werden.
Wenn du das Flugzeug abschießt, kannst du ihnen das nicht vorwerfen.
schelm hat geschrieben: Eine fremde Armee überfällt unser Land, bindet an ihre Panzer etc. Geiseln und kann das Land somit widerstandslos erobern, da wir nicht auf die Angreifer schießen können.
Das ist im Kern dieselbe Situation, wie oben die mit den Stingerraketen. Hatte ich schon beantwortet.
In unserem Beispiel geht es nicht um Selbstverteidigung. Der Pilot ist unbeteiligt und weder er, noch nahe Verwandte sind einer existenziellen Bedohung ausgesetzt.
schelm hat geschrieben: Kein Fall ist vergleichbar, dein Beispiel ist für mich praktisch nicht wirklich nachvollziehbar.
Das meinte ich mit "Schützenvereins-Fachsimpeleien".
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von apartofme »

Nicht schuldig.

Zweierlei Maßgaben sind hierbei entscheidend.

Erstens: Dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, ist grundsätzlich richtig. Daraus folgt auch, dass der Staat kein Gesetz verabschieden kann, nach dem staatliche Autoritäten Leben gegen Leben abwägen dürfen. In einer zweifelhaften Situation, um die es sich hierbei handelt, muss der Staat die Passivität wählen und darf das Leben von wenigen für einen 'höheren Zweck', dessen Materialisierung nicht bewiesen werden kann, nicht vernichten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist daher richtig.

Zweitens: Dass der Staat in seiner Funktion als Ordnungsmacht Leben nicht gegen Leben abwägen darf, bedeutet nicht, dass der Staat keine Gesetze verabschieden kann, in der die Abwägung von Leben gegen Leben straffrei ist. Das Notwehrgesetz und das Nothilfegesetz sind solche Regelungen, auch wenn Verklausulierungen in den Interpretationen des Rechts versuchen, diese Regelungen durch andere Prinzipien und unabhängig von der Menschenwürde der durch Notwehr Getöteten zu rechtfertigen. Auch ein durch Notwehr Getöteter hat seine Menschenwürde nicht verwirkt (denn die Würde des Menschen ist unantastbar), sondern es wird in der Tat sein Leben und seine Würde gegen ein anderes Rechtsgut abgewogen. Dies wird in dem Kontext der Situation aus dem Film besonders deutlich, wenn man sich vorstellt, dass ein Mann im Stadion mit einer Boden-Luft-Rakete auf das Flugzeug geschossen hätte, um sein eigenes Leben zu retten.

Daraus folgt: Ob in diesem speziellen Fall eine Abwägung von Leben gegen Leben seitens des Piloten moralisch verwerflich war, ist, wie bereits oben erwähnt, zweifelhaft. Obwohl der Staat in seiner Funktion in einer solchen zweifelhaften Situation Leben nicht gegen Leben abwägen darf (denn im Zweifel muss der Staat für das Leben entscheiden), bedeutet dies nicht, dass sie dadurch weniger zweifelhaft wird. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber, dass das Individuum (nämlich der Pilot) auch in jener moralisch zweifelhaften Situation gehandelt hat. Im Zweifel muss das Gericht aber für den Angeklagten entscheiden. Das bedeutet, dass der Angeklagte freizusprechen ist.

Weiterhin: Die Trennung des individuellen Verhaltens des Soldaten von seiner Eigenschaft als Amtsträger impliziert, dass der Soldat nicht in seiner Eigenschaft als Amtsträger gehandelt hat, sondern gegen den ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten und damit befehlswidrig. Er ist daher aus dem Dienst zu entlassen und ggf. nach § 20 WStG zu verurteilen.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von apartofme »

Perdedor hat geschrieben:(19 Oct 2016, 17:09)

Die Frage, welche ich mir stelle ist allerdings, ob die Passagiere wirklich dem fetten Mann entsprechen oder dem Mann auf dem Nebengleis. Einerseits werden sie in der Tat gezielt getötet (im Gegensatz zum Mann auf dem Nebengleis), andererseits wäre ihr Tod nicht prinzipiell notwendig um die 70000 zu retten, der Abschuss wäre nämlich auch wirkungsvoll, wenn sie nicht an Bord wären (im Gegensatz zum fetten Mann).
Genau. Die Passagiere entsprechen nicht dem fetten Mann, denn der fetten Mann wird Mittel zum Zweck, da sein Tod für die Rettung der anderen gebraucht wird (was der Objektformel widerspricht), so wie auch ein Mensch, dem zwangsweise seine Organe entnommen werden, Mittel zum Zweck wird. Die Passagiere im Flugzeug sind jedoch nicht Mittel zum Zweck.

Ähnliches gilt auch im Krieg: Der fette Mann darf auch im Krieg nicht getötet werden. Das Risiko getöteter Zivilisten darf nach allgemein gebräuchlichem Kriegsrecht aber durchaus wissentlich in Kauf genommen werden, wenn das Ziel die Ausschaltung des Gegners ist.

Auch wenn sowohl im Beispiel mit dem Flugzeugabschuss als auch im Kriegsrecht prinzipiell kein schwerwiegender Verstoß gegen die Objektformel vorliegt, wird aber natürlich in beiden Fällen Leben gegen Leben abgewogen. Im Falle des Krieges werden sogar Leben gegen ein höheres militärisches Ziel abgewogen. Dies gilt sogar dann, wenn ohne unmittelbare Bedrohung auf feindliche Soldaten geschossen wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht also so tut, als wäre eine Abwägung von Leben gegen Leben prinzipiell verfassungswidrig, dann ist das angesichts der Verfassungsmäßigkeit militärischer Einsätze doch einigermaßen scheinheilig.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Atheist »

odiug hat geschrieben:(17 Oct 2016, 21:42)

Habt ihr abgestimmt und wenn ja, wie ?
Der Fall wird hier beschrieben:
http://programm.ard.de/TV/Programm/Send ... 8737698567

Ohne viel drumherumzureden: schuldig, adernfalls könnte man auch offiziell zum Relativismus übergehen. Die Strafe wäre jedoch so gering wie möglich zu halten.
apartofme hat geschrieben:(27 Oct 2016, 06:44)

Genau. Die Passagiere entsprechen nicht dem fetten Mann, denn der fetten Mann wird Mittel zum Zweck, da sein Tod für die Rettung der anderen gebraucht wird (was der Objektformel widerspricht), so wie auch ein Mensch, dem zwangsweise seine Organe entnommen werden, Mittel zum Zweck wird. Die Passagiere im Flugzeug sind jedoch nicht Mittel zum Zweck.

Ähnliches gilt auch im Krieg: Der fette Mann darf auch im Krieg nicht getötet werden. Das Risiko getöteter Zivilisten darf nach allgemein gebräuchlichem Kriegsrecht aber durchaus wissentlich in Kauf genommen werden, wenn das Ziel die Ausschaltung des Gegners ist.

Auch wenn sowohl im Beispiel mit dem Flugzeugabschuss als auch im Kriegsrecht prinzipiell kein schwerwiegender Verstoß gegen die Objektformel vorliegt, wird aber natürlich in beiden Fällen Leben gegen Leben abgewogen. Im Falle des Krieges werden sogar Leben gegen ein höheres militärisches Ziel abgewogen. Dies gilt sogar dann, wenn ohne unmittelbare Bedrohung auf feindliche Soldaten geschossen wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht also so tut, als wäre eine Abwägung von Leben gegen Leben prinzipiell verfassungswidrig, dann ist das angesichts der Verfassungsmäßigkeit militärischer Einsätze doch einigermaßen scheinheilig.
Bei der Zwangsorgan"spende" wird in die körperliche Integrität eingegriffen und bei militärischen Einsätzen wird konkret mit Schadenswahrscheinlichkeiten gearbeitet, wobei aber im Ergebnis eine gewöhnliche Verhältnismäßigkeitsprüfung des Mitteleinsatzes erfolgt ohne einer Abwägung von "Leben gegen Leben".
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von apartofme »

Atheist hat geschrieben:(27 Oct 2016, 07:49)

Im ersten Fall geht es um die körperliche Integrität [...]
Meinst du hierbei die Organentnahme?
[...] und bei militärischen Einsätzen wird konkret mit Schadenswahrscheinlichkeiten gearbeitet, wobei aber im Ergebnis eben keine Abwägung von "Leben gegen Leben", sondern eine gewöhnliche Verhältnismäßigkeitsprüfung des Mitteleinsatzes erfolgt.
Es gibt militärische Einsätze, bei denen ganz klar ist, dass Zivilisten beim Angriff nicht nur sterben können, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch sterben werden. Der Erfolg der militärischen Operation wird in manchen Fällen aber aufgrund angeblich höherer Ziele über das Leben dieser Zivilisten gestellt. Selbst wenn ich einen Soldaten erschieße, der keine unmittelbare Bedrohung für mich darstellt, wäge ich sein Leben gegen den militärischen Erfolg ab - oder eben gegen die Chance, dass dieser Soldat irgendwann einmal in der Zukunft auf die Idee kommt, auf einen meiner Kameraden zu schießen. In Wahrheit weiß natürlich niemand so genau, ob dieser Soldat jemals jemanden töten wird, nur weil er mit einer Waffe irgendwo in einem Gebäude rumlungert.

Du hast schon Recht, dass das beim Militär 'gewöhnlich' ist, aber das ändert ja nichts daran, was es prinzipiell ist: Die totale Entwürdigung von Zivilisten, deren zukünftiges Leben in einer 'Verhältnismäßigkeitsprüfung' als verzichtbar angesehen wird. Und - ja - gewissermaßen beim Feindkontakt auch die totale Entwürdigung des gegnerischen Soldaten, der ja oft unter Androhung der Todesstrafe dazu gezwungen wird, bei seiner Truppe zu bleiben.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Atheist »

apartofme hat geschrieben:(27 Oct 2016, 08:24)

Meinst du hierbei die Organentnahme?
Ja.
Es gibt militärische Einsätze, bei denen ganz klar ist, dass Zivilisten beim Angriff nicht nur sterben können, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch sterben werden. Der Erfolg der militärischen Operation wird in manchen Fällen aber aufgrund angeblich höherer Ziele über das Leben dieser Zivilisten gestellt. Selbst wenn ich einen Soldaten erschieße, der keine unmittelbare Bedrohung für mich darstellt, wäge ich sein Leben gegen den militärischen Erfolg ab - oder eben gegen die Chance, dass dieser Soldat irgendwann einmal in der Zukunft auf die Idee kommt, auf einen meiner Kameraden zu schießen. In Wahrheit weiß natürlich niemand so genau, ob dieser Soldat jemals jemanden töten wird, nur weil er mit einer Waffe irgendwo in einem Gebäude rumlungert.

Du hast schon Recht, dass das beim Militär 'gewöhnlich' ist, aber das ändert ja nichts daran, was es prinzipiell ist: Die totale Entwürdigung von Zivilisten, deren zukünftiges Leben in einer 'Verhältnismäßigkeitsprüfung' als verzichtbar angesehen wird. Und - ja - gewissermaßen beim Feindkontakt auch die totale Entwürdigung des gegnerischen Soldaten, der ja oft unter Androhung der Todesstrafe dazu gezwungen wird, bei seiner Truppe zu bleiben.
Moralisch bin ich voll und ganz bei dir, rechtlich erkenne ich nur nicht, wo hier in der Prüfung Leben gegen Leben abgewogen wird oder es werden müsste.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von apartofme »

Atheist hat geschrieben:(27 Oct 2016, 08:37)
Moralisch bin ich voll und ganz bei dir, rechtlich erkenne ich nur nicht, wo hier in der Prüfung Leben gegen Leben abgewogen wird oder es werden müsste.
Das sehe ich komischerweise genau umgekehrt: Moralisch kann man durchaus argumentieren, dass die zivilen Opfer im Krieg in Kauf zu nehmen sind, weil das höhere Ziel des militärischen Erfolges dieses Opfer rechtfertigt.

Rechtlich dürfte das aber nach den Prinzipien, die das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, vollkommen inkohärent mit unserer Verfassung sein. Denn wenn das Leben eines Menschen, von dem keine akute Bedrohung ausgeht (z.B. eines Zivilisten), nicht einmal gegen ein anderes Leben abgewogen werden darf dann doch noch viel weniger gegen die diffuse "Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland", die ja letztendlich eben auch ein abstraktes Wort für unter Anderem das Leben, bzw. die Überlebenschance der in der Bundesrepublik wohnenden Menschen ist.

Das lässt sich doch überhaupt niemandem weismachen, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen einer Rakete, die ich auf ein mit einem Terroristen besetztes Flugzeug schieße oder einer Bombe, die ich auf ein mit feindlichen Kämpfern besetztes Wohngebäude werfe, wenn in beiden Fällen absolut sicher ist, dass Zivilisten sterben werden.

Nun mag der Einwand ja durchaus berechtigt sein, dass Kriegszeiten keine Friedenszeiten sind und man dahingehend bitte unterscheiden solle. Aber das wirft definitiv die Frage auf, ob die grundsätzlichsten unserer verfassungsrechtlichen Prinzipien denn in Kriegszeiten nicht zu gelten haben.
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Perdedor
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Perdedor »

apartofme hat geschrieben: Die Passagiere entsprechen nicht dem fetten Mann, denn der fetten Mann wird Mittel zum Zweck, da sein Tod für die Rettung der anderen gebraucht wird (was der Objektformel widerspricht), so wie auch ein Mensch, dem zwangsweise seine Organe entnommen werden, Mittel zum Zweck wird.
Was heißt "sein Tod wird gebraucht"?
Wenn er nach der Organentnahme (durch ein Wunder) noch Leben sollte, würde dies den Rettungsabsichten des Arztes nicht zuwiderlaufen.
Gilt natürlich auch für den fetten Mann.
Ist es hier nicht auch von Relevanz, wie direkt der negative Effekt herbeigeführt wird? Das Auf-die-Gleise stoßen des fetten Mannes und die Organentnahme führen direkt zum Tod der Betroffenen. Der Mann auf dem Nebengleis wird hingegen nicht direkt durch das Umstellen der Weiche selbst getötet.
Die Passagiere im Flugzeug werden wiederum direkt getötet.

Was sagst du zu dem anderen Beispiel von oben:
"Ein Selbstmordattentäter will sich in einer großen Menschenmenge in die Luft sprengen. Scharfschützen der Polizei sind in Position und man kann sich sicher sein, dass ein finaler Rettungsschuss das Zünden des Sprengstoffs verhindern würde. Leider befinden sich einige unbeteiligte Menschen im Schussfeld. Man könnte die Schussbahn freiräumen, wenn man auch diese erschießt."

Macht es einen Unterschied ob die Unbeteiligten vor dem Attentäter erschossen werden um die Bahn freizuräumen, oder ob der den Attentäter tötende Schuss gleichzeitig einen Unbeteiligten trifft?
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Itu

Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Itu »

Wo und von wen wird denn ernsthaft eine Zwangsentnahme von Organen auch nur irgendwie in Betracht gezogen


Vollkommen blödsinnig die zweifellos ganz reale Gefahr eines Terroranschlages und Reaktionen darauf nun seitenlang mit irgendwelchen Zwangsentnahmen von Organen zu vergleichen
Itu

Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Itu »

Perdedor hat geschrieben:(27 Oct 2016, 18:25)

Was heißt "sein Tod wird gebraucht"?
Wenn er nach der Organentnahme (durch ein Wunder) noch Leben sollte, würde dies den Rettungsabsichten des Arztes nicht zuwiderlaufen.
Gilt natürlich auch für den fetten Mann.
Ist es hier nicht auch von Relevanz, wie direkt der negative Effekt herbeigeführt wird? Das Auf-die-Gleise stoßen des fetten Mannes und die Organentnahme führen direkt zum Tod der Betroffenen. Der Mann auf dem Nebengleis wird hingegen nicht direkt durch das Umstellen der Weiche selbst getötet.
Die Passagiere im Flugzeug werden wiederum direkt getötet.

Was sagst du zu dem anderen Beispiel von oben:
"Ein Selbstmordattentäter will sich in einer großen Menschenmenge in die Luft sprengen. Scharfschützen der Polizei sind in Position und man kann sich sicher sein, dass ein finaler Rettungsschuss das Zünden des Sprengstoffs verhindern würde. Leider befinden sich einige unbeteiligte Menschen im Schussfeld. Man könnte die Schussbahn freiräumen, wenn man auch diese erschießt."

Macht es einen Unterschied ob die Unbeteiligten vor dem Attentäter erschossen werden um die Bahn freizuräumen, oder ob der den Attentäter tötende Schuss gleichzeitig einen Unbeteiligten trifft?
Oder
Man weiß von den Attentäter mit Sprengstoffweste im Bus zum Stadion

Darf man den Bus stoppen und damit die Businsassen in Gefahr bringen

Das was hier gefordert wird ist letztendlich einen Anschlag geschehen zu lassen weil dessen Verhinderung Menschen an Orten trifft die nun nicht unbedingt das eigentliche Ziel des Attentäters sind
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von apartofme »

Perdedor hat geschrieben:(27 Oct 2016, 18:25)

Was heißt "sein Tod wird gebraucht"?
Wenn er nach der Organentnahme (durch ein Wunder) noch Leben sollte, würde dies den Rettungsabsichten des Arztes nicht zuwiderlaufen.
Gilt natürlich auch für den fetten Mann.
Damit meine ich, dass sowohl der Mensch, der gezwungen wird, sein Organ zu spenden als auch der fette Mann durch die Aktionen selbst ein Mittel zum Zweck werden, d.h. dass ihnen nicht nur ihr Leben genommen wird, sondern auch die Autonomie, denn sie können nicht darüber entscheiden, welchen Zweck ihr Leben hat [1]. Das ist der eigentliche Knackpunkt bei der Objektformel, die ja ursprünglich gar nicht für solche Grenzfälle gedacht war, sondern eher den Gedankengängen der Aufklärung zuzuordnen ist.

[1] Im Prinzip ist es mit der Objektformel sogar noch etwas komplizierter, denn sie zielt eigentlich gar nicht so sehr auf die Autonomie im Sinne der freien Entscheidung ab, sondern auf eine gedachte, theoretische, aus der Vernunft konstruierte Autonomie, d.h. die Autonomie des so genannten "homo noumenon". Es könnte sogar nach der Objektformel argumentiert werden (Achtung: Steile These!), dass ein gedachter, vernunftbegabter Mensch in der Situation des fetten Mannes oder des potenziellen Organspenders sich selbst opfern würde (!). Damit könnte in der Tat auch nach kantischer Argumentationsweise davon ausgegangen werden, dass das Leben des Organspenders oder des Fetten Mannes auch dann nicht "Mittel zum Zweck" wird, wenn sie getötet werden und dass demzufolge die Tötung in den entsprechenden Fällen gerechtfertigt ist. Ein ähnliches Argument hat Kant auch in seinem Versuch der Rechtfertigung der Todesstrafe (!) vorgebracht. Dies ist dann aber definitiv auch der Punkt, bei dem das kantische Denken an seine Grenzen stößt bzw. sich die Widersprüchlichkeiten dieses Denkens offenbaren. Bei Interesse versuche ich das mal, näher auszuführen.
Ist es hier nicht auch von Relevanz, wie direkt der negative Effekt herbeigeführt wird? Das Auf-die-Gleise stoßen des fetten Mannes und die Organentnahme führen direkt zum Tod der Betroffenen. Der Mann auf dem Nebengleis wird hingegen nicht direkt durch das Umstellen der Weiche selbst getötet.
Die Passagiere im Flugzeug werden wiederum direkt getötet.
Wie unmittelbar jemand getötet wird, ist sicherlich auch von Bedeutung - aus meiner persönlichen Sicht sogar von ziemlich großer Bedeutung.

Daraus folgt aber logischerweise nicht, dass alle Fälle, in denen Menschen unmittelbar getötet werden, gleichzusetzen sind.
Perdedor hat geschrieben:(27 Oct 2016, 18:25)

Macht es einen Unterschied ob die Unbeteiligten vor dem Attentäter erschossen werden um die Bahn freizuräumen, oder ob der den Attentäter tötende Schuss gleichzeitig einen Unbeteiligten trifft?
Nach der Objektformel denke ich durchaus, dass es da einen Unterschied gibt, denn die Herbeiführung des Todes der Zivilisten, die gleichzeitig mit dem Attentäter getötet werden, ist nicht Mittel zum Zweck.

Es ließe sich sogar darüber streiten, ob die Zivilisten selbst Mittel zum Zweck werden, wenn sie 'aus dem Weg geräumt' werden müssen, um den Angreifer zu töten. Auch das ließe sich unter Umständen noch einmal vom Beispiel mit dem fetten Mann und auch vom Beispiel der Organentnahme abgrenzen. In dem speziellen Fall bin ich mir da aber schon nicht mehr so sicher.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Perdedor »

apartofme hat geschrieben:(28 Oct 2016, 04:00)
Damit könnte in der Tat auch nach kantischer Argumentationsweise davon ausgegangen werden, dass das Leben des Organspenders oder des Fetten Mannes auch dann nicht "Mittel zum Zweck" wird, wenn sie getötet werden und dass demzufolge die Tötung in den entsprechenden Fällen gerechtfertigt ist.
Sehe ich auch so. Ich denke man kann ein Kontinuum an Beispielen konstruieren und ab irgendeinem Punkt (wohl von Mensch zu Mensch unterschiedlich) wird die Objektformel als verletzt betrachtet, obwohl sich nichts qualitatives ändert. Wenn du diesbezüglich irgendeine Argumentation im Kopf hast, würde mich das interessieren.
apartofme hat geschrieben: Daraus folgt aber logischerweise nicht, dass alle Fälle, in denen Menschen unmittelbar getötet werden, gleichzusetzen sind.
Richtig. Es geht hier um die Frage was hinreichend und was notwendig ist.
Beim fetten Mann ist die Sache "einfach": Er wird direkt, als Mittel zum Zweck getötet. Der Mann auf dem Nebengleis wird weder direkt noch als Mittel zum Zweck getötet. Der Flugzeugpassagier steht hier in der Mitte. Er wird direkt getötet, aber ob sein Tod nur Mittel zum Zweck ist, ist letztendlich diskutabel. Denn in allen Beispielen kann man immer argumentieren (teilweise natürlich weit hergeholt), dass as Überleben der "Mittel-Menschen" dem Rettungszweck nicht per se widerspricht. Wenn der fette Mannn den Zug aufhält, ohne sich dabei zu verletzen ist der Rettungszweck auch erfüllt. Es ist also nicht per se notwendig, dass er stirbt, lediglich die unglücklichen Umstände führen dazu. Relevanter für die intuitive Entscheidung der meisten Menschen scheint mir hier die direkte Tötung zu sein. Das müsste dann aber auch für die Passagiere gelten.
apartofme hat geschrieben: Es ließe sich sogar darüber streiten, ob die Zivilisten selbst Mittel zum Zweck werden, wenn sie 'aus dem Weg geräumt' werden müssen, um den Angreifer zu töten. Auch das ließe sich unter Umständen noch einmal vom Beispiel mit dem fetten Mann und auch vom Beispiel der Organentnahme abgrenzen. In dem speziellen Fall bin ich mir da aber schon nicht mehr so sicher.
Um genau diese Abgrenzung geht es ja. Wie würdest du sie machen?
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Raskolnikof
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Raskolnikof »

Itu hat geschrieben:Aber wer sich mit Verweis auf ein Gesetz zurücklehnt und gar nichts macht ist im allerbesten Fall nur ein Arschloch
Zustimmung!
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

schelm hat geschrieben:(20 Oct 2016, 01:38)

Sorry, aber daraus werde ich nicht schlau. Was Nothilfe meint ist klar. Die Fragestellung ist grundsätzlicher Art gewesen : Wenn die praktische Ausführung der Nothilfe ihren theoretischen Sinn, nämlich jemanden Hilfe in der Not zu leisten, in das Gegenteil verkehrt, also man weiß dadurch die Personen zu töten, denen die Nothilfe gelten soll, dann kann man das doch weder als Nothilfe bezeichnen oder diese als gerechtfertigt betrachten, dies verkehrt die Bedeutung der Begriffe " Hilfe " und " Gerechtfertigt " in ihr praktisches Gegenteil.

Es sei denn - wie erwähnt - die Nothilfe bezieht sich ausschließlich auf die Stadionbesucher, ihnen, und nur ihnen, würde in der Not geholfen werden durch den Abschuss des Flugzeuges und somit der Tötung aller Insassen der Maschine. Genau das aber wird doch als rechtswidrig ausgeschlossen, die Abwägung Leben gegen Leben.
Die Nothilfe bezieht sich natürlich klar auf die Besucher des Stadions - das ist auch der Zweck des Abschusses. Der Abschuss dient ja nicht der Rettung der 164 Passagiere, sondern der Stadioninsassen. Dass diese sterben, widerspricht erstmal nicht dem verfolgten Zweck der Nothilfe, die Stadionbesucher zu retten. Du musst im Übrigen die einzelnen Vorgänge abstrahieren, also die Tötungen als einzelne Handlungen und nichts als verbundenes Gesamtwerk betrachten. Dass der Tod der Passagiere mit der Tötung des Terroristen aus logischen Gründen zwangsläufig eintritt, hat keinen Einfluss auf das Vorliegen der Nothilfe bei der Tötung des Terroristen.

Dass sich die Nothilfe ausschließlich auf die Rettung der Stadionbesucher bezieht, habe ich auch nicht bestritten. Die Abwägung Leben gegen Leben steht dem nicht entgegen. Zwar sind die Tatbestände der Notwehr und des rechtfertigenden Notstandes nicht einschlägig, weil eine Abwägung Leben gegen Leben stattfindet, aber auf der Schuldebene gibt es den Tatbestand des entschuldigenden Notstandes aus § 35 StGB. Bei dem unterbleibt - im Gegensatz zu den Rechtfertigungsgründen - eine Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter völlig. Der entschuldigende Notstand ist z. B. in den "Schiffbruchfällen" einschlägig: Ein Schiff geht unter, auf einem Stück Treibgut finden nur 2 Leute Platz, aber 3 Leute kämpfen um die rettende Planke. Beschließen nun zwei der Betroffenen, den Dritten zu ertränken, um ihr eigenes Überleben zu retten, sind sie zwar wegen der unmöglichen Abwägung der gleichwertigen Rechtsgüter beim rechtfertigenden Notstand aus § 34 StGB nicht gerechtfertigt - aber über § 35 StGB entschuldigt und sind daher freizusprechen.
Das Problem des Piloten im Terrorfall ist bloß, dass der § 35 StGB ein Näheverhältnis zwischen dem Täter und denjenigen erfordert, die durch die Nothilfe gerettet werden sollen: "...um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden." Diese Näheverhältnis existiert zwischen dem Kampfjetpiloten und den Stadionbesuchern nicht, weshalb er sich nicht auf die Nothilfe berufen kann. Ansätze wie eine analoge Anwendung verbieten sich, da der Wortlaut im Umkehrschluss bei der Auslegung ausdrücklich sagt, dass eben ohne ein solches Näheverhältnis die Strafbarkeit bleiben muss. Einziger Strohhalm wäre dann der übergesetzliche Notstand. Der ist aber derart umstritten in der Literatur, dass der Angeklagte wortwörtlich den bekannten Spruch durchlebt: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

ThorsHamar hat geschrieben:(19 Oct 2016, 19:02)

Ach so? ;)
Bitte sehr, Du darfst davon ausgehen, dass ich weiss, worüber ich hier diskutiere.
Der Artikel im GG ist imho der am meisten missachtete Passus im gesamten GG. Schon in diesem Thema wird das deutlich, denn es wird abgewogen, wessen Würde "wichtiger" wäre ....
In der rechtlichen Praxis ist der Eingriff in die Menschenwürde einer der am wenigsten missachteten Artikel des GG, schon allein weil wir in einem Rechtsstaat und Demokratie leben. Was hingegen Leute in Internetforen diskutieren, hat mit der Rechtswirklichkeit nun mal gar nichts gemein. In der absolut herrschenden Lehre (mir sind keinerlei widersprechende Mindermeinungen bekannt) ist der Grundsatz "Keine Abwägung Leben gegen Leben" unumstritten. Was nun die Bevölkerung nach 15 min Nachdenken für ein Urteil fällt, ist für diese juristische Einschätzung irrelevant - und im Übrigen keine Grundrechtsverletzung, weil diese nur der Staat begehen kann und durch eine Meinungsäußerung schon gar keine rechtserhebliche Maßnahme vorliegt, die für eine Verletzung zwingende Voraussetzung wäre.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

Brainiac hat geschrieben:(19 Oct 2016, 18:16)

Ein zum Kotzen arrogante Polemik, aber seiner Argumentation und "Lösung" würde ich in etwa folgen. Deine Einwände zum aus deiner Sicht nicht vorliegenden entschuldigen Notstand mal aussen vor, da kenne ich mich nicht aus. Aber vielleicht kann man die Straffreiheit noch anders begründen?
übergesetzlicher Notstand - da spielen dann aber Professoren, Juristen und Richter Chamäleon, Du wirst da keine verbindlichen Stellungnahmen zu finden, weil dessen Voraussetzungen vollkommen unklar sind und er auch gesetzlich nicht normiert ist.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von schelm »

Amtsschimmel hat geschrieben:(05 Nov 2016, 22:23)

Die Nothilfe (.....)
Danke für die fundierte Antwort, meine Unklarheiten wurden damit beseitigt. :thumbup:
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Brainiac »

Amtsschimmel hat geschrieben:(05 Nov 2016, 22:38)

übergesetzlicher Notstand - da spielen dann aber Professoren, Juristen und Richter Chamäleon, Du wirst da keine verbindlichen Stellungnahmen zu finden, weil dessen Voraussetzungen vollkommen unklar sind und er auch gesetzlich nicht normiert ist.
Naja, das passt ja genau. Ich will ja auch keine Argumentation, aus der sich pauschal Freisprüche in scheinbar ähnlichen Situationen konstruieren lassen. Das gerade nicht. Dieser Fall muss eine singuläre Einzelfallentscheidung sein und bleiben.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

Brainiac hat geschrieben:(06 Nov 2016, 01:16)

Naja, das passt ja genau. Ich will ja auch keine Argumentation, aus der sich pauschal Freisprüche in scheinbar ähnlichen Situationen konstruieren lassen. Das gerade nicht. Dieser Fall muss eine singuläre Einzelfallentscheidung sein und bleiben.

Naja, Gleichbehandlung muss schon gewährleistet sein. Unser Recht ist ja eben kein Case Law, sondern eines, das auf abstrakt-generellen Regeln basiert. Also muss ich schon objektiv überprüfbare Maßstäbe bei der Beurteilung ansetzen und diese auch im Urteil ausführen.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von ThorsHamar »

Amtsschimmel hat geschrieben:(05 Nov 2016, 22:34)

In der rechtlichen Praxis ist der Eingriff in die Menschenwürde einer der am wenigsten missachteten Artikel des GG, schon allein weil wir in einem Rechtsstaat und Demokratie leben. ...
Wollen Sie lustig sein?
Der Terminus "Menschenwürde" ist überhaupt nicht definiert, überhaupt nicht juristisch praktikabel, sondern eine ethisch -moralische, gut gemeinte Floskel, welche als idealistische Maxime täglich und ausnahmslos überall ihre Praxisferne beweist.

Was hingegen Leute in Internetforen diskutieren, hat mit der Rechtswirklichkeit nun mal gar nichts gemein.
Natürlich nicht. Welcher Blödmann würde denn davon ausgehen wollen? :p
In der absolut herrschenden Lehre (mir sind keinerlei widersprechende Mindermeinungen bekannt) ist der Grundsatz "Keine Abwägung Leben gegen Leben" unumstritten. .
...

Ja, "absolute Lehren" hinterlassen öfter mal absolute Leeren, unumtritten ....
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

ThorsHamar hat geschrieben:(06 Nov 2016, 14:36)

Wollen Sie lustig sein?
Der Terminus "Menschenwürde" ist überhaupt nicht definiert, überhaupt nicht juristisch praktikabel, sondern eine ethisch -moralische, gut gemeinte Floskel, welche als idealistische Maxime täglich und ausnahmslos überall ihre Praxisferne beweist.
So ein Quatsch. Die Definition findest Du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenw ... gsgerichts
Zur vertieften Lektüre: BVerfGE 30, 1 (25); Dürig, AöR 81 (1956). S. 117 (127)
ThorsHamar hat geschrieben:(06 Nov 2016, 14:36)
Ja, "absolute Lehren" hinterlassen öfter mal absolute Leeren, unumtritten ....
"Kluge" Sprüche stellen nicht eine jahrzehntealte und bücherumfassende Diskussion infrage, gerade auch dann nicht, wenn derjenige, der die Sprüche bringt, selbst die Basics nicht nachvollzieht.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Brainiac »

Amtsschimmel hat geschrieben:(06 Nov 2016, 14:07)

Naja, Gleichbehandlung muss schon gewährleistet sein. Unser Recht ist ja eben kein Case Law, sondern eines, das auf abstrakt-generellen Regeln basiert. Also muss ich schon objektiv überprüfbare Maßstäbe bei der Beurteilung ansetzen und diese auch im Urteil ausführen.
Vielleicht handelt es sich hier aber um einen Grenzbereich, wo man von diesem Grundprinzip Abstand nehmen muss, wenn man nichts außer den übergesetzlichen Notstand heranziehen kann. Und so sieht es ja offenbar aus, zumindest wenn man Straffreiheit des Piloten rechtfertigen will.
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von ThorsHamar »

Amtsschimmel hat geschrieben:(06 Nov 2016, 15:38)

So ein Quatsch. Die Definition findest Du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenw ... gsgerichts
Zur vertieften Lektüre: BVerfGE 30, 1 (25); Dürig, AöR 81 (1956). S. 117 (127)
Ich kenne diese "Definitionen", welche im richtigen Leben von ganz einfachen, pragmatischen Sachzwängen, welche immer mit kultureller Prägung, Machtverhältnissen und dem Grad der Skrupellosigkeit bei der Reaktion auf diese Sachzwänge zu tun haben, bestimmt werden und somit diese "Definitionen" ganz dynamisch zweckmässig für den jeweiligen Arsch modifiziert werden.
Solange wir Todesstrafen für verurteilte Mörder aus menschenrechtlichen Gründen ablehnen, das Kriegführen gegen irgendwelche Feinde aber mit Hightech und humanen Kollateralschäden als Aufgabe im Dienste des Humanismus definieren, lasse ich mir von der griechich - christlich - jüdischen Menschenrechtstradition als universelle Lebenshilfe nichts erzählen ...

"Kluge" Sprüche stellen nicht eine jahrzehntealte und bücherumfassende Diskussion infrage, gerade auch dann nicht, wenn derjenige, der die Sprüche bringt, selbst die Basics nicht nachvollzieht.
Ja, das stimmt. :cool: Auch der pragmatisch - dogmatische Inhalt des Buches der Bücher hat sich irgendwann als Blödsinn herausgestellt ...
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

ThorsHamar hat geschrieben:(06 Nov 2016, 23:38)
Solange wir Todesstrafen für verurteilte Mörder aus menschenrechtlichen Gründen ablehnen, das Kriegführen gegen irgendwelche Feinde aber mit Hightech und humanen Kollateralschäden als Aufgabe im Dienste des Humanismus definieren, lasse ich mir von der griechich - christlich - jüdischen Menschenrechtstradition als universelle Lebenshilfe nichts erzählen ...
Oh je... Du weißt aber schon, dass Todesstrafe und Krieg rechtlich zwei vollkommen unterschiedliche Paar Schuhe sind und auch unterschiedlichen völkerrechtlichen Regeln folgen?
ThorsHamar hat geschrieben:(06 Nov 2016, 23:38)
Ja, das stimmt. :cool: Auch der pragmatisch - dogmatische Inhalt des Buches der Bücher hat sich irgendwann als Blödsinn herausgestellt ...
Danke für den Lacher. Echt eine Schande, dass die komplette Rechtswissenschaft bisher Dein juristisches Genie verkannt hat :D ...
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von ThorsHamar »

Amtsschimmel hat geschrieben:(07 Nov 2016, 21:12)

Oh je... Du weißt aber schon, dass Todesstrafe und Krieg rechtlich zwei vollkommen unterschiedliche Paar Schuhe sind und auch unterschiedlichen völkerrechtlichen Regeln folgen?
Ja, das weiss ich schon. Und Sie können halbwegs dem Kontext hier folgen? Offensichtlich nicht, oder irre ich mich?
Was ist denn wohl das Gemeinsame bei Todesstrafe und Krieg im Zusammenhang mit einem demokratischen Rechtsstaat?
Richtig, beide sind Ausdruck der "unantastbaren Menschenwürde" .... :cool:
Deshalb schrieb ich :
Der Terminus "Menschenwürde" ist überhaupt nicht definiert, überhaupt nicht juristisch praktikabel, sondern eine ethisch -moralische, gut gemeinte Floskel, welche als idealistische Maxime täglich und ausnahmslos überall ihre Praxisferne beweist.
Danke für den Lacher. Echt eine Schande, dass die komplette Rechtswissenschaft bisher Dein juristisches Genie verkannt hat :D ...
Ich habe konkret auf Ihr ""Kluge" Sprüche stellen nicht eine jahrzehntealte und bücherumfassende Diskussion infrage, ..." geantwortet.
Was Ihre Einlassung mit der "kompletten Rechtswissenschaft" zu tun hat, bleibt dann Ihr Geheimnis. :cool:
Guten Abend trotzdem. Sie bemühen sich ja wenigstens, pfiffig zu wirken ... immerhin ...
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Re: Terror nach Ferdinand von Schirach

Beitrag von Amtsschimmel »

ThorsHamar hat geschrieben:(07 Nov 2016, 23:00)

Ja, das weiss ich schon. Und Sie können halbwegs dem Kontext hier folgen? Offensichtlich nicht, oder irre ich mich?
Was ist denn wohl das Gemeinsame bei Todesstrafe und Krieg im Zusammenhang mit einem demokratischen Rechtsstaat?
Richtig, beide sind Ausdruck der "unantastbaren Menschenwürde" .... :cool:
Ich sage es mal ganz einfach: Das Töten gegnerischer Soldaten im Krieg verstößt nicht gegen die Menschenwürde, denn Krieg folgt anderen Regeln als dem Grundgesetz. Das Grundgesetz schweigt sich ausdrücklich zur Kriegsführung aus, weil dafür andere, nämlich völkerrechtliche Regeln gelten. Die Todesstrafe ist in Deutschland im Übrigen nicht aufgrund eines Menschenwürdeverstoßes, sondern wegen Art. 102 GG abgeschafft.
ThorsHamar hat geschrieben:(07 Nov 2016, 23:00)
Ich habe konkret auf Ihr ""Kluge" Sprüche stellen nicht eine jahrzehntealte und bücherumfassende Diskussion infrage, ..." geantwortet.
Was Ihre Einlassung mit der "kompletten Rechtswissenschaft" zu tun hat, bleibt dann Ihr Geheimnis. :cool:
Und wo findet diese Diskussion statt, wenn nicht in der kompletten Rechtswissenschaft :rolleyes: ?
ThorsHamar hat geschrieben:(07 Nov 2016, 23:00)
Guten Abend trotzdem. Sie bemühen sich ja wenigstens, pfiffig zu wirken ... immerhin ...
Erst zeigen, dass man keine Ahnung hat, und nun hier den Kenner raushängen lassen :D ... Du bist mir einer...
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