Progressiver Konservatismus

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Selina
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:19)

Ich habe Prechts neustes Buch über die Digitalisierung gelesen , ( ich habe auch eine Leidenschaft für Philosophie von Sokrates bis Nietzsche) bisweilen sehr gute gesellschaftskritische Analysen auch seine Kritik am modernen High Tech Datenkapitalismus ( Amazon Facebook, Google und Co) und dessen Bedrohung für Demokratie und Freiheit des Einzelnen teile ich weitgehend, zudem ist Precht wie ich Befürworter des bedinungslosen Grundeinkommens , er ist wie ich kein wirklich LINKER sonder eher wie auch ich selbst politisch linker Liberaler bzw. linksliberal würde ich sagen.
Ja, linksliberal triffts. Mit leichtem Touch zum Konservativen. Kapitalismuskritik sehe ich da so gut wie keine. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Lebensumstände prägen eben doch. Also seine eigenen aktuellen, nicht die in seinem damaligen Elternhaus. Letztere haben nur den normalen Trotz beim Sprößling hervorgerufen.
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Selina
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:03)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ei ... _id=153804

https://www.welt.de/welt_print/article3 ... -geht.html

So hatte ich es in Erinnerung, und dass an der DKP und selbst der damaligen Stamokap-Linken irgendetwas grün gewesen wäre, würde sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen nicht decken, da zum Beispiel die DKP ja kein grundsätzliche Problem an AKWs sah, sondern diese würden bei einer Änderung der Eigentumsverhältnisse automatisch sicher.

So, zurück zum progressiven Konservatismus und Herrn Mais Gedankenspielen.
Ok, dann lassen wir das "grün" bei Prechts damaliger Familie halt weg, aber links auf alle Fälle. Nur am Rande: Auch die Grünen haben einige linke Wurzeln (68er). Haben sie heute nur völlig ad acta gelegt. Im Übrigen bestätigen die beiden von Ihnen verlinkten Texte (Deutschlandfunk und Welt) das, was ich sagte: Precht hat seine linken Wurzeln ebenso abgestreift, wie das die erwähnten Grünen taten. Und wie das viele linke 68er taten. Er ist heute ein angepasster bürgerlicher Linksliberaler mit zeitweiliger Neigung zur FDP. Entspricht seinem Status.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben. Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.

Wenn es Änderungen gab, dann wäre eine angemessenere Frage, wie weit man sich vom konservativen Denken heute entfernt hat. Das sind die beiden Möglichkeiten: man sucht im Ewigen einen Wesenskern oder man läuft einer bloßen Bezeichnung nach und schaut meinungslos, was die so Bezeichneten treiben und das wäre dann konservativ.
Also wenn, dann wäre das allenfalls ein relativistischer Konservatismus, der sich immer wieder inhaltlich (zeitgeistlich) neu ausrichtet, wonach auch immer. Die Frage ist dann nur, worin er sich von den anderen politischen Strömungen wesentlich unterscheidet.
Offenbar reichen aber heutzutage schon winzige Nuancen, um politisch Kapital zu schlagen.
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Selina
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

[quote="Selina"](10 Dec 2018, 15:33)

sorry, doppelt
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:45)

Der Konservativismus ist ohnehin eher negativ eingestellt er hat ein eher negatives Menschenbild dass zeigt die Union gerade derzeit z.b bei der Hartz Debatte und Reform des Sozialstaates, die Union setzt da ja weiter eher auf den dicken schikanierenden Bürokratieappart , den Menschen strafend zu sanktionieren statt positiv zu motivieren, Bevormundung statt Vertrauen diese Mentalität ist ja gerade Ausdruck eines negativen Menschenbildes a la Konservative. Ich als Liberaler kann damit nichts anfangen.
Bemerkenswert ist ja, dass die Hartz-Reformen erst durch die gestalterische Einflussnahme von CDU und CSU im Vermittlungsausschuss den extrem bürokratischen Charakter annahm. Hinterher wurde der SPD die alleinige Schuld gegeben.
Bemerkenswert waren übrigens damals die Parallelen zur Arbeitslosendebatte Anfang der 1930er Jahre. Auf dem Höchststand der Arbeitslosenzahl (ca. 8 bis 9 Millionen) fingen die Konservativen an, lautstarke Faulheitsdebatten zu führen und von der überbordenden Masse an Arbeitsscheuen zu schwadronieren.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 15:33)

Ok, dann lassen wir das "grün" bei Prechts damaliger Familie halt weg, aber links auf alle Fälle. Nur am Rande: Auch die Grünen haben einige linke Wurzeln (68er). Haben sie heute nur völlig ad acta gelegt. Im Übrigen bestätigen die beiden von dir verlinkten Texte (Deutschlandfunk und Welt) das, was ich sagte: Precht hat seine linken Wurzeln ebenso abgestreift, wie das die erwähnten Grünen taten. Und wie das viele linke Alt-68er taten. Er ist ein angepasster bürgerlicher Linksliberaler mit zeitweiliger Neigung zur FDP. Entspricht seinem Status.
Ich finde eines ja sehr bemerkenswert: Das Jahr 68 wird von vielen Konservativen als das politische Katastrophenjahr schlechthin angesehen. Fragt man dann explizit nach, was sie genau meinen, dann stellt man eines fest: es geht eigentlich nur um Sex.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:45)

Der Konservativismus ist ohnehin eher negativ eingestellt er hat ein eher negatives Menschenbild dass zeigt die Union gerade derzeit z.b bei der Hartz Debatte und Reform des Sozialstaates, die Union setzt da ja weiter eher auf den dicken schikanierenden Bürokratieappart , den Menschen strafend zu sanktionieren statt positiv zu motivieren, Bevormundung statt Vertrauen diese Mentalität ist ja gerade Ausdruck eines negativen Menschenbildes a la Konservative. Ich als Liberaler kann damit nichts anfangen.
Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

sünnerklaas hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:20)

Ich finde eines ja sehr bemerkenswert: Das Jahr 68 wird von vielen Konservativen als das politische Katastrophenjahr schlechthin angesehen. Fragt man dann explizit nach, was sie genau meinen, dann stellt man eines fest: es geht eigentlich nur um Sex.
:D

Ein bisschen mehr war es schon ;) Aber wie nahe die Konservativen den rechts außen Stehenden oft sind, sieht man genau in diesem Punkt. Auch der Neuen Rechten (wie der AfD) sind sämtliche Errungenschaften der 68er ein Dorn im Auge.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:25)

Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.


Wie "konservativ" war dann erst ein System, das seine Bürger einschüchtern, einmauern, einsperren und bespitzeln musste.
Das ist das Gegenteil von Konservatismus. Das ist ein aussichtsloses gewaltsames Festhalten an einer Künstlichkeit.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:40)

Wie "konservativ" war dann erst ein System, das seine Bürger einschüchtern, einmauern, einsperren und bespitzeln musste.
Das ist das Gegenteil von Konservatismus. Das ist ein aussichtsloses gewaltsames Festhalten an einer Künstlichkeit.
Ja. Also kann man sagen: Vom Regen in die Traufe gekommen.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 15:28)

Progressiv ist das genaue Gegenteil von Konservatismus, dieses Wortgebilde das ist einfach nur wiedermal ein Oxymoron wie sie von Rechts immer häufiger auftauchen. Das einzige was daran diskussionswürdig ist, ist in welcher Tonne man das entsorgen sollte.
Nun, diese Tonne müsste ja auch einen demokratischen Sozialismus aufnehmen, für den sich das gleiche behaupten ließe, wenn man Begriffe rein historisch verwenden wollte.

Es bleibt dabei: Ein politischer Konservatismus ist erst einmal etwas anderes als ein konservativen Menschenbild. Letzteres setzt dem Menschen zum Beispiel im Sinne Gehlens als ein Mängelwesen, das der Institutionen für seine Lebenssicherung bedarf. Das unterscheidet den Konservatismus bei oft gleicher Wirtschaftspolitik vom Liberalismus, der den Menschen eben nicht als Mängelwesen, sondern das Individuum als solches und Einzelnen an sich für etwas von allen Institutionen Losgelöstes beschreibt. Es ist also in diesem Bereich vor allem die unterschiedlich gewichtete Rolle des Staates.

Davon wiederum entfernt sich Mai in seinem Artikel - denn ein Kommunitarismus würde dem Konservatismus seine Fixierung auf den starken Staat austreiben, ohne das Individuum in die absolute Bindungslosigkeit setzen zu wollen, wie ihr Hartmut Rosa im oben verlinkten Artikel nachgeht. Einem solchen progressiven Konservatismus würde vermutlich auch das reaktionäre Element fehlen. Dieses reaktionäre Element besteht in der Regel aus einem in irgendeine Vergangenheit gesetzten Idealzustand, den es wiederherzustellen gilt (im Sozialismus und Liberalismus liegt dieser Zustand in der Zukunft). Wo das fehlt - in den osteuropäischen Staaten wird gerade so ein Zustand fast manisch beschworen - wäre ein progressiver Konservatismus auch für gesellschaftliche Entwicklungen offener, als das in Polen oder Ungarn der Fall ist. Er würde den Untertanen ein wenig mehr Unabhängigkeit vom Staat verschaffen, als es beispielsweise den Grünen vorschwebt, da hat Mai sicherlich einen wichtigen Punkt angesprochen. Aber darüber hinaus bleibt es trotzdem vage und müsste mit Leben gefüllt werden. Doch hierfür lässt der nackte Kampf um die Macht in der Regel keine zeitlichen und geistigen Spielräume.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Ein Terraner »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 18:18)

Nun, diese Tonne müsste ja auch einen demokratischen Sozialismus aufnehmen, für den sich das gleiche behaupten ließe, wenn man Begriffe rein historisch verwenden wollte.
Nicht wirklich, beim Sozialismus ist eine Wirtschaftsform und keine Staatsform, das Oxymoron was du meinst wäre eine demokratische Diktatur.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:25)

Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.
In Bezug auf die Hartz Debatte und der Zukunft des Sozialstaates ist dass konservativ ( die Argumentationen eines Jens Spahn bei dem Thema sind ja bezeichnend) mitsamt der Faulenzerkeule und soziale Hängenmatten Rhetorik, steckt wie ich es beschrieb hinter Strafe und Sanktionen statt positive Motivation ( BGE) ein negatives Menschenbild womit kein liberal freiheitlich denkender Mensch wirklich was anfangen kann.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 18:42)

Nicht wirklich, beim Sozialismus ist eine Wirtschaftsform und keine Staatsform, das Oxymoron was du meinst wäre eine demokratische Diktatur.
???

Der Sozialismus ist eine politische Ideologie wie auch der Liberalismus und der Konservatismus und wie diese mit einer bestimmten Philosophie unterlegt keinesfalls auf eine Wirtschaftsform begrenzt.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Ein Terraner »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 19:10)

???

Der Sozialismus ist eine politische Ideologie wie auch der Liberalismus und der Konservatismus und wie diese mit einer bestimmten Philosophie unterlegt keinesfalls auf eine Wirtschaftsform begrenzt.
Am Ende ist alles eine Ideologie, auch der Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft. Aber wo beißt sich bei dir jetzt der demokratische Sozialismus? In der Tatsache das der Sozialismus bis jetzt nur in Diktaturen auftauchte?
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 19:19)

Am Ende ist alles eine Ideologie, auch der Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft. Aber wo beißt sich bei dir jetzt der demokratische Sozialismus? In der Tatsache das der Sozialismus bis jetzt nur in Diktaturen auftauchte?
Dort, wo ggf. der progressive Konservatismus sich beißen würde. Der ist auch Thema. Zum Sozialismus kann man gerne eine Strang eröffnen.
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben.
Das wären aber alles Dinge, die im Wesentlichen jenseits aller Politik angesiedelt wären.
BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)
Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.
Aus diesem Pessimismus ggü. allen Machbarkeitsphantasien, was man um eine Skepsis gegen Menschheits- oder Menschenverbesserungsphantasien erweitern könnte, ergibt sich für mich persönlich der wichtigste Punkt konservativer Haltungen (nicht zu verwechseln mit einem politischen Konservatismus): Wer etwas ändern will, ist in der Beweispflicht, nicht diejenigen, die etwas bewahren wollen. Die Machbarkeitsphantasie muss sich also konkret präsentieren und über die Phantasterei, das infantile Wünschen hinausgehen.
BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)
Wenn es Änderungen gab, dann wäre eine angemessenere Frage, wie weit man sich vom konservativen Denken heute entfernt hat. Das sind die beiden Möglichkeiten: man sucht im Ewigen einen Wesenskern oder man läuft einer bloßen Bezeichnung nach und schaut meinungslos, was die so Bezeichneten treiben und das wäre dann konservativ.
Also wenn, dann wäre das allenfalls ein relativistischer Konservatismus, der sich immer wieder inhaltlich (zeitgeistlich) neu ausrichtet, wonach auch immer. Die Frage ist dann nur, worin er sich von den anderen politischen Strömungen wesentlich unterscheidet.
Offenbar reichen aber heutzutage schon winzige Nuancen, um politisch Kapital zu schlagen.
Das einzige, worin er sich unterscheiden könnte, wäre die Aufgabe aller teleologischen Geschichtsphilosophie. Aber spätestens seit den Achtzigern, seit Thatcher und Reagan und Fukuyama, ist auch der Konservatismus uneingeschränkt ins Lager der heilsgeschichtlichen Narrative gewechselt - und spätestens hier hat er von aller Skepsis gelassen.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 11:50)

Das Nebeneinander von "Globalisten" und "Kommunitaristen" hat es eigentlich schon immer gegeben und das wird es auch weiter geben. Wobei sich durch diese harmonisierenden Begriffe der Rechts-Links-Konflikt nicht einfach hinwegreden lässt. So sehr sich das manche auch wünschen. Denn diesen Konflikt gibt es nach wie vor und der spitzt sich zu. Zumal es bei den ganzheitlich denkenden "Globalisten" nun mal mehr Linke und Linksliberale gibt als Konservative und weiter rechts Stehende. Und bei den "Kommunitaristen" - im Sinne von Regionalisierung und Nationalisierung - gibt es eindeutig mehr Rechte als Linke. Die Linken, die gleichfalls nationale Antworten bei der Migration, in der Wirtschaft und im Handel präferieren, die für "Grenzen dicht" und "Abschottung" sind, sind in dieser "Gruppe" deutlich in der Minderzahl. Es ist nur einfach etwas schicker und bequemer geworden, zu sagen, die politischen Richtungen "rechts" und "links" gibt es nicht mehr, sie hätten sich aufgelöst, der Riss gehe quer durch diese Richtungen. Das hängt auch mit eigenen Ängsten der Leute zusammen, die aufgrund ihrer Erfahrungen irgendwelche Arten von Bekenntnissen meiden wie der Teufel das Weihwasser und die um Gottes Willen nicht im "rechten Lager" mit dem Nazi-Stallgeruch landen wollen, aber eben auch nicht im "linken Lager", wo angeblich "Enteignung" und "Kollektivismus" drohen. Am Ende bleibt eine Art "neutrale" Beobachterposition. Man sitzt gemütlich im Ohrensessel und beschaut sich die Welt. Ok, so fern mir Letzteres (Ohrensessel-Passivität) auch ist, es ist immer noch besser, als rassistisch und fremdenfeindlich motiviert durch die Straßen zu marschieren.

Im Übrigen hats die Ohrensessel-Fraktion auch schon immer gegeben. Motto: "Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleib's beim alten" (Goethe/Faust).
Neben der "Ohrensessel-Fraktion" gibts heute und aktuell aber eben noch so was wie die Gelbwesten-Fraktion. Da weiß man auch nicht bzw. die wissen selbst nicht, ob sie links oder rechts sein sollen bzw. sie wollen weder das eine noch das andere sein.

Ganz rational und nüchtern gesehen kann man in dem ziemlich zentralistisch angelegten Frankreich zu dem Schluss kommen, dass man irgendwo in der Provinz aufs Auto angewiesen und mit steigenden Benzinpreisen am Arsch ist. Und Leute in Paris unter Berufung auf Hegel von einem neuen Europa schwafeln. Und Konflikte wie dieser finden in verschiedener Form eben überal in derf Welt statt. Es wird nicht ohne einen Kompromiss gehen.

Oder sagen wir mal so: Es ist ist absolut nicht damit zu rechnen, dass sich der Konflikt zwischen Globalisten und Kommunitaristen einfach so und von allein auflösen wird. Der wird sich womöglich noch verstärken,
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Di 11. Dez 2018, 14:34, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben. Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.
Es ist immer richtig, zunächst mal die Begriffe zu hinterfragen. "Konservativ", bewahrend, ist erstmal ziemlich klar. "Progressiv", fortschreitend schon nicht mehr so ganz. "Fortschreitung" ist normalerweise nur unter halbwegs konstanten äußeren Bedingungen und innerer Systemstabilität möglich. Fortschreitung ist etwas anderes als Umordnung.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2018, 13:41)

Neben der "Ohrensessel-Fraktion" gibts heute und aktuell aber eben noch so was wie die Gelbwesten-Fraktion. Da weiß man auch nicht bzw. die wissen selbst nicht, ob sie links oder rechts sein sollen bzw. sie wollen weder das eine noch das andere sein.

Ganz rational und nüchtern gesehen kann man in dem ziemlich zentralistisch angelegten Frankreich zu dem Schluss kommen, dass man irgendwo in der Provinz aufs Auto angewiesen und mit steigenden Benzinpreisen am Arsch ist. Und Leute in Paris unter Berufung auf Hegel von einem neuen Europa schwafeln. Und Konflikte wie dieser finden in verschiedener Form eben überal in derf Welt statt. Es wird nicht ohne einen Kompromiss gehen.
Damit hast du natürlich recht. Die Gelbwesten nennen sich aus tiefster Seele "unpolitisch". Auch wenn ihre Straßenkämpfe gegen Steuer-Ungerechtigkeit, gegen "das System" und gegen Macron alles andere als wirklich unpolitisch sind. Jetzt kommt ja auch der Punkt, wo es allmählich kippt. Da könnten sich dann alle möglichen Extremisten davor spannen und den Karren irgendwohin ziehen. Mal sehen, wie es weitergeht. An demokratischen Gremien aus ihrer Mitte heraus, die dann mit der Regierung verhandeln, scheinen sie ja im Moment gar nicht interessiert zu sein. Trotzdem bleibe ich dabei (unabhängig von den Gelbwesten), die klassischen Rechts-Links-Verortungen spielen weiterhin eine Rolle, auch wenn es etwa bei Spritpreisen und anderen existenziellen Fragen mal queerbeet geht. Es gibt ja auch einen Unterschied zwischen Selbst- und Fremdverortungen. Pegida nannte sich auch lange "unpolitisch" und tut es wohl heute noch. Obwohl dieser Verein klar als rechts einzuordnen ist. Wenn nicht sogar als sehr weit rechts außen.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Bitte keine Gelbwesten, Pegida und ähnliche Figuren. Bleiben Sie einfach mal beim Thema, der Rest wird doch schon anderswo diskutiert. Danke.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

MäckIntaier hat geschrieben:(11 Dec 2018, 15:02)

Bitte keine Gelbwesten, Pegida und ähnliche Figuren. Bleiben Sie einfach mal beim Thema, der Rest wird doch schon anderswo diskutiert. Danke.
Sorry, aber Ihr "progressiver Konservatismus" ordnet sich im philosophischen und politischen Gefüge irgendwo zwischen allen diesen Polen oder Farben oder Seiten ein. Den Sachverhalt nun losgelöst von allen anderen Erscheinungen in der Gesellschaft diskutieren zu wollen, scheint mir gerade der ca­sus knack­sus zu sein. Unter den Gelbwesten sind sicher auch einige, die sich selbst "konservativ" nennen. Und das sicher nicht zu knapp. Im Übrigen ist der Begriff "progressiver Konservatismus" ein Oxymoron, wie hier ein User weiter oben richtig sagte.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Selina hat geschrieben:(11 Dec 2018, 15:16)

Sorry, aber Ihr "progressiver Konservatismus" ordnet sich im philosophischen und politischen Gefüge irgendwo zwischen allen diesen Polen oder Farben oder Seiten ein. Den Sachverhalt nun losgelöst von allen anderen Erscheinungen in der Gesellschaft diskutieren zu wollen, scheint mir gerade der ca­sus knack­sus zu sein. Unter den Gelbwesten sind sicher auch einige, die sich selbst "konservativ" nennen. Und das sicher nicht zu knapp. Im Übrigen ist der Begriff "progressiver Konservatismus" ein Oxymoron, wie hier ein User weiter oben richtig sagte.
Sagte er - aber es wurde ihm auch gesagt, warum es falsch ist. Es ist übrigens nicht "mein" Begriff, sondern Herrn Mais Begriff.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Fortschreitung also Fortschritt ist ja vor allem auch ein Werturteil, also in einer Änderung Gewinn statt rückschrittigen Verlust zu sehen.
Der Konservative glaubt im Gegensatz zum Progressiven nicht an einen linearen Fortschritt, der irgendwann in einem paradiesischen Omega endet. Er glaubt eher an geschichtliche Wellenbewegungen, an die "Wiederkehr des ewig Gleichen". Er ist kein hysterischer Interventionist. Seine Zeitpräferenz ist klein. Er kann warten und zusehen, Zuschauer, Historiker sein. Er weiß, dass jeder noch so große Koloss an seiner eigenen Schwere irgendwann wieder in seine Einzelteile zerbrechen wird. Er braucht keine Wettbewerbsbehörde. Auszuhalten, durchzuhalten, innezuhalten, das ist konservativ, sich nicht vom Lärm des Tages beeindrucken zu lassen.

Auch jemand wie Thatcher erinnert sich manchmal an das Konservative, etwa wenn sie sagt: "Es gibt keine Gesellschaft". Wenn sie ohne diese Gesellschaft darauf vertraut, dass die wirklichen Menschen wirken werden, dass die Welt ohne diese Gesellschaft nicht untergehen wird, dass im Gegenteil, ganz vernünftige Strukturen spontan entstehen werden. Konservatives Denken ist apolitisches Denken.

Versteht man unter konservativ nur bewahrend, dann löst man den Begriff auf, denn praktisch jeder will ja irgendetwas bewahren. Der eine bewahrt den Wald, der andere seine Familie, der Dritte alte DDR-Literatur, der Vierte den Sozialstaat, der Progressive das, was er als Fortschritt geschaffen hat... Ein Begriff hat aber nur in der Differenz, in der Scheidung eine Bedeutung.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(11 Dec 2018, 16:45)

Fortschreitung also Fortschritt ist ja vor allem auch ein Werturteil, also in einer Änderung Gewinn statt rückschrittigen Verlust zu sehen.
Der Konservative glaubt im Gegensatz zum Progressiven nicht an einen linearen Fortschritt, der irgendwann in einem paradiesischen Omega endet. Er glaubt eher an geschichtliche Wellenbewegungen, an die "Wiederkehr des ewig Gleichen". Er ist kein hysterischer Interventionist. Seine Zeitpräferenz ist klein. Er kann warten und zusehen, Zuschauer, Historiker sein. Er weiß, dass jeder noch so große Koloss an seiner eigenen Schwere irgendwann wieder in seine Einzelteile zerbrechen wird. Er braucht keine Wettbewerbsbehörde. Auszuhalten, durchzuhalten, innezuhalten, das ist konservativ, sich nicht vom Lärm des Tages beeindrucken zu lassen.

Auch jemand wie Thatcher erinnert sich manchmal an das Konservative, etwa wenn sie sagt: "Es gibt keine Gesellschaft". Wenn sie ohne diese Gesellschaft darauf vertraut, dass die wirklichen Menschen wirken werden, dass die Welt ohne diese Gesellschaft nicht untergehen wird, dass im Gegenteil, ganz vernünftige Strukturen spontan entstehen werden. Konservatives Denken ist apolitisches Denken.

Versteht man unter konservativ nur bewahrend, dann löst man den Begriff auf, denn praktisch jeder will ja irgendetwas bewahren. Der eine bewahrt den Wald, der andere seine Familie, der Dritte alte DDR-Literatur, der Vierte den Sozialstaat, der Progressive das, was er als Fortschritt geschaffen hat... Ein Begriff hat aber nur in der Differenz, in der Scheidung eine Bedeutung.
Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2018, 09:51)

Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
Der Neoliberalismus ist eine teleologische Geschichte wie andere Heilslehren auch, da auch er auf einen idealen Zustand der Menschheit unter den von ihm hierfür proklamierten Bedingungen ausgeht. Es hat so viele chiliastische Merkmle wie alle anderen religiösen und säkularen Ideologien auch. Und dass Thatcher oder Reagan "die Dinge geschehen lassen" haben, ist doch ein Märchen. Beide haben mit ungeheuer starken staatlichen Mitteln versucht, ihn durchzusetzen, auch mit kriegerischen Mitteln. Insofern halte ich das für einen Mythos, dass die beiden etwas geschehen ließen.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2018, 09:51)

Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
Diese "laissez faire"-Attitüde hatte noch der klassische Liberalismus. Der Neoliberale wie Neokonservative ist ein Staatsgläubiger. Du nennst es Religion, ich würde es Transzendenz nennen.
Und auch das ist nicht ganz zutreffend. Im Grunde ist es transzendental in Differenz zu transzendent (so wie es Kant unterscheidet), also die Voraussetzungen des Seins überhaupt in sich zu suchen und zu finden, a priori. In diesem Sinne: "Der Mensch weiß von Gott in dem Sinne, dass Gott im Menschen von sich selber weiß." (Hegel) Ein Wissen a priori, vor der Erfahrung. Ein Gott, der nicht außerhalb, sondern innerhalb gefunden wird. Oder die Figur des Jesus (wie sie ein Nietzsche verstanden hat) war in dem Sinne konservativ, seine frohe Botschaft: Das Reich ist da, hier und jetzt, in euch, durch euch. Diese völlige Diesseitigkeit.

Nun ist gerade der Staatsgläubige der Religiöse, der Heilsverkünder. Was ist denn der Staat? Ist der Staat real? Der Staat ist eine Vorstellung, die Handlungsweisen bewirkt, also nur als Vorstellung wirklich.
Worin besteht diese Vorstellung?

In einem anderen Thread schrieb ich dazu:

"Zwei Akteure haben ein Vertrauensproblem. Die Spieltheorie nennt es auch "Gefangenendilemma". Man kommt nicht zur für beide Seiten besten Lösung (die Taube auf dem Dach), denn jede Seite fürchtet den Defekt (Betrug, Vertragsbruch) durch die andere Seite. Durch den Defekt gewinnt nur die eine Seite und spart sich die Gegenleistung. Durch das wundersame Hinzutreten eines dritten Akteurs - der "Staat" - der auf einer höheren Ebene über den beiden anderen Aktueren schwebt, löst sich scheinbar das Problem auf. Die ursprünglichen Akteure geben dazu die Waffen an diesen Dritten ab, entwaffnen sich, geben ihre Macht ab. Und die dritte Partei wacht nun über die Einhaltung von Versprechen (Verträge etc.). Jeder Defekt wird geahndet und bestaft und erscheint dadurch weitaus weniger lukrativ. Die Taube wird vom Dach geholt. Fantastisch.

Nur hat man damit leider ein gewaltiges neues Vertrauensproblem und Defektionspotential geschaffen. Man muss nun dem Gewaltmonpolisten vertrauen, seine Macht nicht zu missbrauchen. Und dafür braucht es dann schon viel Glauben und religiösen Kult. Hymnen, Flaggen, Symbole, Oberhäupter, Vertreter, Diener, Amtskutten als Ausweis, Riten und Zeremonien, Stätten der Glaubensbekundung, Gründungsmythen ("Gesellschaftsvertrag"), heilige Texte ("Verfassungen")... die ganze Palette eines tiefgläubigen Brauchtums."

Konservatismus ist nun sicherlich nicht antiautoritär. Es geht um die Differenz zwischen Autoritätsgläubigkeit und Autoritätsbedürftigkeit. Die Autorität geht im letzteren Falle vom Bedürftigen aus, er ist kein ohnmächtig Ausgelieferter, er ist damit ein Verantwortlicher. Er erschafft sozusagen seinen Führer, so wie er ihn auch wieder abschaffen kann, wenn er nicht mehr bedürftig ist. Es ist keine Besessenheit. Der Konservative gibt sozusagen seine Waffen nicht ab, er bleibt auf der Hut.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

MäckIntaier hat geschrieben:(12 Dec 2018, 10:01)

Der Neoliberalismus ist eine teleologische Geschichte wie andere Heilslehren auch, da auch er auf einen idealen Zustand der Menschheit unter den von ihm hierfür proklamierten Bedingungen ausgeht. Es hat so viele chiliastische Merkmle wie alle anderen religiösen und säkularen Ideologien auch. Und dass Thatcher oder Reagan "die Dinge geschehen lassen" haben, ist doch ein Märchen. Beide haben mit ungeheuer starken staatlichen Mitteln versucht, ihn durchzusetzen, auch mit kriegerischen Mitteln. Insofern halte ich das für einen Mythos, dass die beiden etwas geschehen ließen.
Das wird wohl richtig sein. "Geschehen lassen" hieß wohl eher "Die machen lassen und nicht durch staatliche Eingriffe behindern, die ohnehin die Fäden in der Hand halten". Heute sind das vor allem die großen Technologie-Konzerne.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(12 Dec 2018, 13:34)
Nur hat man damit leider ein gewaltiges neues Vertrauensproblem und Defektionspotential geschaffen. Man muss nun dem Gewaltmonpolisten vertrauen, seine Macht nicht zu missbrauchen. Und dafür braucht es dann schon viel Glauben und religiösen Kult. Hymnen, Flaggen, Symbole, Oberhäupter, Vertreter, Diener, Amtskutten als Ausweis, Riten und Zeremonien, Stätten der Glaubensbekundung, Gründungsmythen ("Gesellschaftsvertrag"), heilige Texte ("Verfassungen")... die ganze Palette eines tiefgläubigen Brauchtums."
Das alles betrifft den Staat als reales Macht-Konstrukt. Der kann sich tatsächlich nur über solche Kulte halten. Über Nationalhymnen absingen und Ehrenformationen abschreiten. Und viele Menschen glauben auch nur gerne daran.

Mir ging es um die ganz abstrakte Frage, ob das Universum gegenüber dem Menschen und seinen Werten gleichgültig ist oder ob es einen der Natur innewohnenden Hang zum Nicht-Destruktiven gibt.

Bei Kierkegaard heißt es (sinngemäß) "das Dasein riecht nach nichts". Sprich: Dem Universum ist es völlig gleichgültig, ob die Saurier aussterben oder ein paar Millionen Jahre später die Menschen. Und das heißt auf der anderen Seite: Wenn den Menschen ihr eigenes Dasein irgendetwas bedeutet, müssen sie, wenn sie von einem gottlosen, gleichgültigen Universum ausgehen, irgendetwas tun. Selber Gott spielen. Dass das in den meisten Fällen schief geht, ist hinlänglich bekannt. Und Gott spielen in Form eines Staats ist wahrscheinlich die gängigste Variante dieses Spiels. Aber es nützt nix: Irgendwie muss der Mensch sich aktiv verhalten. Politisch ist das ja weniger abstrakt und philosophisch und heißt zum Beispiel: Die Macht der großen IT-Konzerne einschränken. Oder auch das Schreckensszenario eines neuen Völker- und Nationenfrühlings im 21. Jahrhundert verhindern.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2018, 08:12)

Das alles betrifft den Staat als reales Macht-Konstrukt. Der kann sich tatsächlich nur über solche Kulte halten. Über Nationalhymnen absingen und Ehrenformationen abschreiten. Und viele Menschen glauben auch nur gerne daran.

Mir ging es um die ganz abstrakte Frage, ob das Universum gegenüber dem Menschen und seinen Werten gleichgültig ist oder ob es einen der Natur innewohnenden Hang zum Nicht-Destruktiven gibt.

Bei Kierkegaard heißt es (sinngemäß) "das Dasein riecht nach nichts". Sprich: Dem Universum ist es völlig gleichgültig, ob die Saurier aussterben oder ein paar Millionen Jahre später die Menschen. Und das heißt auf der anderen Seite: Wenn den Menschen ihr eigenes Dasein irgendetwas bedeutet, müssen sie, wenn sie von einem gottlosen, gleichgültigen Universum ausgehen, irgendetwas tun. Selber Gott spielen. Dass das in den meisten Fällen schief geht, ist hinlänglich bekannt. Und Gott spielen in Form eines Staats ist wahrscheinlich die gängigste Variante dieses Spiels. Aber es nützt nix: Irgendwie muss der Mensch sich aktiv verhalten. Politisch ist das ja weniger abstrakt und philosophisch und heißt zum Beispiel: Die Macht der großen IT-Konzerne einschränken. Oder auch das Schreckensszenario eines neuen Völker- und Nationenfrühlings im 21. Jahrhundert verhindern.
Dann müsste aber gesagt werden, welcher Ordnungsfaktor bei einer Ablösung der Völker und Nationen gelten soll. Ob der Krieg nun unter Abspielung der Nationalhymne und unter wehender Fahne oder unter freier Musikwahl mit dem Logo irgendeines privaten Kriegsanbieters geführt wird, scheint vom Ergebnis her ziemlich egal. Wer Völker und Nationen überwinden möchte, erzählt eine Heilsgeschichte, die einen Menschen anstrebt, wie es ihn nie gab.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

MäckIntaier hat geschrieben:(13 Dec 2018, 08:34)

Dann müsste aber gesagt werden, welcher Ordnungsfaktor bei einer Ablösung der Völker und Nationen gelten soll. Ob der Krieg nun unter Abspielung der Nationalhymne und unter wehender Fahne oder unter freier Musikwahl mit dem Logo irgendeines privaten Kriegsanbieters geführt wird, scheint vom Ergebnis her ziemlich egal. Wer Völker und Nationen überwinden möchte, erzählt eine Heilsgeschichte, die einen Menschen anstrebt, wie es ihn nie gab.
Da kommen wir auf einen anderen Aspekt. Den ZUsammenhang zwischen diesem sogenannten "Völkerfrühling" 1848, dem "Augusterlebnis" 1918 und der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem ersten Weltrkieg.


Was heißt "einen Menschen, wie es ihn nie gab?" Die Menschen von heute haben einen direkten Freundes- und Bekanntenkreis von - je nach Untersuchung - vielleicht maximal ein paar hundert anderen Menschen. Mit denen haben sie wirklich direkte, oft existenzielle wirkliche Beziehungen. Für alle anderen gelten andere "Ordnungsfaktoren". Rechtsstaatlichkeit insbesondere. Ich rufe die Polizei, wenn mich jemand mit einer Eisenstange bedroht. Das ist der Ordnungsfaktor. Zum Autor meines augenbliklichen Lieblingsbuchs habe ich wiederum eine andere, aber keine direkt persönliche Beziehung. Und ansonsten: Natürlich ist der Mensch ein soziales Wesen. Er braucht Gemeinschaft. Was halten Sie vom Begriff "Menschenzugewandtheit"? Ich würde selbst bei dem BVG-Chaos letzten Montag um nix in der Welt auf das morgendliche Bad in der Menge in den Öffentlichen Verkehrsmitteln verzichten wollen. Und mich stattdessen in eine private Auto-Blechbüchse zwängen. Eher würde ich vielleicht auf den gewohnten Espresso auf dem Umsteigebahnhof verzichten.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2018, 11:02)

Da kommen wir auf einen anderen Aspekt. Den ZUsammenhang zwischen diesem sogenannten "Völkerfrühling" 1848, dem "Augusterlebnis" 1918 und der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem ersten Weltrkieg.


Was heißt "einen Menschen, wie es ihn nie gab?" Die Menschen von heute haben einen direkten Freundes- und Bekanntenkreis von - je nach Untersuchung - vielleicht maximal ein paar hundert anderen Menschen. Mit denen haben sie wirklich direkte, oft existenzielle wirkliche Beziehungen. Für alle anderen gelten andere "Ordnungsfaktoren". Rechtsstaatlichkeit insbesondere. Ich rufe die Polizei, wenn mich jemand mit einer Eisenstange bedroht. Das ist der Ordnungsfaktor. Zum Autor meines augenbliklichen Lieblingsbuchs habe ich wiederum eine andere, aber keine direkt persönliche Beziehung. Und ansonsten: Natürlich ist der Mensch ein soziales Wesen. Er braucht Gemeinschaft. Was halten Sie vom Begriff "Menschenzugewandtheit"? Ich würde selbst bei dem BVG-Chaos letzten Montag um nix in der Welt auf das morgendliche Bad in der Menge in den Öffentlichen Verkehrsmitteln verzichten wollen. Und mich stattdessen in eine private Auto-Blechbüchse zwängen. Eher würde ich vielleicht auf den gewohnten Espresso auf dem Umsteigebahnhof verzichten.
So ist es. Dieser schöne Begriff der "Menschenzugewandtheit" und wie er sich tagtäglich im Alltag zeigt, ist sowieso das Wichtigste. Mir scheint auch genau diese Menschenzugewandtheit in der gesamten philosophischen Debatte hier im Thread bislang zu fehlen. Das klingt zuweilen alles sehr abgehoben, weltfremd, metaphysisch und religiös. Was aber soll eine Religiosität ohne den Menschen sein? Was soll eine Frage nach Sinn und Sein und Bewusstsein und deren Koordinaten in Raum und Zeit, wenn es dabei niemals um den Menschen geht? Sollte sich nicht jegliche Philosophie zuerst um den Menschen und seinen Platz in der Welt und im Denken drehen? Sollte es nicht bei allen Versuchen, die Welt (und was sie "im Innersten zusammenhält") zu erklären, zuerst um den Menschen gehen?

Und was dieses so genannte "Überwindenwollen von Völkern und Nationen" anbelangt, da kann ich die Sehnsucht einiger, diese unbedingt zu erhalten, schon verstehen. Man fürchtet sich halt vor dieser universellen Weite ohne scheinbare Anker-Punkte. Obgleich Volk und Nation ja sowieso nur reine Verstandes-und-Gefühls-Konstrukte sind. Denn in einer Zukunft, die mehr oder weniger weit entfernt ist, gibt es den klassischen Deutschen oder den klassischen Franzosen nicht mehr (falls es sie überhaupt je gab). Den klassischen Amerikaner hat es in diesem Vielvölker-Gebilde mit seinen unterschiedlichen Wurzeln ja sowieso noch nie gegeben. Geben wird es aber noch eine ganze Weile... den Menschen. Falls er nicht im Atomkrieg oder in der Klimakatastrophe untergeht. Und mit diesem sollten wir pfleglich und mitmenschlich umgehen. Zugewandt eben.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

Selina hat geschrieben:(13 Dec 2018, 12:19)

So ist es. Dieser schöne Begriff der "Menschenzugewandtheit" und wie er sich tagtäglich im Alltag zeigt, ist sowieso das Wichtigste. Mir scheint auch genau diese Menschenzugewandtheit in der gesamten philosophischen Debatte hier im Thread bislang zu fehlen. Das klingt zuweilen alles sehr abgehoben, weltfremd, metaphysisch und religiös. Was aber soll eine Religiosität ohne den Menschen sein? Was soll eine Frage nach Sinn und Sein und Bewusstsein und deren Koordinaten in Raum und Zeit, wenn es dabei niemals um den Menschen geht? Sollte sich nicht jegliche Philosophie zuerst um den Menschen und seinen Platz in der Welt und im Denken drehen? Sollte es nicht bei allen Versuchen, die Welt (und was sie "im Innersten zusammenhält") zu erklären, zuerst um den Menschen gehen?

Und was dieses so genannte "Überwindenwollen von Völkern und Nationen" anbelangt, da kann ich die Sehnsucht einiger, diese unbedingt zu erhalten, schon verstehen. Man fürchtet sich halt vor dieser universellen Weite ohne scheinbare Anker-Punkte. Obgleich Volk und Nation ja sowieso nur reine Verstandes-und-Gefühls-Konstrukte sind. Denn in einer Zukunft, die mehr oder weniger weit entfernt ist, gibt es den klassischen Deutschen oder den klassischen Franzosen nicht mehr (falls es sie überhaupt je gab). Den klassischen Amerikaner hat es in diesem Vielvölker-Gebilde mit seinen unterschiedlichen Wurzeln ja sowieso noch nie gegeben. Geben wird es aber noch eine ganze Weile... den Menschen. Falls er nicht im Atomkrieg oder in der Klimakatastrophe untergeht. Und mit diesem sollten wir pfleglich und mitmenschlich umgehen. Zugewandt eben.
Kann die da weitgehend zustimmen ich halte den.klassischen Nationalstaat ohnehin für ein politisches Auslaufmodell ja Nationen.und Nationalstaat überwinden dass sehe ich auch so. Der Amerikaner? Der Franzose? Der Deutsche? Was soll dass sein? Die USA z,b..aber auch China.Russland sind wenn man es ethnologisch betrachte keine homogenen Nationen von.daher trifft die NATION.eine homogene Einheit auf solche Staaten kaum zu Was dann immer kommt ist kitschiger Patriotismus mit dem ich mal.so gar nichts anfangen kann.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2018, 11:02)

Da kommen wir auf einen anderen Aspekt. Den ZUsammenhang zwischen diesem sogenannten "Völkerfrühling" 1848, dem "Augusterlebnis" 1918 und der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem ersten Weltrkieg.


Was heißt "einen Menschen, wie es ihn nie gab?" Die Menschen von heute haben einen direkten Freundes- und Bekanntenkreis von - je nach Untersuchung - vielleicht maximal ein paar hundert anderen Menschen. Mit denen haben sie wirklich direkte, oft existenzielle wirkliche Beziehungen. Für alle anderen gelten andere "Ordnungsfaktoren". Rechtsstaatlichkeit insbesondere. Ich rufe die Polizei, wenn mich jemand mit einer Eisenstange bedroht. Das ist der Ordnungsfaktor. Zum Autor meines augenbliklichen Lieblingsbuchs habe ich wiederum eine andere, aber keine direkt persönliche Beziehung. Und ansonsten: Natürlich ist der Mensch ein soziales Wesen. Er braucht Gemeinschaft. Was halten Sie vom Begriff "Menschenzugewandtheit"? Ich würde selbst bei dem BVG-Chaos letzten Montag um nix in der Welt auf das morgendliche Bad in der Menge in den Öffentlichen Verkehrsmitteln verzichten wollen. Und mich stattdessen in eine private Auto-Blechbüchse zwängen. Eher würde ich vielleicht auf den gewohnten Espresso auf dem Umsteigebahnhof verzichten.
Die Menschenzugwandtheit muss man nicht zu seiner persönlichen Sache machen - manchem liegt Menschenabgewandtheit nicht nur philosophisch gesehen näher. Man kommt außerhalb seiner normalen Beziehungen auch ohne den Rest ganz gut zurecht, und würde man diesen oder jenen fragen, ob er im Falle der Verbannung auf eine einsame Insel für ein Jahr lieber drei Bücher seiner Wahl oder einen menschlichen Begleiter fremder Wahl dabei hätte, würde er vielleicht doch lieber die Bücher nehmen.
Die existenziell wichtigen Beziehungen sind doch völlig unstrittig - aber der Raum, in dem sie stattfinden, ist eben größer, und jeder trägt diese in solchen Räumen entstehenden Abhängigkeiten in sich. Sprache, Werte, Normen, Sitten, Moralen sind größer als der Umkreis, in dem der Einzelne sich bewusst und den Mitgliedern seiner Gruppe zugewandt bewege. Kierkegaards Wahl oder Sprung findet nicht in einem Vakuum aus dem Nichts herabschwebender Möglichkeiten statt. Auch der hartleibige und ziemlich kompromisslose Individualist MäckIntaier muss die Abhängigkeiten, die aus einem wie auch immer gearteten größeren Ganzen kommen, akzeptieren und richtet sich dementsprechend an ihnen aus. Man kann sich nur von dem abgrenzen, was ist und was man verstanden hat. Dass dieses größere Ganze institutionell als Nationalstaat organisiert ist, ist eine kontigente Sache und hat, wie alle Sachen, keine Ewigkeit. Aber wer die Ordnung dieser Institution auflösen will, muss sagen, was danach kommt und wie konkret er es ins Werk setzen will.

Politisch gesehen wäre ein freundlicher Konservatismus, der sich an kommunitaristischen Prinzipien wie sie Taylor, Walzer oder Rosa vertreten, sicher ein Gewinn, weil er den Einzelnen in seinem konkreten Umfeld stärken und dafür sorgen würde, dass der Staat sich nicht als Supernanny in alle Belange der Lebensführung einmischt. Daher hat Mai in seinem Feuilleton auch zurecht die Abgrenzung von den Grünen gesetzt, denn die fürchten sich ja vor nichts mehr als dem, was sie immer auf den Lippen führen: Vielfalt. Und gerade die Grünen stehen ja für ein Prinzip der dauernden Menschenzugewandtheit, aus dem man sich wie früher auf dem Schulhof aus dem Würgegriff der Großen rauswinden muss. Ein Konservatismus, der den Menschen nimmt, wie er ist, ihn nicht permenent verbessern will und sich von den zahlreichen religiösen und säkularen Überhöhungen des Trockennasenaffen verabschiedet, wäre sicher nicht das Schlechteste, was diesem Land passieren könnte. Denn er räumte ihm, dem einzelnen Trockennasenaffen, die Chance ein, die Freiheit, aufzubrechen wohin er will, auch tatsächlich zu verstehen.
Zuletzt geändert von Stoner am Do 13. Dez 2018, 18:26, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Alpha Centauri hat geschrieben:(13 Dec 2018, 13:00)

Kann die da weitgehend zustimmen ich halte den.klassischen Nationalstaat ohnehin für ein politisches Auslaufmodell ja Nationen.und Nationalstaat überwinden dass sehe ich auch so. Der Amerikaner? Der Franzose? Der Deutsche? Was soll dass sein? Die USA z,b..aber auch China.Russland sind wenn man es ethnologisch betrachte keine homogenen Nationen von.daher trifft die NATION.eine homogene Einheit auf solche Staaten kaum zu Was dann immer kommt ist kitschiger Patriotismus mit dem ich mal.so gar nichts anfangen kann.
Sie sitzen eben in der Falle der Nationalisten, die irgendwann angefangen hatten, den Nationalstaat plötzlich ethnisch zu interpretieren, statt ihn als einen funktionalen Ordnungsfaktor zu begreifen.
Dass er sich auflösen wird, daran hege ich persönlich keine Zweifel. Aber "Einheiten" mit 500 Millionen Bürger werden keine Demokratien sein. Alles andere ist m.E. illusionär.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2018, 08:12)

Das alles betrifft den Staat als reales Macht-Konstrukt. Der kann sich tatsächlich nur über solche Kulte halten. Über Nationalhymnen absingen und Ehrenformationen abschreiten. Und viele Menschen glauben auch nur gerne daran.

Mir ging es um die ganz abstrakte Frage, ob das Universum gegenüber dem Menschen und seinen Werten gleichgültig ist oder ob es einen der Natur innewohnenden Hang zum Nicht-Destruktiven gibt.

Bei Kierkegaard heißt es (sinngemäß) "das Dasein riecht nach nichts". Sprich: Dem Universum ist es völlig gleichgültig, ob die Saurier aussterben oder ein paar Millionen Jahre später die Menschen. Und das heißt auf der anderen Seite: Wenn den Menschen ihr eigenes Dasein irgendetwas bedeutet, müssen sie, wenn sie von einem gottlosen, gleichgültigen Universum ausgehen, irgendetwas tun. Selber Gott spielen. Dass das in den meisten Fällen schief geht, ist hinlänglich bekannt. Und Gott spielen in Form eines Staats ist wahrscheinlich die gängigste Variante dieses Spiels. Aber es nützt nix: Irgendwie muss der Mensch sich aktiv verhalten. Politisch ist das ja weniger abstrakt und philosophisch und heißt zum Beispiel: Die Macht der großen IT-Konzerne einschränken. Oder auch das Schreckensszenario eines neuen Völker- und Nationenfrühlings im 21. Jahrhundert verhindern.
Die Differenz liegt woanders.
Hegel hatte ich ja zitiert. In diesem Zitat drückt sich letztlich eine pantheistische Vorstellung aus.
Die Frage ist dabei, wo man "Gott" oder den "Staat" oder die "Kirche" oder Vergleichbares verortet.
Pan-theismus (analog: Pan-archie) bedeutet: Gott ist überall und alle Zeit. Gott ist sicherlich nicht gleichgültig. Dazu befrage man sich selbst, schaue in sich selbst. Wenn Gott überall ist, dann ist er auch dort. Und dort, in sich selbst, wird man selten Gleichgültigkeit vorfinden, nicht in den entscheidenen Fragen, sonst könnte man sie nicht entscheiden, wenn alles gleich gültig oder gleich wert wäre.
Das ist auch ein Unterschied: Der Progressive betont die Gleichheit, fordert das gleiche Recht, behauptet den gleichen Wert, fantasiert das allgemeine Interesse. Der Konservative hebt den unvermeidlichen Unterschied vor.


Wie gesagt, der Unterschied liegt darin: Entweder das Ganze planen und gestalten zu wollen (taxis). Oder es spontan entstehen oder geschehen zu lassen (kosmos). Bei der einen Vorstellung ist Gott exogen, ein außenstehender Schöpfer, ein Eingreifender, ein Erziehender, Strafender, kurz: ein Künstlichkeit. In der anderen Vorstellung ist Gott zerstreut, fragmentiert, ringt mit sich selbst, steht sich selbst in einer Vielheit und Verschiedenheit gegenüber, in einer immer zu engen Welt, in der nicht jeder Aspekt umgesetzt werden kann. Der Konservative hat ein Gespür für diese grundsätzlichen Kosten, für diesen Zielkonflikt, dass man also oft das eine für das andere aufgeben muss. Der Progressive sagt: Lasst uns einfach frisches Geld drucken, alles ist möglich.

Nehmen wir noch als Beispiel der Klimafrage: Für den Progressiven ist alles klar. Es gibt nur einen Weg, eine Lösung, die der ganzen Welt letztlich zu oktroyieren ist. Er ist im ständigen Alarmmodus. Wir müssen etwas tun! Wir! Nicht einige, ein Teil, sondern alle ausnahmslos dasselbe. Vor allem die anderen, die eigentlich etwas anderes wollen, die versperren den Weg zum Fortschritt. Andererseits kann man auch darauf hinweisen, dass irgendeine Änderung im Klima verschiedenste Interessen berührt, dass es Gewinner und Verlierer so oder so geben wird und keine reine "Lösung" existiert, auch kein "Allgemeininteresse", keine Allgemeinheit.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Der gute Herr Klaus-Rüdiger Mai, dessen "Plädoyer für einen progressiven Konservatismus" hier so begeistert diskutiert wird, steht den Leuten ziemlich nahe, die die "Gemeinsame Erklärung 2018" von Lengsfeld und Broder unterzeichnet haben. Er selbst hat da nicht unterschrieben, aber die Gedanken dieser Erklärung sind ihm schon sehr nahe. Siehe die Tellkamp-Suhrkamp-Geschichte. Auch wenn es die Erstunterzeichner natürlich vehement bestreiten: Sie stehen ganz klar auf Seiten der Neuen Rechten im Schulterschluss mit solchen "Experten" wie Sarrazin und Kubitschek.

Zitat

Die Gemeinsame Erklärung 2018 ist ein am 15. März 2018 veröffentlichter Aufruf deutscher Autoren, Publizisten, Künstler und Wissenschaftler, der sich gegen eine „Beschädigung Deutschlands“ durch eine „illegale Masseneinwanderung“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015 richtet.

Erstunterzeichner waren unter anderen:

Herbert Ammon
Jörg Bernig
Frank Böckelmann
Henryk M. Broder
Egon Flaig
Jörg Friedrich
Ulrich Fröschle
Frank W. Haubold
Sebastian Hennig
Eva Herman
Thorsten Hinz
Klaus Kelle
Till Kinzel
Michael Klonovsky
Vera Lengsfeld
Andreas Lombard
Matthias Matussek
Max Otte
Thilo Sarrazin
Ulrich Schacht
Heimo Schwilk
Dieter Stein
Uwe Steimle[6]
Cora Stephan (ließ sich wieder streichen)[6]
Uwe Tellkamp
Karlheinz Weißmann
Alexander Wendt

Später unterschrieben u. a. der Politikwissenschaftler Bassam Tibi,[7] der Autor Alexander Grau[8] und der Psychologe Hans-Joachim Maaz[9] die Erklärung. Hinzu kamen Akteure der Neuen Rechten wie Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld-Lethen.[10]


https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsam ... 4rung_2018

Und nicht nur das. Auch als Gastautor der rechtspopulistischen (sich selbst natürlich konservativ und liberal nennenden) Achse des Guten tritt Herr Mai in Erscheinung. All das sagt viel über die Ernsthaftigkeit und Glaubhaftigkeit dieses hier viel gelobten "progressiven Konservatismus" aus.
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von imp »

Selina hat geschrieben:(14 Dec 2018, 11:37)

Der gute Herr Klaus-Rüdiger Mai, dessen "Plädoyer für einen progressiven Konservatismus" hier so begeistert diskutiert wird, steht den Leuten ziemlich nahe, die die "Gemeinsame Erklärung 2018" von Lengsfeld und Broder unterzeichnet haben. Er selbst hat da nicht unterschrieben, aber die Gedanken dieser Erklärung sind ihm schon sehr nahe. Siehe die Tellkamp-Suhrkamp-Geschichte. Auch wenn es die Erstunterzeichner natürlich vehement bestreiten: Sie stehen ganz klar auf Seiten der Neuen Rechten im Schulterschluss mit solchen "Experten" wie Sarrazin und Kubitschek.

Zitat

Die Gemeinsame Erklärung 2018 ist ein am 15. März 2018 veröffentlichter Aufruf deutscher Autoren, Publizisten, Künstler und Wissenschaftler, der sich gegen eine „Beschädigung Deutschlands“ durch eine „illegale Masseneinwanderung“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015 richtet.

Erstunterzeichner waren unter anderen:

Herbert Ammon
Jörg Bernig
Frank Böckelmann
Henryk M. Broder
Egon Flaig
Jörg Friedrich
Ulrich Fröschle
Frank W. Haubold
Sebastian Hennig
Eva Herman
Thorsten Hinz
Klaus Kelle
Till Kinzel
Michael Klonovsky
Vera Lengsfeld
Andreas Lombard
Matthias Matussek
Max Otte
Thilo Sarrazin
Ulrich Schacht
Heimo Schwilk
Dieter Stein
Uwe Steimle[6]
Cora Stephan (ließ sich wieder streichen)[6]
Uwe Tellkamp
Karlheinz Weißmann
Alexander Wendt

Später unterschrieben u. a. der Politikwissenschaftler Bassam Tibi,[7] der Autor Alexander Grau[8] und der Psychologe Hans-Joachim Maaz[9] die Erklärung. Hinzu kamen Akteure der Neuen Rechten wie Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld-Lethen.[10]


https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsam ... 4rung_2018

Und nicht nur das. Auch als Gastautor der rechtspopulistischen (sich selbst natürlich konservativ und liberal nennenden) Achse des Guten tritt Herr Mai in Erscheinung. All das sagt viel über die Ernsthaftigkeit und Glaubhaftigkeit dieses hier viel gelobten "progressiven Konservatismus".
Bei Uwe Steimle sollte man differenzieren. Klonovsky ist AfD-Angestellter, Herman arbeitet für einen rechtsradikalen Verlag, Sarrazin kennt man ja. Broder betreibt einen Hetzblog, Lengsfeld machte Auftritte mit AfD-Chefin Petry. Dieses Gerede "Deutschland kann nicht die Welt retten" - als sei das der Versuch jemals gewesen - ist die Phraseologie aus den Scharnier-Magazinen, die man schon lange kennt.
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schokoschendrezki
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Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(13 Dec 2018, 16:32)

Die Differenz liegt woanders.
Hegel hatte ich ja zitiert. In diesem Zitat drückt sich letztlich eine pantheistische Vorstellung aus.
Die Frage ist dabei, wo man "Gott" oder den "Staat" oder die "Kirche" oder Vergleichbares verortet.
Pan-theismus (analog: Pan-archie) bedeutet: Gott ist überall und alle Zeit. Gott ist sicherlich nicht gleichgültig. Dazu befrage man sich selbst, schaue in sich selbst. Wenn Gott überall ist, dann ist er auch dort. Und dort, in sich selbst, wird man selten Gleichgültigkeit vorfinden, nicht in den entscheidenen Fragen, sonst könnte man sie nicht entscheiden, wenn alles gleich gültig oder gleich wert wäre.
Das ist auch ein Unterschied: Der Progressive betont die Gleichheit, fordert das gleiche Recht, behauptet den gleichen Wert, fantasiert das allgemeine Interesse. Der Konservative hebt den unvermeidlichen Unterschied vor.


Wie gesagt, der Unterschied liegt darin: Entweder das Ganze planen und gestalten zu wollen (taxis). Oder es spontan entstehen oder geschehen zu lassen (kosmos). Bei der einen Vorstellung ist Gott exogen, ein außenstehender Schöpfer, ein Eingreifender, ein Erziehender, Strafender, kurz: ein Künstlichkeit. In der anderen Vorstellung ist Gott zerstreut, fragmentiert, ringt mit sich selbst, steht sich selbst in einer Vielheit und Verschiedenheit gegenüber, in einer immer zu engen Welt, in der nicht jeder Aspekt umgesetzt werden kann. Der Konservative hat ein Gespür für diese grundsätzlichen Kosten, für diesen Zielkonflikt, dass man also oft das eine für das andere aufgeben muss. Der Progressive sagt: Lasst uns einfach frisches Geld drucken, alles ist möglich.

Nehmen wir noch als Beispiel der Klimafrage: Für den Progressiven ist alles klar. Es gibt nur einen Weg, eine Lösung, die der ganzen Welt letztlich zu oktroyieren ist. Er ist im ständigen Alarmmodus. Wir müssen etwas tun! Wir! Nicht einige, ein Teil, sondern alle ausnahmslos dasselbe. Vor allem die anderen, die eigentlich etwas anderes wollen, die versperren den Weg zum Fortschritt. Andererseits kann man auch darauf hinweisen, dass irgendeine Änderung im Klima verschiedenste Interessen berührt, dass es Gewinner und Verlierer so oder so geben wird und keine reine "Lösung" existiert, auch kein "Allgemeininteresse", keine Allgemeinheit.
Es gab in den letzten 30, 40 Jahren sowohl in Kultur wie in Politik, Wissenschaft, Technologie bedeutsame Umbrüche, was diese Vorstellung von streng top-down durchsetzbaren Paradigmen betrifft. Das Konzept strukturierter Prpgrammierung wurde von objektorientierten (und weiteren) Konzepten abgelöst. In der Popmusik haben sich - entgegen verbreiteter Annahmen in den 80ern - eben doch unabhängige Labels und Kleinherausgeber gehalten. Es gibt keine Totalbeherrschung durch Superstars wie Madonna oder Michael Jackson. Anything goes. In der Biologie haben sich Vernetzungskonzepte anstelle von Maschinenmodellen durchgesetzt. Die Physik hat die Vorstellung einer vollständig deterministischen Welt ohnehin schon lange hinter sich gelassen. Ich meine zumindest zu ahnen, was diese Skepsis gegenüber Staatlichkeit auslöst. Aber "Handeln wollen" heißt noch lange nicht, zu glauben, dass man irgendwie deterministisch und von oben herab gesamtgesellschaftliche Prozesse in Gang setzen kann.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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