Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

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schokoschendrezki
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

gugel hat geschrieben:(08 Jan 2019, 11:13)

Und wo ist also das Problem ?
Ich persönlich jedenfalls habe mit dem Nationalstaat als politisches Konstrukt und STaatsform überhaupt kein Problem. Er ist das vernünftige Gefäß für den Rechtsstaat, für öffentliche EInrichtungen wie Bildung, Verkehr, Gesundheit und macht Demokratie überhaupt erst praktisch handhabbar. Wohl aber mit jeder Art von kultureller Aufwertung und Überhöhung des Nationalstaats. Vor allem jedoch mit den aktuellen sehr unguten politischen Entwicklungen, bei denen diese Überhöhungen schrittweise zu einem Teil der Staatsideologie gemacht werden und - wie man deutlichst an zahlreichen Beispielen sehen kann - zu einer schleichenden Entdemokratisierung führen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Dark Angel
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 10:19)

Es ist aber in einer Diskussion viel solider, von sich selbst auszugehen. Gerade bei besonders brisanten Themen. Dieses "ich, ich, ich", das du hier monierst, ist gerade das, was bei dir immer fehlt. Du gibst eigene Erkenntnisse als allgemeingültig, "wissenschaftlich" und nicht zu hinterfragen aus. Das ist unsolide. Sprich von dir selbst und sag ab und zu mal "ich glaube, dass das so und so ist" und "ich vermute...." oder "meiner Meinung nach" oder "ich habe die und die Erfahrung gemacht"... und frag andere, wie sie den Sachverhalt sehen. Du bist aber nicht der heilige Verkünder. Du bist ein Mitdiskutant. Was die deutsche Sprache anbelangt und ihre vielen verschiedenen Wortbedeutungen, oft mehrere für ein Wort, da bin ich sattelfest genug. Keine Sorge. Du solltest auch ein wenig den Wut-Faktor aus deiner "Argumentation" rausnehmen. Solche Fragen wie "kriegst du das in deinen Schädel rein?", das fragt man einfach keinen Gesprächspartner. Hat was mit Sitte und Anstand zu tun.
Tut mir leid, aber meine persönlichen Erfahrungen sind gesamtgesellschaftliche Prozesse betreffend, vollkommen irrelevant, nicht repräsentativ - sind nur hohles Geschwätz. Darauf verzichte ich.
Wenn es allerdings um ganz spezielle (verallgemeinerungsfähige) Kenntnisse und Erkenntnisse bezüglich gesamtgesellschaftlicher Prozesse, insbesondere historisch gewachsener Prozesse geht, kann NICHT auf irgendwelche persönlichen Erfahrungen zurückgegriffen werden, dann zählt u.a. Fachwissen. Dieses erwirbt man a) indem man in dem entsprechenden Fachgebiet arbeitet oder b) indem man sich dieses Wissen verschafft - dazu eignen sich Fachbücher und gute bis sehr gute Sachbücher oder auch entsprechende Fachartikel im Internet.

Und was das Hinterfragen angeht - das ist ganz normale wissenschaftliche Methode - Aussagen/Hypthesen/Theorien (kurz Erklärungen) müssen nachvollziehbar, in sich widerspruchsfrei, in und an der Realität überprüfbar und falsifizierbar sein.
Weiterhin gilt Erklärungen sind hinreichend genau und zeitkernig gültig (so lange gültig bis sie widerlegt werden).

Irgendetwas hinterfragen, nur um des Hinterfragens willen bringt gar nichts, niente, nothing, nitschewo, sondern führt nur zu endlosen Relativierungen ==> allen Aussagen/Erklärungen kommt der gleiche "Wahrheitsgehalt" zu, sie sind als gleichberechtigt zu betrachten. Genau das ist deine Herangehensweise, jedoch NICHT meine.
Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 10:19)]Das geht so verbal: "Was meinst du zu dem Sachverhalt?" So geht Kommunikation. Was du machst, ist das Kundtun von irgendwelchen Wahrheiten, die du mal gelesen hast.
So mag Kaffekränzchenkommunikation funktionieren, aber keine Diskussion. Bei Diskussion hingegen geht es um die argumentaive Erörterung und Untersuchung eines Themas. Es geht um inhaltliche Prüfung der vorgebrachten Argumente.
Hat mit "Wahrheiten verkünden" rein gar nichts zu tun, sondern mit inhaltlicher Widerlegung oder Bestätigung vorgebrachter Argumente
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Selina
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(08 Jan 2019, 12:58)

Tut mir leid, aber meine persönlichen Erfahrungen sind gesamtgesellschaftliche Prozesse betreffend, vollkommen irrelevant, nicht repräsentativ - sind nur hohles Geschwätz. Darauf verzichte ich.
Wenn es allerdings um ganz spezielle (verallgemeinerungsfähige) Kenntnisse und Erkenntnisse bezüglich gesamtgesellschaftlicher Prozesse, insbesondere historisch gewachsener Prozesse geht, kann NICHT auf irgendwelche persönlichen Erfahrungen zurückgegriffen werden, dann zählt u.a. Fachwissen. Dieses erwirbt man a) indem man in dem entsprechenden Fachgebiet arbeitet oder b) indem man sich dieses Wissen verschafft - dazu eignen sich Fachbücher und gute bis sehr gute Sachbücher oder auch entsprechende Fachartikel im Internet.

Und was das Hinterfragen angeht - das ist ganz normale wissenschaftliche Methode - Aussagen/Hypthesen/Theorien (kurz Erklärungen) müssen nachvollziehbar, in sich widerspruchsfrei, in und an der Realität überprüfbar und falsifizierbar sein.
Weiterhin gilt Erklärungen sind hinreichend genau und zeitkernig gültig (so lange gültig bis sie widerlegt werden).

Irgendetwas hinterfragen, nur um des Hinterfragens willen bringt gar nichts, niente, nothing, nitschewo, sondern führt nur zu endlosen Relativierungen ==> allen Aussagen/Erklärungen kommt der gleiche "Wahrheitsgehalt" zu, sie sind als gleichberechtigt zu betrachten. Genau das ist deine Herangehensweise, jedoch NICHT meine.


So mag Kaffekränzchenkommunikation funktionieren, aber keine Diskussion. Bei Diskussion hingegen geht es um die argumentaive Erörterung und Untersuchung eines Themas. Es geht um inhaltliche Prüfung der vorgebrachten Argumente.
Hat mit "Wahrheiten verkünden" rein gar nichts zu tun, sondern mit inhaltlicher Widerlegung oder Bestätigung vorgebrachter Argumente
Es geht um beides: Wissen und Meinung. Wissen ist trotz aller Faktentreue immer auch geprägt durch subjektiv unterschiedliche Art und Weise der Aneignung und Verarbeitung der Fakten. Zum besseren Verständnis: Alleine die Reihenfolge auf einer Prioritätenliste (zu den verschiedensten Themen) sagt viel über denjenigen aus, der sie aufstellt. Ein anderer würde ganz andere Prioritäten setzen. Das ist gar keine Negativ-Wertung; das ist einfach so. Und Meinung ist Meinung.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

H2O hat geschrieben:(08 Jan 2019, 11:09)

@ gugel:



Das ist doch nicht so! Die EU als Gemeinschaftskonstrukt widerspricht ganz offenbar den Normen, die von DA und Ihnen als bewährt und richtig vertreten werden. Ganz einfach schon deshalb, weil der Volkswille nicht ausgedrückt werden kann, wie das in einem Nationalstaat möglich ist.
Von welchen Normen sprichst du?
Ich sprach von Aufgaben die ein Staat/Nationalstaat zu erfüllen hat, sprach von demokratischer Legitimation.
H2O hat geschrieben:(08 Jan 2019, 11:09)
Das lasse ich so nicht gelten; tatsächlich versucht die EU etwas bisher nicht Dagewesenes: Den freiwilligen Verzicht auf Teile der staatlichen Hoheitsrechte durch Übergang auf die Gemeinschaft, die sich dazu geeignete Organe schafft. Die beteiligten Staaten führen weiter demokratische Wahlen durch für ein zu Entscheidungen vom Volk beauftragten Organ, den Parlamenten und Regierungen. Die haben nun ihrerseits die Möglichkeit, auf Gemeinschaftsebene Beschlüsse zu fassen, in inzwischen seltenen Fällen mit Veto, meist aber mit "qualifizierter Mehrheit.
Welche freiwillige Abgabe von Souveränitätsrechten, welcher "freiwillige Verzicht" auf Souveränitätsrechte?
Wo kann ich etwas über diesen angeblichen "freiwilligen Verzicht" nachlesen?
Wer hat denn "freiwillig verzichtet"?
Ich kann mich nicht erinnern, dass es eine demokratische Legitimation - in irgendeiner Art und Weise - gab, bei/in der vom "freiwilligen Verzicht" auf Souveränitätsrechte die Rede ist bzw solcher festgeschrieben wurde.
Nebenbei - wie Jürgen Rüttgers in seinem Buch "Mehr Demokratie in Europa" schreibt und beschreibt, hapert es in der EU ja gerade am wichtigsten Instrument einer Demokratie - der Gewaltenteilung. Die EU-Kommission ist NICHT demokratisch legitimiert UND sie vereint Exekutive und Legislative in sich.
H2O hat geschrieben:(08 Jan 2019, 11:09)Neben dieses Beschlußorgan EU-Ministerrat ist das von allen Völkern der Gemeinschaft gewählte EU-Parlament getreten, wo Fragen von gemeinsamem Interesse verhandelt werden.
Dumm nur, dass das EU-Parlament keine Beschlüsse fasst, sondern nur die Beschlüsse der EU-Kommission absegnet.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Jan 2019, 12:45)

Es hat nix mit kultureller Identität sondern Information und der Möglichkeit zu tun, darüber in Büchern zu lesen oder über andere neue Medien sich darüber zu informieren. Man wird sich natürlich auch sein Urteil darüber bilden. Ich persönlich halte die Grundidee dieser Rechtskodifizierungen für überaus klug und nützlich. Und wie in meinem Beitrag oben zu lesen war, ist das auch einer der Gründe für mein positives Verhältnis zur EU. Jedenfalls zu den Grundideen der EU.
Remember: Kultur ist ein Erklärungsmodell für gesellschaftliche und historisch gewachsene Prozesse!
Europäische/westliche Kultur IST solch ein Erklärungsmodell - es erklärt den historisch gewachsenen Prozess, in dem sich die Eigenschaften/Eigenheiten und Merkmale unserer Kultur herausbildeten und entwickelten. Menschen sind IN diesen Prozess eingebunden, werden IN diesem Prozess (dieser Kultur) sozialisiert UND geprägt. Sie identifzieren sich MIT dieser Kultur. ==> kulturelle Identität!
Der historisch gewachsene Prozess, der zur Herausbildung und Entwicklung der (besonderen) Merkmale und Eigenschaften unserer (europäischen/westlichen) Kultur geführt hat und immer noch führt beginnt in der griechisch-römischen Antike und damit IST der "Corpus iuris civilis" Teil dieses historisch gewachsenen Prozesses IST Teil der Sozialisation der Menschen und IST Teil ihrer kulturellen Identität!

Was du wofür hälst, ist in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant. Tatsache IST (und bleibt) der "Corpus iuris civilis" IST die Grundlage/Basis unseres modernen Rechtssystems!
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 13:28)

Es geht um beides: Wissen und Meinung. Wissen ist trotz aller Faktentreue immer auch geprägt durch subjektiv unterschiedliche Art und Weise der Aneignung und Verarbeitung der Fakten. Zum besseren Verständnis: Alleine die Reihenfolge auf einer Prioritätenliste (zu den verschiedensten Themen) sagt viel über denjenigen aus, der sie aufstellt. Ein anderer würde ganz andere Prioritäten setzen. Das ist gar keine Negativ-Wertung; das ist einfach so. Und Meinung ist Meinung.
Ja und? Meine ganz persönlichen Erfahrungen stehen in "meiner" Prioritätenliste ganz weit hinten, weil nicht verallgemeinerbar und nicht repräsentativ, Fachwissen, Erkenntnisse aus anderen (wissenschaftlichen NICHT ideologischen) Fachbereichen hingegen rangieren viel weiter vorn.
Und, was sagt das jetzt aus?
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von gugel »

Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 13:28)

Es geht um beides: Wissen und Meinung. Wissen ist trotz aller Faktentreue immer auch geprägt durch subjektiv unterschiedliche Art und Weise der Aneignung und Verarbeitung der Fakten. Zum besseren Verständnis: Alleine die Reihenfolge auf einer Prioritätenliste (zu den verschiedensten Themen) sagt viel über denjenigen aus, der sie aufstellt. Ein anderer würde ganz andere Prioritäten setzen. Das ist gar keine Negativ-Wertung; das ist einfach so. Und Meinung ist Meinung.
Nein. Wenn ich etwas weiß, brauche ich nichts zu meinen.

Im Strukturbeispiel oben, wenn ich weiß, das eine Veränderung einer Struktur keinen Vorteil für das bereits Strukturierte bringt, dann muss ich nicht meinem, nur weil es demjenigen, der Veränderung anstrebt , seine Vorstellung als tragbar durchgehen zu lassen, damit er sich wohler fühlt.

So gehen Prozesse . Im politisch bestimmten gesellschaftlichen Bereich bestimmt nicht nach Wohlfühleffekt, Rosinenpicken und Lamento.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(08 Jan 2019, 14:16)

Remember: Kultur ist ein Erklärungsmodell für gesellschaftliche und historisch gewachsene Prozesse!
Europäische/westliche Kultur IST solch ein Erklärungsmodell - es erklärt den historisch gewachsenen Prozess, in dem sich die Eigenschaften/Eigenheiten und Merkmale unserer Kultur herausbildeten und entwickelten. Menschen sind IN diesen Prozess eingebunden, werden IN diesem Prozess (dieser Kultur) sozialisiert UND geprägt. Sie identifzieren sich MIT dieser Kultur. ==> kulturelle Identität!
Der historisch gewachsene Prozess, der zur Herausbildung und Entwicklung der (besonderen) Merkmale und Eigenschaften unserer (europäischen/westlichen) Kultur geführt hat und immer noch führt beginnt in der griechisch-römischen Antike und damit IST der "Corpus iuris civilis" Teil dieses historisch gewachsenen Prozesses IST Teil der Sozialisation der Menschen und IST Teil ihrer kulturellen Identität!

Was du wofür hälst, ist in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant. Tatsache IST (und bleibt) der "Corpus iuris civilis" IST die Grundlage/Basis unseres modernen Rechtssystems!
Letzteres bezweifle ich doch gar nicht. Was ich bezweifle ist, dass der von dir so bezeichnete Prozess der Einbindung, Sozialisierung, Prägung und Identifikation mit historisch gewachsenen kulturellen Phänomen so linear und einseitig stattfindet, wie Du ihn darstellst.
Sozialisation (lateinisch sociare ‚verbinden‘) wird im Handbuch der Sozialisationsforschung von Klaus Hurrelmann u. a. definiert als „Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen entstehen“. Sozialisation ist demnach die Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster durch Internalisation (Verinnerlichung) von sozialen Normen.
"Internalisation" ist etwas anderes als "Geprägt" werden. Die Wechselseitigkeit und Bewertbarkeit zwischen Person und sozialem Umfeld (einschließlich Kultur) führt zu einem Gleichgewichstzustand, der mal eher zur einen Seite (Identifikation), mal zur anderen (Ablehndung) hin tendiert. "Verinnerlichung" kann durchaus auch "heftige Ablehnung" bedeuten. Das aber "Bescheidwissen" wiederum nicht ausschließt. Und die massive Einforderung von Gemeinschaftlichkeit, Identitfikation, Nationalbewusstsein usw. durch tendenziell rechte politische Richtungen führt bei mir und vielen meiner Zeitgenossen zu einer heftigen Ablehnung. Der Mensch ist durchaus frei, sich einer "Verinnerlichung" in Form von "Identifikation" zu entziehen und diese "Verinnerlichung" als "Kritik" zu gestalten.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Jan 2019, 15:18)

Letzteres bezweifle ich doch gar nicht. Was ich bezweifle ist, dass der von dir so bezeichnete Prozess der Einbindung, Sozialisierung, Prägung und Identifikation mit historisch gewachsenen kulturellen Phänomen so linear und einseitig stattfindet, wie Du ihn darstellst.
Wer spricht denn von Einseitigkeit? Ich jedenfalls NICHT!
Ich habe auch NICHT von "historisch gewachsenen Phänomenen" gesprochen, sondern von historisch gewachsenem Prozess.
Der "Corpus iuris civilis" ist auch KEIN "Phänomen" welches aus dem Nichts zustande kam, was sich Kaiser Justinian mal eben hat einfallen lassen, sondern basiert auf sehr viel älterem Römischen Recht - dem "12-Tafelgesetz", hat Entwicklungsprozesse durchlaufen, wurde an gesellschaftliche Verhältnisse angepasst.
schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Jan 2019, 15:18)"Internalisation" ist etwas anderes als "Geprägt" werden. Die Wechselseitigkeit und Bewertbarkeit zwischen Person und sozialem Umfeld (einschließlich Kultur) führt zu einem Gleichgewichstzustand, der mal eher zur einen Seite (Identifikation), mal zur anderen (Ablehndung) hin tendiert. "Verinnerlichung" kann durchaus auch "heftige Ablehnung" bedeuten. Das aber "Bescheidwissen" wiederum nicht ausschließt. Und die massive Einforderung von Gemeinschaftlichkeit, Identitfikation, Nationalbewusstsein usw. durch tendenziell rechte politische Richtungen führt bei mir und vielen meiner Zeitgenossen zu einer heftigen Ablehnung. Der Mensch ist durchaus frei, sich einer "Verinnerlichung" in Form von "Identifikation" zu entziehen und diese "Verinnerlichung" als "Kritik" zu gestalten.
Zünde nicht schon wieder irgendwelche Nebelkerzen und drisch nicht auf Strohmänner ein.
Ich spreche von Prägung und NICHT von Internalisation!
Prägung bezeichnet eine sensible Lernphase mit relativ unumkehrbaren Lernergebnissen. Diese Phase der Prägung - auch der kulturellen - ist beim Menschen Teil der Persönlichkeitsbildung und i.d.R. im Alter zwischen 12 und 14 Jahren abgeschlossen.
Diese Lernphase hat absolut nichts mit "Bewertbarkeit zwischen Person und sozialem Umfeld" blablabla zu tun, sondern sehr viel mehr mit Nachahmen/Verinnerlichen vorgelebter Verhaltensweisen und Moralvorstellungen.
Während der Prozess der Prägung unmittelbar nach der Geburt beginnt (biologisch bedingt ist), setzt der Prozess der Internalisation (Soziologie) sehr viel später ein.
Niemand spricht von "massive[r] Einforderung ..." - die gibt es nur in deiner Phantasie, weil du (zwanghaft) jegliches Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl/Gemeinschaft/Zugehörigkeit ablehnst.
Ganz im Gegenteil - die Rede ist IMMER von INDIVIDUELLER Identfikation mit etwas, als Teil der INDIVIDUELLEN Identität.
Individuelle Indentitätsentwicklung/-bildung vollzieht sich nunmal nur INNERHALB einer Gesellschaft/Kultur und nimmt Elemente dieser Kultur durch soziale Interaktion auf - die Identität JEDES Individuums ist IMMER ein Produkt der sozialen Verortung, ein Zusammenpassen von subjektivem "Innen" und gesellschaftlichem "Außen".
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Jan 2019, 15:18)

Letzteres bezweifle ich doch gar nicht. Was ich bezweifle ist, dass der von dir so bezeichnete Prozess der Einbindung, Sozialisierung, Prägung und Identifikation mit historisch gewachsenen kulturellen Phänomen so linear und einseitig stattfindet, wie Du ihn darstellst.

"Internalisation" ist etwas anderes als "Geprägt" werden. Die Wechselseitigkeit und Bewertbarkeit zwischen Person und sozialem Umfeld (einschließlich Kultur) führt zu einem Gleichgewichstzustand, der mal eher zur einen Seite (Identifikation), mal zur anderen (Ablehndung) hin tendiert. "Verinnerlichung" kann durchaus auch "heftige Ablehnung" bedeuten. Das aber "Bescheidwissen" wiederum nicht ausschließt. Und die massive Einforderung von Gemeinschaftlichkeit, Identitfikation, Nationalbewusstsein usw. durch tendenziell rechte politische Richtungen führt bei mir und vielen meiner Zeitgenossen zu einer heftigen Ablehnung. Der Mensch ist durchaus frei, sich einer "Verinnerlichung" in Form von "Identifikation" zu entziehen und diese "Verinnerlichung" als "Kritik" zu gestalten.
Das ist der Kern der Debatte. Die einen brauchen eben "Gemeinschaftlichkeit, Identitfikation, Nationalbewusstsein" wie Verdurstende das Wasser. Und die anderen sind auch ohne diese Dinge recht glücklich. Wenn überhaupt, treffen sie sich nur in Gruppen und Teams, um zusammen etwas zu unternehmen, zu musizieren, zu forschen, Theater zu spielen, zu diskutieren, sich fortzubilden, zu arbeiten etcpp, um hinterher wieder auseinanderzugehen. Oft gibts noch den Zufalls-Nebeneffekt, dass diese temporären Gruppen sich über den jeweiligen gemeinsamen Gegenstand hinaus auch in anderen Fragen recht gut verstehen. Nicht mehr und nicht weniger.
[Mod] edit
Zuletzt geändert von Selina am Di 8. Jan 2019, 19:01, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Skeptiker »

schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Jan 2019, 09:40)
Als Ingenieur wirst du die einfache Aussage sofort verstehen: Andere oder auch variable Strukturen sind nicht keine Strukturen. In der politischen Diskussion ist es wichtig, zu verstehen, wo und vor allem warum dieser simple logische Fehlschluss: Andere oder auch varIable Stukturen seien Strukturlosigkeit ("Einheitsbrei") dennoch zu den gängigen Eintrichterungsstrategien gehört.
Ehrlich gesagt nervt diese ganze Kulturdebatte, aber wenn Du sie unbedingt fortsetzen möchtest …
Wer schreibt denn, dass die fiktive Vermischung von Kulturen zu Kulturlosigkeit führen wird? Das wird sie natürlich nicht. Ich sehe auch niemanden der behauptet dass es so wäre. Eine "Einheitskultur" wäre auch eine Kultur - nur Multikulti ist dann nicht mehr - wohlgemerkt alles fiktiv, denn das wäre ein Extrem welches sich ausbilden würde, wenn jeder Mensch mit jedem anderen in unmittelbaren Kontakt stehen würde/könnte.

Die fiktive Vermischung von Kulturen wird zu einer Verringerung der Diversifität der Kulturen führen (der Anzahl unterschiedlicher Kulturen, nicht der potentiellen Vielfältigkeit innerhalb dieser Kultur). Das wiederum sollte Dir als Mathematiker schnell einleuchten.

Wie entstehen neue Kulturen? Ich behaupte mal heute eigentlich kaum noch oder garnicht. Kulturen sind typischerweise das Ergebnis aus Abgrenzungen (und nein, bitte keine Abschottungsdebatte). Historisch haben sich Ethnien, Konfessionen, Regionen usw. mehr oder weniger von anderen abgegrenzt und im Laufe der Zeit eigene Verhaltensweisen entwickelt. Die sich abgrenzenden Gruppen sind historisch dabei immer größer geworden (Sippe -> Königreiche -> Nationalstaaten -> Staatenbünde), bis sie seit einigen Jahrzehnten eher wieder auf Nationalstaatsebene zerfallen.

Gerade der zuletzt beschriebene Prozess ist für mich ein klarer Indikator, dass die Staatenbünde vielleicht für die identifikation der darin lebenden Menschen einen Tick zu groß sind. Allerdings kann der Blick nach Amerika auch zeigen, dass man durchaus in der Lage ist identifikation in großen Staatenbünden zu erzeugen, dass aber auf Kosten der Diversifität der Kulturen. Amerikaner sind zwar sehr stolz auf die vielen unterschiedlichen Kulturen, die sie angeblich im Land bündeln. Wer Amerika aber kennt, der weiss auch, dass diese Kulturen nurmehr ein oberflächliches Abziehbild ihrer früheren Kulturen sind, und Amerikaner sich selber insgesamt viel näher sind als ihren Vorfahren.

Ich war eigentlich immer ein Befürworter einer möglichst einheitlichen Kultur weltweit. Das würde uns gegenseitig besser verstehen lassen, was viele Vorteile hätte bei der Lösung der drängenden Probleme dieser Zeit. Auf der anderen Seite ist das aber sehr pragmatisch gedacht - auf Kosten eben eines Kulturschatzes, den uns nichts zurückbringen kann, wenn wir ihn einmal verloren haben.
Skeptiker

Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Skeptiker »

schokoschendrezki hat geschrieben:(07 Jan 2019, 20:08)
Gut, dass wir mal auf tatsächlich politische Fragen zu sprechen kommen und diese nicht mit Fragen über "Kulturen" vernebeln. Für das ganze Gebiet von Ex-Jugoslawien gibts keine Lösung. Jugoslawien ist so vorbei wie Sowjetunion.

Kürzlich hörte ich eine Sendung über eine Schule in Bosnien-Herzegowina. Schüler und Schülerinnen hatten sich geweigert, getrennt in Nationalitäten Unterricht zu erhalten. Im Unterschied zu ihren Eltern und Großeltern hattten sie keine Lust mehr auf "Heimat", "Vaterland", "unsere Kultur" als Gemeinschaft, Identität und Zugehörigkeit und erklärten im Interview mit DLF - auf Englisch übrigens - dass sie den wieder gemeinsamen Unterricht durchsetzen werden und das taten sie auch. Vielleicht muss man wirklich auf die nächste Generation hoffen. Und diese jungen Leute machten absolut nicht den Eindruck von Kulturlosigkeit oder dass sie nicht mehr wüssten, wer Aristoteles oder wer Einstein war. Interessant wäre es, unsere Einheitsbrei-Warner mal mit diesen Jugendlichen diskutieren zu lassen.

Konkret politisch sollte die EU an der weiteren Osterweiterung arbeiten. Tut sie ja auch. An die Stelle etwa des Dayton-Abkommens, das vor allem das Ziel verfolgte, kriegerische Auseinandersetzungen zu beenden, sollten die Bedingungen und Voraussetzungen der EU-Mitgliedschaft treten. Konsequent natürlich und ohne wenn und aber: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pressefreiheit. Es gab und gibt auch ziemlich ernste ethnische Konflikte zwischen Slowakei, Rumänien, Ungarn. Und ich glaube, dass die EU-Einbindung mögliche militärische Auseinandersetzungen dort verhindert hat. (Ist natürlich etwas spekulativ). Der Nationalismus-Dämon, die Tümelei-Seuche ist jedenfalls einigermaßen gebändigt. CDIese Richtung jedenfalls ist so ungefähr mein Plädoyer für den Lösungsvorschlag für den Westbalkan, der von vernünftigen und politisch klugen Leuten vertreten wird.
Das ist das erste mal, dass ich davon lese, dass der Nationalismus auf dem Balkan zum erliegen kommen würde.

Es mag ja sein, dass es den von Dir geschilderten Fall so geben hat. Ich bin allerdings sehr vorsichtig damit entsprechende Berichte gleich als Anzeichen für eine "sich selbst heilende" Generation zu deuten. Dazu habe ich leider viel zu viele journalistische Fehlleistungen erlebt, als dass ich einen solchen Bericht ernst nehmen würde. Vielleicht beurteilt man da den Zuckergehalt des Brotes an der Rosine …
Wir leben in einer Zeit der Missionare in den Medien. Vorsicht ist angebracht. Es würde mich allerdings sehr freuen, wenn der Trend so wäre.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

Skeptiker hat geschrieben:(08 Jan 2019, 18:59)

Wer schreibt denn, dass die fiktive Vermischung von Kulturen zu Kulturlosigkeit führen wird? ..... einer Verringerung der Diversifität der Kulturen
Wo steht in dem Zitat was von "Kulturlosigkeit?" Ich lese "Strukturlosigkeit". Und was bitte ist "Diversifität"? Meinst du Diversität? Aber vielleicht gibt es ja den von dir genannten Begriff auch. Ich finde ihn nirgendwo.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Skeptiker »

Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 19:16)
Wo steht in dem Zitat was von "Kulturlosigkeit?" Ich lese "Strukturlosigkeit". Und was bitte ist "Diversifität"? Meinst du Diversität? Aber vielleicht gibt es ja den von dir genannten Begriff auch. Ich finde ihn nirgendwo.
Er schreibt:
Andere oder auch variable Strukturen sind nicht keine Strukturen.
Das habe ich so aufgefasst, dass eine Abnahme der Vielfältigkeit der Kulturen so interpretiert wird, dass die Kultur darin selber verarmt - eben Struktur verliert. Das sehe ich so aber nicht, sondern hauptsächlich dass die Vielfalt der Kulturen sinkt, wenn sie sich nicht voneinander abgrenzen (was wohlgemerkt der normale Zustand aller Kulturen ist - sonst gäbe es sie schlichtweg nicht).

Yep, Diversität ist gemeint - hatte von Diversifikation falsch abgeleitet. :thumbup:
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von gugel »

Selina hat geschrieben:(08 Jan 2019, 18:22)

Das ist der Kern der Debatte. Die einen brauchen eben "Gemeinschaftlichkeit, Identitfikation, Nationalbewusstsein" wie Verdurstende das Wasser. Und die anderen sind auch ohne diese Dinge recht glücklich. Wenn überhaupt, treffen sie sich nur in Gruppen und Teams, um zusammen etwas zu unternehmen, zu musizieren, zu forschen, Theater zu spielen, zu diskutieren, sich fortzubilden, zu arbeiten etcpp, um hinterher wieder auseinanderzugehen. Oft gibts noch den Zufalls-Nebeneffekt, dass diese temporären Gruppen sich über den jeweiligen gemeinsamen Gegenstand hinaus auch in anderen Fragen recht gut verstehen. Nicht mehr und nicht weniger. Ansonsten haben sie keine Lust und sehen auch keine Notwendigkeit, sich mit sowas Konstruiertem wie "Nation", "Volk" und "Kultur" zu identifizieren und da auch noch pausenlos drüber nachzudenken und zu diskutieren. Das ist ja gerade das Schöne, dass man sich entscheiden kann... für das eine oder das andere. Mal abgesehen davon, dass die Debatten umso dröger werden, je weiter sich die Konstrukte und Abstraktionen (Nation, Volk, Identität, Kultur) von der konkreten Lebenswirklichkeit entfernen. Da ist dann auch die Frage berechtigt: Wer braucht das überhaupt und wofür.
Lass es mich so formulieren. Ooch , ist datt schön.

Hier mal so die Lebenswirklichkeit auf einer Ebene, für deine anderen Ebenen gibt google in 15 sec die gleich gelagerte Antworten, weil hinter allem steckt das Gleiche. Die Unverbindlichkeit.

https://www.elitepartner.de/forum/frage ... ell.39903/

Gleitet in andres Thema über. Also retour zu den Basics Nation, Kultur, Identität ...:-)
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

Skeptiker hat geschrieben:(08 Jan 2019, 19:26)

Er schreibt:

Das habe ich so aufgefasst, dass eine Abnahme der Vielfältigkeit der Kulturen so interpretiert wird, dass die Kultur darin selber verarmt - eben Struktur verliert. Das sehe ich so aber nicht, sondern hauptsächlich dass die Vielfalt der Kulturen sinkt, wenn sie sich nicht voneinander abgrenzen (was wohlgemerkt der normale Zustand aller Kulturen ist - sonst gäbe es sie schlichtweg nicht).

Yep, Diversität ist gemeint - hatte von Diversifikation falsch abgeleitet. :thumbup:
Ok :thumbup:

Schokoschendrezki wirds vielleicht noch mal selbst näher erklären. Er schrieb wortwörtlich: "Als Ingenieur wirst du die einfache Aussage sofort verstehen: Andere oder auch variable Strukturen sind nicht keine Strukturen. In der politischen Diskussion ist es wichtig, zu verstehen, wo und vor allem warum dieser simple logische Fehlschluss: Andere oder auch varIable Stukturen seien Strukturlosigkeit ("Einheitsbrei") dennoch zu den gängigen Eintrichterungsstrategien gehört." Hier geht es meines Erachtens um den oft geäußerten Vorwurf, dass die Leute, die keine sich voneinander abgrenzenden "Kulturen" sehen, einen "Einheitsbrei" von "Kulturen" bevorzugten. Schoko sprach aber von anderen und variablen Strukturen, die deswegen noch lange nicht als strukturloser "Einheitsbrei" bezeichnet werden können. Vielfältigkeit ist das Gegenteil von "Einheitsbrei". So zumindest meine Interpretation. Kann mich aber auch täuschen ;)
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

Dark Angel hat geschrieben:(08 Jan 2019, 13:34)

Von welchen Normen sprichst du?
Ich sprach von Aufgaben die ein Staat/Nationalstaat zu erfüllen hat, sprach von demokratischer Legitimation.
Völlig in Ordnung, das ist auch so! Nur schimmert eben ein Vorbehalt durch, daß andere gemeinsame Organe von Gemeinschaften eben nicht über diese Legitimation
verfügen. Das können Staatsrechtler ja durchaus so sehen; aber mir ist kein Fall bewußt, in dem ein Staatsrechtler erfolgreich die Handlungen der EU und ihrer Organe in ihre Schranken gewiesen hätte.
Welche freiwillige Abgabe von Souveränitätsrechten, welcher "freiwillige Verzicht" auf Souveränitätsrechte?
Wo kann ich etwas über diesen angeblichen "freiwilligen Verzicht" nachlesen?
Wer hat denn "freiwillig verzichtet"?
Ich kann mich nicht erinnern, dass es eine demokratische Legitimation - in irgendeiner Art und Weise - gab, bei/in der vom "freiwilligen Verzicht" auf Souveränitätsrechte die Rede ist bzw solcher festgeschrieben wurde.
Nebenbei - wie Jürgen Rüttgers in seinem Buch "Mehr Demokratie in Europa" schreibt und beschreibt, hapert es in der EU ja gerade am wichtigsten Instrument einer Demokratie - der Gewaltenteilung. Die EU-Kommission ist NICHT demokratisch legitimiert UND sie vereint Exekutive und Legislative in sich.
Herr Rüttgers setzt damit einen Irrtum in die Welt, oder Sie haben ihn nicht so wiedergegeben, wie er sich erklärt hat. Der Gesetzgebungsmechanismus der EU ist viel komplizierter. Sehen Sie mir bitte nach, daß ich als Ingenieur vielleicht nicht so richtig die zugehörige Fachsprache beherrsche.

Also: Der EU-Kommission steht kein "Initiativrecht" zu. Dies liegt ganz überwiegend beim EU-Ministerrat, einem Organ, das fallabhängig von Regierungsmitgliedern der einzelnen Mitgliedsstaaten gebildet wird... in ganz entscheidenden Fällen auf Ebene der Premiers, Kanzler, Präsidenten. Die erkennen gemeinsam mit "qualifizierter Mehrheit" die Notwendigkeit eines Gesetzes, geben vorformuliert ihren Willen der EU-Kommission bekannt. Die EU-Kommission verfügt im Gegensatz zum EU-Ministerrat über eine gesetzeskundige Beamtenschaft, die dadurch Querverbindungen im EU-Regelkörper erkennt und den Gesetzesvorschlag rechtsfest in Gesetzestexte der offiziellen Gemeinschaftssprachen umsetzt. Jetzt wäre es schon sehr verwunderlich, wenn die Kommission dieses Ergebnis nicht dem EU-Ministerrat zur Kontrolle und Zustimmung vorlegte. Aber sei's drum.

Der Gesetzesvorschlag wird dem EU-Parlament zugeleitet, das darüber spricht und verhandelt, vielleicht sogar Änderungen daran anregt. Die Kommission bearbeitet diese Anliegen, und der Ministerrat befindet erneut darüber. Wenn am Ende dieses Abgleichs alle Seiten glücklich sind, dann gehen EU-Gesetze den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung zu. Ratifizierung heißt nicht "abnicken", sondern durchaus auch Widerspruch des nationalen Parlaments. Darüber wird dann wieder im EU-Ministerrat beraten, geändert, abgestimmt... usw. Und irgendwann ist ein EU-Gesetz dann zustimmungsfähig und geht danach ziemlich geräuschlos in den nationalen Gesetzeskörper über.

Ziel der Übung: Überall in der EU sollen nationale Richter auf der Grundlage dieser Gesetze zu übereinstimmenden Urteilen kommen. Ich bin davon überzeugt, daß diese Verfahrensregelung der EU-Gesetzgebung auch schriftlich festgelegt ist.

Dumm nur, dass das EU-Parlament keine Beschlüsse fasst, sondern nur die Beschlüsse der EU-Kommission absegnet.

Das ist doch nicht dumm, sondern ein Teil der Gesetzgebungsverfahrens, das durchaus in ein Pingpong-Spiel zwischen EU-Ministerrat, EU-Kommission und EU-Parlament ausarten kann. Allerdings sind das dort überwiegend ganz vernünftige Leute, die gestalten wollen, so daß mir im Augenblick kein Fall gegenwärtig ist, wo es dieses aufregende Pingpong-Spiel gegeben hat.

Dennoch will ich nicht vergessen, darauf hin zu weisen, daß in der EU einiges in Bewegung ist. So hat das EU-Parlament sich regelwidrig das Recht ertrotzt, dem EU-Ministerrat einen EU-Präsidenten aus den Reihen der Parlamentarier vor zu schlagen. Die Regel ist aber, daß dies der EU-Ministerrat nach eigenem Ermessen tut.

Der EU-Ministerrat ernennt auf jeden Fall die EU-Kommissare, die nach nationaler Zugehörigkeit vorgeschlagen werden. Nach dem BREXIT sind das 27 Kommissare aus 27 Mitgliedsstaaten für zugeordnete Sachgebiete. Klar, daß die Welt in 27 Sachgebiete eingeteilt werden muß ;) , aber so ist sie nun einmal, diese EU.

Und nun gilt die Regel, daß das EU-Parlament den mühsam ausgehandelten Kommissionsvorschlag des EU-Ministerrats insgesamt zurückweisen kann, also keine Kommission gegen seinen Willen gebildet werden kann. Eine Hand wäscht die andere, und so schlägt das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten aus seinen Reihen vor, und der EU-Ministerrat tut gut daran, das so hin zu nehmen, damit nun "seine" Kommissare durchgehen. Damit nicht genug: Das EU-Parlament lädt jeden der vorgeschlagenen Kommissare zum Gespräch im Parlament, um deren Sichtweisen kennen zu lernen... in der Presse heißt das: Sie zu grillen. Und nickt ab... oder weist zurück.

So darf sich der CSU-Abgeordnete in der Fraktion der europäischen Volksparteien einige Hoffnung machen, bei ausreichender Mehrheit im EU-Parlament zum Nachfolger des EU-Präsidenten Juncker vorgeschlagen zu werden. Wieder wäscht eine Hand die andere: Wenn diese Mehrheit mit einem Bündnis mit einer anderen Parlamentsfraktion errungen wurde, dann stellt dieser Partner den EU-Parlamentspräsidenten. Diese Abläufe waren erstmals bei der Wahl des EU-Präsidenten Juncker zu beobachten, in der als Nebenprodukt der EU-Parlamentspräsident Schulz aus der Fraktion der sozialistischen Parteien im EU-Parlament ins Amt gewählt wurde.

Jetzt habe ich mich aber wirklich redlich bemüht, Ihnen zu vergegenwärtigen, wie in der EU am Ende doch wieder demokratische Entscheidungen getroffen werden. Daß man daran arbeiten sollte, das EU-Parlament "volksnäher" zu bestimmen und ihm mehr "Initiativrechte" zu zu gestehen... den EU-Ministerrat als 2. Kammer der Gesetzgebung mit eingeschränktem Veto-Recht um zu bauen ...klar, das wäre besser. Aber so ist das eben in der Politik. Hauptsache ist der Effekt (hieß es einmal im Film "Das Wirtshaus im Spessart") Und was heute nicht ist, kann morgen kommen.

Noch eine Anmerkung: Natürlich verfügt die EU in Fragen der Gemeinschaft über eine unabhängige Justiz, den Europäischen Gerichtshof. Die EU-Kommission sieht sich als Hüterin der EU-Verträge; sie kann bei erkannten Regelbrüchen den EuGH anrufen, der auf der Grundlage der bestehenden EU-Gesetze ein Urteil fällt... oder aber anmahnt, eine Gesetzeslücke zu schließen. Weniger sicher bin ich, ob einzelne EU-Mitglieder diesen EuGH anrufen können, wenn ihnen aus ihrer Sicht ein Unrecht zugemutet wird.

Ganz zum Schluß "Aufgabe von nationalen Souveränitätsrechten": Das geschieht, indem EU-Mitglieder die Verhandlungsmacht für Verträge der EU, die am Ende auch sie im Alltag betreffen, der EU-Kommission übertragen, die dadurch im Namen der Gemeinschaft mit ganz anderer Verhandlungsmacht etwa China oder Japan oder den USA gegenüber tritt.

Auch da ist noch einiges im Fluß. Kein Nationalstaat verzichtet bisher auf teils nutzlose Auftritte auf der großen Weltbühne... aber immerhin hat man schon eine Außenbeauftragte der EU, Frau Mogherini, eingesetzt, an der sich die "Nationalen" gern vorbei drängen. Dann verhandelt der Außenminister von Malta eben mit Japan oder China über den Lauf der Welt. :thumbup: Der guten Ordnung halber will ich aber auch unseren Außenminister nennen, der den großen Auftritt vor der UNO pflegt, oder aber die beiden Führernaturen Merkel und Macron, die Rußland und Ukraine zu Waffenstillständen und Gebietsrückgaben veranlassen wollen. In meinen Augen nahezu kindische Aufführungen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

Tom Bombadil hat geschrieben:(08 Jan 2019, 12:47)

Aber nur sehr geringe Teile ihrer Hoheitsrechte, von den VSE sind wir Lichtjahre entfernt.
Ich habe aber das Gefühl, daß wir diesen unschönen Sachverhalt gemeinsam bedauern... oder?
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

Durch bedauern ändert sich leider auch nichts, et is wie et is, sagt der Rheinländer. Dass ich gerne ein politisch geeintes Europa hätte, habe ich wohl oft genug hier angesprochen, nur entfernen wir uns mMn. immer weiter von diesem Ziel, es scheint von den europäischen Politikern auch nicht wirklich gewollt zu sein, jedenfalls sehe ich keinen, der in dieser Hinsicht mal Druck machen würde.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

Tom Bombadil hat geschrieben:(08 Jan 2019, 22:16)

Durch bedauern ändert sich leider auch nichts, et is wie et is, sagt der Rheinländer. Dass ich gerne ein politisch geeintes Europa hätte, habe ich wohl oft genug hier angesprochen, nur entfernen wir uns mMn. immer weiter von diesem Ziel, es scheint von den europäischen Politikern auch nicht wirklich gewollt zu sein, jedenfalls sehe ich keinen, der in dieser Hinsicht mal Druck machen würde.
Ja, Ihre Haltung zum Thema "Europäische Einigung" war mir bekannt. Nur will sich die Vorfreude auf dieses Friedens- und Zukunftsprojekt immer weniger entwickeln, wenn wir ohne bewußte Mutmacher auf seine bisherigen und neuen Mängel hinweisen. Mit einiger Wut im Bauch sehe ich genau wie Sie die Unlust der Politik, leider eben auch der deutschen Politik, das europäische Projekt gestalten zu wollen.

So lange mir das möglich ist, werde ich dieses Nichtstun oder sogar Ausbremsen des Europäischen Projekts tadeln... was man in zahlreichen meiner Beiträge auch vorfindet. Kann ja sein, daß solcher Tadel den Verantwortlichen kein Unbehagen bereitet... aber einfach aufgeben, das gibt es meinerseits nicht. Oder erst dann, wenn mir endgültig klar ist, daß ich da ein totes Pferd reite. So weit ist es aber noch nicht.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(07 Jan 2019, 16:32)

Klar, wenn ich Appetit auf Rotwein habe, gibts bestimmt irgendwo eine Statistik, die mir bescheinigt, dass Rotweintrinken gesund ist. (Meist ist das ja auf eine Verwechslung von Kausalität und Korrelation zurückzuführen).

Aber allein die bloße Feststellung von "Veränderung" oder zumindest gravierenden Veränderungen und auch Veränderbarkeit ist - nach meinem Verständnis jedenfalls - ganz prinzipiell und objektiv nicht mit Essentialismen irgendwelcher Art vereinbar.
Ich finde, darüber ist die Debatte hier nun schon lange hinaus.
Man braucht keine Essenz, um eine (begriffliche oder sonstige) Grenze festzulegen und sie zu erhalten. Im Gegenteil, gäbe es "Essenz", dann wär sie unabhängig da und dies unverrückbar und ewig. Kein Kampf darum wäre nötig, kein Widerstand sinnvoll. Dass Grenzen verrückt und verändert werden und eben nicht "heilig" sind, für diese Einsicht muss man sich ja nur die politischen Karten im Zeitablauf ansehen, wie sich Reiche vielversprechend bis atemberaubend ausdehnen ... und wieder zerfallen, wie Neues entsteht und Altes vergeht.

Der Dissens liegt woranders: ob man die Differenz und damit Grenzen und Wettbewerb betont oder ob man die Gleichheit betont. Das eine ist ständige Bewegung mit all ihren Siegen und Niederlagen, das andere ist Stillstand in einem erträumten paradiesischen Endpunkt, in dem alle Unterschiede nivelliert sind, wo alles gleichgültig und der Streit beendet ist.

Ich sage, Leben braucht beides, Ruhepunkte und Wettstreit. Es geht in einem größeren Denkrahmen nicht darum, ob es nun tatsächlich das Preußentum gibt oder den Russen oder das Serbentum oder sonst etwas, das sind Ideen, die ihre Zeit haben und wieder vergehen und in ihrer Zeit werden sie um ihre Existenz kämpfen. Und es werden neue Ideen entstehen, die sich wiederum abgrenzen, denen sich Menschen anschließen werden und die von anderen abgelehnt und bekämpft werden.
Der fatale Irrtum liegt m.E. darin, einen Zustand anzustreben, in dem es das nicht mehr geben soll. Diese Intention führt geradewegs ins Gegenteil. Das Stichwort Jugoslawien ist ja schon gefallen. Aus der Idee der befriedenen Einheit ist das Gegenteil hervorgegangen. Zeitweiser Frieden ist nur in der Koexistenz zu finden, im Nebeneinander des Unterschiedlichen, und dafür braucht man Abgrenzungen.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von gugel »

BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2019, 23:25)

Ich finde, darüber ist die Debatte hier nun schon lange hinaus.
Man braucht keine Essenz, um eine (begriffliche oder sonstige) Grenze festzulegen und sie zu erhalten. Im Gegenteil, gäbe es "Essenz", dann wär sie unabhängig da und dies unverrückbar und ewig. Kein Kampf darum wäre nötig, kein Widerstand sinnvoll. Dass Grenzen verrückt und verändert werden und eben nicht "heilig" sind, für diese Einsicht muss man sich ja nur die politischen Karten im Zeitablauf ansehen, wie sich Reiche vielversprechend bis atemberaubend ausdehnen ... und wieder zerfallen, wie Neues entsteht und Altes vergeht.

Der Dissens liegt woranders: ob man die Differenz und damit Grenzen und Wettbewerb betont oder ob man die Gleichheit betont. Das eine ist ständige Bewegung mit all ihren Siegen und Niederlagen, das andere ist Stillstand in einem erträumten paradiesischen Endpunkt, in dem alle Unterschiede nivelliert sind, wo alles gleichgültig und der Streit beendet ist.

Ich sage, Leben braucht beides, Ruhepunkte und Wettstreit. Es geht in einem größeren Denkrahmen nicht darum, ob es nun tatsächlich das Preußentum gibt oder den Russen oder das Serbentum oder sonst etwas, das sind Ideen, die ihre Zeit haben und wieder vergehen und in ihrer Zeit werden sie um ihre Existenz kämpfen. Und es werden neue Ideen entstehen, die sich wiederum abgrenzen, denen sich Menschen anschließen werden und die von anderen abgelehnt und bekämpft werden.
Der fatale Irrtum liegt m.E. darin, einen Zustand anzustreben, in dem es das nicht mehr geben soll. Diese Intention führt geradewegs ins Gegenteil. Das Stichwort Jugoslawien ist ja schon gefallen. Aus der Idee der befriedenen Einheit ist das Gegenteil hervorgegangen. Zeitweiser Frieden ist nur in der Koexistenz zu finden, im Nebeneinander des Unterschiedlichen, und dafür braucht man Abgrenzungen.

Top, teile die Ansicht.

Zwei Dinge dazu. Der Mensch ist ein interessengesteuertes Wesen. Den jeweiligen Interessen sind für ein friedliches Zusamenleben Grenzen zu zeigen, die Prüfung der Interessen im Sinne von "Gemeinwohl" zu prüfen.

Dann ist ein erreichter Zustand eines Gemeinwesens in sozial annähert ausgeglichener Gestaltung mit einer positiv prognostizierten Zukunftsaussicht nicht mit Beiträgen aus Gesellschaften mit feststehenden Defiziten in sozialer, ökonomischer, politischen, verfassungsgemäßen Kriterien gegenüber den hier geschaffenen Standards nicht zu beeinflussen. Wäre der BRD, wäre Europa abträglich, nicht im Interesse der Europäer.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

H2O hat geschrieben:(08 Jan 2019, 20:50)

Völlig in Ordnung, das ist auch so! Nur schimmert eben ein Vorbehalt durch, daß andere gemeinsame Organe von Gemeinschaften eben nicht über diese Legitimation
verfügen. Das können Staatsrechtler ja durchaus so sehen; aber mir ist kein Fall bewußt, in dem ein Staatsrechtler erfolgreich die Handlungen der EU und ihrer Organe in ihre Schranken gewiesen hätte.


Herr Rüttgers setzt damit einen Irrtum in die Welt, oder Sie haben ihn nicht so wiedergegeben, wie er sich erklärt hat. Der Gesetzgebungsmechanismus der EU ist viel komplizierter. Sehen Sie mir bitte nach, daß ich als Ingenieur vielleicht nicht so richtig die zugehörige Fachsprache beherrsche.

Also: Der EU-Kommission steht kein "Initiativrecht" zu. Dies liegt ganz überwiegend beim EU-Ministerrat, einem Organ, das fallabhängig von Regierungsmitgliedern der einzelnen Mitgliedsstaaten gebildet wird... in ganz entscheidenden Fällen auf Ebene der Premiers, Kanzler, Präsidenten. Die erkennen gemeinsam mit "qualifizierter Mehrheit" die Notwendigkeit eines Gesetzes, geben vorformuliert ihren Willen der EU-Kommission bekannt. Die EU-Kommission verfügt im Gegensatz zum EU-Ministerrat über eine gesetzeskundige Beamtenschaft, die dadurch Querverbindungen im EU-Regelkörper erkennt und den Gesetzesvorschlag rechtsfest in Gesetzestexte der offiziellen Gemeinschaftssprachen umsetzt. Jetzt wäre es schon sehr verwunderlich, wenn die Kommission dieses Ergebnis nicht dem EU-Ministerrat zur Kontrolle und Zustimmung vorlegte. Aber sei's drum.

Der Gesetzesvorschlag wird dem EU-Parlament zugeleitet, das darüber spricht und verhandelt, vielleicht sogar Änderungen daran anregt. Die Kommission bearbeitet diese Anliegen, und der Ministerrat befindet erneut darüber. Wenn am Ende dieses Abgleichs alle Seiten glücklich sind, dann gehen EU-Gesetze den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung zu. Ratifizierung heißt nicht "abnicken", sondern durchaus auch Widerspruch des nationalen Parlaments. Darüber wird dann wieder im EU-Ministerrat beraten, geändert, abgestimmt... usw. Und irgendwann ist ein EU-Gesetz dann zustimmungsfähig und geht danach ziemlich geräuschlos in den nationalen Gesetzeskörper über.

Ziel der Übung: Überall in der EU sollen nationale Richter auf der Grundlage dieser Gesetze zu übereinstimmenden Urteilen kommen. Ich bin davon überzeugt, daß diese Verfahrensregelung der EU-Gesetzgebung auch schriftlich festgelegt ist.



Das ist doch nicht dumm, sondern ein Teil der Gesetzgebungsverfahrens, das durchaus in ein Pingpong-Spiel zwischen EU-Ministerrat, EU-Kommission und EU-Parlament ausarten kann. Allerdings sind das dort überwiegend ganz vernünftige Leute, die gestalten wollen, so daß mir im Augenblick kein Fall gegenwärtig ist, wo es dieses aufregende Pingpong-Spiel gegeben hat.

Dennoch will ich nicht vergessen, darauf hin zu weisen, daß in der EU einiges in Bewegung ist. So hat das EU-Parlament sich regelwidrig das Recht ertrotzt, dem EU-Ministerrat einen EU-Präsidenten aus den Reihen der Parlamentarier vor zu schlagen. Die Regel ist aber, daß dies der EU-Ministerrat nach eigenem Ermessen tut.

Der EU-Ministerrat ernennt auf jeden Fall die EU-Kommissare, die nach nationaler Zugehörigkeit vorgeschlagen werden. Nach dem BREXIT sind das 27 Kommissare aus 27 Mitgliedsstaaten für zugeordnete Sachgebiete. Klar, daß die Welt in 27 Sachgebiete eingeteilt werden muß ;) , aber so ist sie nun einmal, diese EU.

Und nun gilt die Regel, daß das EU-Parlament den mühsam ausgehandelten Kommissionsvorschlag des EU-Ministerrats insgesamt zurückweisen kann, also keine Kommission gegen seinen Willen gebildet werden kann. Eine Hand wäscht die andere, und so schlägt das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten aus seinen Reihen vor, und der EU-Ministerrat tut gut daran, das so hin zu nehmen, damit nun "seine" Kommissare durchgehen. Damit nicht genug: Das EU-Parlament lädt jeden der vorgeschlagenen Kommissare zum Gespräch im Parlament, um deren Sichtweisen kennen zu lernen... in der Presse heißt das: Sie zu grillen. Und nickt ab... oder weist zurück.

So darf sich der CSU-Abgeordnete in der Fraktion der europäischen Volksparteien einige Hoffnung machen, bei ausreichender Mehrheit im EU-Parlament zum Nachfolger des EU-Präsidenten Juncker vorgeschlagen zu werden. Wieder wäscht eine Hand die andere: Wenn diese Mehrheit mit einem Bündnis mit einer anderen Parlamentsfraktion errungen wurde, dann stellt dieser Partner den EU-Parlamentspräsidenten. Diese Abläufe waren erstmals bei der Wahl des EU-Präsidenten Juncker zu beobachten, in der als Nebenprodukt der EU-Parlamentspräsident Schulz aus der Fraktion der sozialistischen Parteien im EU-Parlament ins Amt gewählt wurde.

Jetzt habe ich mich aber wirklich redlich bemüht, Ihnen zu vergegenwärtigen, wie in der EU am Ende doch wieder demokratische Entscheidungen getroffen werden. Daß man daran arbeiten sollte, das EU-Parlament "volksnäher" zu bestimmen und ihm mehr "Initiativrechte" zu zu gestehen... den EU-Ministerrat als 2. Kammer der Gesetzgebung mit eingeschränktem Veto-Recht um zu bauen ...klar, das wäre besser. Aber so ist das eben in der Politik. Hauptsache ist der Effekt (hieß es einmal im Film "Das Wirtshaus im Spessart") Und was heute nicht ist, kann morgen kommen.

Noch eine Anmerkung: Natürlich verfügt die EU in Fragen der Gemeinschaft über eine unabhängige Justiz, den Europäischen Gerichtshof. Die EU-Kommission sieht sich als Hüterin der EU-Verträge; sie kann bei erkannten Regelbrüchen den EuGH anrufen, der auf der Grundlage der bestehenden EU-Gesetze ein Urteil fällt... oder aber anmahnt, eine Gesetzeslücke zu schließen. Weniger sicher bin ich, ob einzelne EU-Mitglieder diesen EuGH anrufen können, wenn ihnen aus ihrer Sicht ein Unrecht zugemutet wird.

Ganz zum Schluß "Aufgabe von nationalen Souveränitätsrechten": Das geschieht, indem EU-Mitglieder die Verhandlungsmacht für Verträge der EU, die am Ende auch sie im Alltag betreffen, der EU-Kommission übertragen, die dadurch im Namen der Gemeinschaft mit ganz anderer Verhandlungsmacht etwa China oder Japan oder den USA gegenüber tritt.

Auch da ist noch einiges im Fluß. Kein Nationalstaat verzichtet bisher auf teils nutzlose Auftritte auf der großen Weltbühne... aber immerhin hat man schon eine Außenbeauftragte der EU, Frau Mogherini, eingesetzt, an der sich die "Nationalen" gern vorbei drängen. Dann verhandelt der Außenminister von Malta eben mit Japan oder China über den Lauf der Welt. :thumbup: Der guten Ordnung halber will ich aber auch unseren Außenminister nennen, der den großen Auftritt vor der UNO pflegt, oder aber die beiden Führernaturen Merkel und Macron, die Rußland und Ukraine zu Waffenstillständen und Gebietsrückgaben veranlassen wollen. In meinen Augen nahezu kindische Aufführungen.
Langer Rede kurzer Sinn - aus deinen Aussagen entnehme ich, dass du genau das befürwortest, was Wolfgang Merkel in seinem Artikel
"Kosmopolitismus versus Kommunitarismus"
"Demokratieverluste in Fragen Partizipation, Transparenz, Gewaltenprobleme oder Zurechenbarkeit von Entscheidungen werden entweder überhaupt nicht thematisiert oder als Kollateralschäden einer nicht aufzuhaltenden Trans- und Supranationalisierung von polity, politics und policies hingenommen. "

bezeichnet bzw beschreibt. Ein weniger an Demokratie bzw gar keine Demokratie (mehr) scheint für dich "das kleinere Übel" zu sein, wenn nur "Vereinigte Staaten von Europa" entstehen würden.
Tut mir leid, aber da haben wir ein grundlegend unterschiedliches Demokratieverständnis.
Von so genannten "Führernaturen" halte ich nicht viel und noch weniger von so genannten "Führernaturen", die sich bei ihrer Politik von einer Gesinnungsethik leiten lassen, statt von den Interessen des Staatvolkes.
Ich bin zwar für ein geeintes Europa, das gemeinsame wirtschaftliche und politische Ziele - zum Wohle seiner Bürger - verfolgt, aber ich bin gegen ein vereinigtes Europa, in dem Demokratieverluste und Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte hingenommen werden.
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.

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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2019, 23:25)

Ich finde, darüber ist die Debatte hier nun schon lange hinaus.
Man braucht keine Essenz, um eine (begriffliche oder sonstige) Grenze festzulegen und sie zu erhalten. Im Gegenteil, gäbe es "Essenz", dann wär sie unabhängig da und dies unverrückbar und ewig. Kein Kampf darum wäre nötig, kein Widerstand sinnvoll. Dass Grenzen verrückt und verändert werden und eben nicht "heilig" sind, für diese Einsicht muss man sich ja nur die politischen Karten im Zeitablauf ansehen, wie sich Reiche vielversprechend bis atemberaubend ausdehnen ... und wieder zerfallen, wie Neues entsteht und Altes vergeht.

Der Dissens liegt woranders: ob man die Differenz und damit Grenzen und Wettbewerb betont oder ob man die Gleichheit betont. Das eine ist ständige Bewegung mit all ihren Siegen und Niederlagen, das andere ist Stillstand in einem erträumten paradiesischen Endpunkt, in dem alle Unterschiede nivelliert sind, wo alles gleichgültig und der Streit beendet ist.

Ich sage, Leben braucht beides, Ruhepunkte und Wettstreit. Es geht in einem größeren Denkrahmen nicht darum, ob es nun tatsächlich das Preußentum gibt oder den Russen oder das Serbentum oder sonst etwas, das sind Ideen, die ihre Zeit haben und wieder vergehen und in ihrer Zeit werden sie um ihre Existenz kämpfen. Und es werden neue Ideen entstehen, die sich wiederum abgrenzen, denen sich Menschen anschließen werden und die von anderen abgelehnt und bekämpft werden.
Der fatale Irrtum liegt m.E. darin, einen Zustand anzustreben, in dem es das nicht mehr geben soll. Diese Intention führt geradewegs ins Gegenteil. Das Stichwort Jugoslawien ist ja schon gefallen. Aus der Idee der befriedenen Einheit ist das Gegenteil hervorgegangen. Zeitweiser Frieden ist nur in der Koexistenz zu finden, im Nebeneinander des Unterschiedlichen, und dafür braucht man Abgrenzungen.
Das Problem ist - niemand außer User Schokoschendretzki spricht von irgendwelchen "Essenzialismen" oder meint auch nur ansatzweise etwas in dieser Art.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

@ Dark Angel:
Ich bin zwar für ein geeintes Europa, das gemeinsame wirtschaftliche und politische Ziele - zum Wohle seiner Bürger - verfolgt, aber ich bin gegen ein vereinigtes Europa, in dem Demokratieverluste und Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte hingenommen werden.
Ja, da reden wir wohl tüchtig aneinander vorbei. Ich hatte versucht, Ihnen einen Prozeß zu beschreiben, wie die EU Schritt für Schritt zusammen wächst und ihre Regeln an die Wirklichkeit anpaßt. Immer freiwillig auf der Grundlage von Vorteilen und Einsicht der Menschen. Demokratie wird überhaupt nicht beeinträchtigt, wenn man sich gemeinsam über die Ziele einig ist. Und wenn das nicht so ist, dann eben BREXIT, wenn auch mit Bedauern. Welches Freiheitsrecht wird uns Deutschen denn genommen, das wir nur widerwillig mit anderen Partnern teilen?
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

H2O hat geschrieben:(09 Jan 2019, 13:51)

@ Dark Angel:



Ja, da reden wir wohl tüchtig aneinander vorbei. Ich hatte versucht, Ihnen einen Prozeß zu beschreiben, wie die EU Schritt für Schritt zusammen wächst und ihre Regeln an die Wirklichkeit anpaßt. Immer freiwillig auf der Grundlage von Vorteilen und Einsicht der Menschen. Demokratie wird überhaupt nicht beeinträchtigt, wenn man sich gemeinsam über die Ziele einig ist. Und wenn das nicht so ist, dann eben BREXIT, wenn auch mit Bedauern. Welches Freiheitsrecht wird uns Deutschen denn genommen, das wir nur widerwillig mit anderen Partnern teilen?
Demokratie wird allerdins beeinflusst, weil die (scheinbar) gemeinsamen Ziele nicht demokratisch legitimiert sind.
Unterschiedliche Sozialsysteme - Renteneintrittsalter, Rentenniveau, Gesundheitssyseme etc - sind vollkommen unterschiedlich.
Eine Vereinheitlichung im gesamten EU-Raum könnte nur per Top-Down-Prinzip durchgesetzt werden und das bedeutet Demokratieverlust, weil a) eines der Systeme als Grundlage genommen oder b) ein vollkommen neues System für alle EU-Mitgliedsstaaten erarbeitet werden müsste, welches für die einen massive Nachteile/Verschlechterung, für andere deutliche Verbesserungen mit sich bringen würde. Welches System sollte als Grundlage dienen? Das Deutsche mit Renteneintrittsalter 67 Jahre und nur 48% Renteniveau? Welches Steuersystem als Grundlage - vielleicht auch das deutsche, welches sehr unübersichtlich und kompliziert und zudem die zweithöchsten Stuern weltweit mit sich bringt?
Dergleichen lässt sich nicht demokratisch legitimieren. Das ist nur mit Demokratieverlust durchsetzbar und genau das ist das Problem.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

Gibt es denn überhaupt ein aktuelles und konkretes Vorhaben, die Sozialsysteme in Europa anzugleichen? Mir ist nichts bekannt. Das ist ja gerade der Knackpunkt, dass vor der Euroeinführung keine Wirtschafts- und Sozialunion mitgedacht und mitgeplant worden ist. Bis auf den schon viele Jahre lang existierenden Europäischen Sozialfonds mit speziellen Leistungen (Jugendarbeitslosigkeits-Bekämpfung, Umschulung, Fortbildung etcpp) gibt es meines Erachtens nichts dergleichen. Und ich kann auch nicht sehen, dass sich die Nationalstaaten diese Aufgabe aus der Hand nehmen lassen. So etwas muss sehr langfristig und gründlich geplant werden und funktioniert nur bei Angleichung der Lohnverhältnisse, was ja auch nicht in Sicht ist. Also eine weitere Schimäre in der Debatte.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

@ Dark Angel:

Wenn man es so machte wie von Ihnen angedacht, dann würde man den Menschen in der Gemeinschaft etwas über stülpen. Fände ich auch nicht so gelungen. Mein Angehen hatte Präsident Macron anklingen lassen: Das Gespräch mit den europäischen Bürgern. Eine wunderbare Gelegenheit wäre gewesen, mit der Bürgerbewegung "Pulse of Europe" eine unparteiische Plattform zu nutzen, indem man mit deren Einverständnis organisatorische Unterstützung und Versammlungsräume beschafft, ein Organisationsbüro einrichtet, das "Pulse of Europe" verfügbar ist. Die Unterstützung könnte von der EU-Kommission kommen... die werden vermutlich Menschen und Mittel haben, damit Bürgergespräche überall in der EU vorbereitet und durchgeführt werden können. Als EU-Vertreter könnte man je einen nationalen und einen oder zwei Abgeordnete aus Partnerstaaten mit Übersetzern einladen. Pulse of Europe bereitet das Thema des Bürgergesprächs vor und moderiert, damit kein Monolog eines dominanten Teilnehmers abgespult wird. Und dann fragt man eben solche Fragen: Wie kommen wir zum Ziel einer gemeinsamen Lösung; wie bekommen wir dieses Ziel über politische Parteien in Umlauf und als Nebenthema in nationalen Wahlen zur Kenntnis unserer Mitbürger?

Jeder halbwegs unterrichtete Mitbürger wird verstehen, daß eine Gemeinschaft sich auf etwas Vernünftiges einigen muß, damit sie faire Lebensmöglichkeiten für alle Mitglieder der Gemeinschaft bietet. Dann sollten sich bevorzugte Lösungen schon heraus schälen, von politischen Parteien vertreten und angeboten werden... national und noch vermehrt bei Europawahlen.

Ohne Mühe und Arbeit ist da nichts zu machen, und ohne einen Plan, der Schritt für Schritt zur Lösung führt, sicher auch nicht. Das Besondere ist ja, daß von jeder nationalen Lösung ein Pfad zur Gemeinschaftslösung gefunden werden muß. Die nationalen Lösungen gibt es ja schon, und zumindest unter den entwickelten Mitgliedsstaaten sind die gar nicht so sehr unterschiedlich.

Dabei kann ein Zeitraum von 50 Jahren betrachtet werden, also zwei Generationen von Unionsbürgern daran arbeiten. Niemandem soll etwas gegen seinen ausdrücklichen Willen übergestülpt werden. Dann suchen wir eben nach anderen Wegen, die gangbar sind. Einzige Voraussetzung: Die Partner sind sich einig über das gemeinsame Ziel, eines Tages von außen gesehen als ein Staat und Verhandlungspartner auf zu treten. Wenn dieser Wille fehlt, dann lohnt sich das Gespräch nicht, auch kein "Bürgergespräch".
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

H2O hat geschrieben:(08 Jan 2019, 22:44)

Kann ja sein, daß solcher Tadel den Verantwortlichen kein Unbehagen bereitet...
Er wird sie gar nicht erst erreichen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

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Tom Bombadil hat geschrieben:(09 Jan 2019, 20:54)

Er wird sie gar nicht erst erreichen.
Höchstwahrscheinlich! Niemand soll mir vorwerfen können, daß ich nicht immer wieder (vergeblich) auf Konzeptlosigkeit und Untätigkeit für eine Idee hingewiesen habe, die eben diese Politiker in Sonntagsreden hochleben lassen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(09 Jan 2019, 19:44)

Gibt es denn überhaupt ein aktuelles und konkretes Vorhaben, die Sozialsysteme in Europa anzugleichen? Mir ist nichts bekannt. Das ist ja gerade der Knackpunkt, dass vor der Euroeinführung keine Wirtschafts- und Sozialunion mitgedacht und mitgeplant worden ist. Bis auf den schon viele Jahre lang existierenden Europäischen Sozialfonds mit speziellen Leistungen (Jugendarbeitslosigkeits-Bekämpfung, Umschulung, Fortbildung etcpp) gibt es meines Erachtens nichts dergleichen. Und ich kann auch nicht sehen, dass sich die Nationalstaaten diese Aufgabe aus der Hand nehmen lassen. So etwas muss sehr langfristig und gründlich geplant werden und funktioniert nur bei Angleichung der Lohnverhältnisse, was ja auch nicht in Sicht ist. Also eine weitere Schimäre in der Debatte.
Und wenn das noch so "langfristig und gründlich geplant" wird, sind derartige Vorhaben nur per Top-Down-Prinzip durchsetzbar und damit NICHT demokratisch legitimiert. Genau das ist der Knackpunkt. Derartige Vorhaben sind immer mit Demokratieverlust verbunden.
Beschaftigungsverhältnisse, Bildung, Sozialsystem etc gehören in den Aufgabenbereich von Natinalstaaten, gehören zu deren Souveränitätsrechten und sind auch nur in Nationalstaaten demokratisch legitimierbar.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Jan 2019, 22:41)

Und wenn das noch so "langfristig und gründlich geplant" wird, sind derartige Vorhaben nur per Top-Down-Prinzip durchsetzbar und damit NICHT demokratisch legitimiert.
Nicht, wenn man die Bürger darüber abstimmen lässt.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

Ich glaube nicht, dass es darum geht, die kompletten Sozialsysteme zu vereinheitlichen, weder von unten noch von oben. Es geht einfach darum, dass die EU insgesamt und im Detail sozialer wird. Da gehts um einzelne Schritte, wie das erreicht werden kann. Da soll auch nichts "verordnet", sondern miteinander demokratisch besprochen und ausgehandelt werden. Hintergrund: Es gibt einfach zu viel prekäre Arbeit in Europa, zu wenige ordentliche sozialversicherungspflichtige Jobs, von denen man halbwegs normal leben kann. Arm trotz Arbeit, das kann ja wohl kein Zustand sein, der so bleiben sollte. Daher sind die Forderungen der Linken doch völlig ok, europaweite Mindestlöhne einzuführen und das in Höhe von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittslohns und die vielen prekären Jobs in sozialversicherungspflichtige umzuwandeln. Dafür sollen die zum Teil sehr schwachen Gewerkschaften wieder gestärkt und unter anderem grenzüberschreitende Tarifverträge eingeführt werden. Armutssichere Renten und Arbeitslosen-Mindestsicherungen gehören ebenfalls dazu. Es geht um soziale Mindeststandards in Europa... zum Beispiel bei der Grundversorgung mit Wohnraum, Wärme, Wasser, Zugang zum Internet und Energie. Auch von einem kostenfreien Grundkontingent für jeden Haushalt an Wärme, Wasser und Energie ist bei den Linken die Rede. Das sind alles Ziele, für die es natürlich Mehrheiten braucht, was schwer genug sein wird und in einzelnen Punkten sicher heute noch illusorisch ist. Aber es sich überhaupt nicht vorzunehmen, wäre für Europa fatal auf längere Sicht. Sozial schwache Einzelstaaten ohne ein gemeinsames Dach (Elemente einer Sozialunion), sind am Ende auch eine Gefahr für die Sicherheit der Länder und von Europa. Riesen soziale Unruhen, viel größer als jetzt, kann ja wohl keiner wollen.

Zitat:

In der EU sind mehr als 120 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich daher verpflichtet, bis 2020 mindestens 20 Millionen Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu holen. Auch die Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit diesem Problem.

https://ec.europa.eu/social/main.jsp?la ... &catId=751

http://www.europarl.europa.eu/factsheet ... grundsatze
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(08 Jan 2019, 16:06)
Ich spreche von Prägung und NICHT von Internalisation!
Du hast von Sozialisation gesprochen ("Menschen sind IN diesen Prozess eingebunden, werden IN diesem Prozess (dieser Kultur) sozialisiert UND geprägt. ").

Wobei ich zugeben muss, dass die Konsequenz und Unbeirrtheit, mit der Du so eine Art Neuscholastik betreibst (nach dem Motto: Weißt Du überhaupt wie "Nation" definiert ist?) mir zuweilen schon eine gewisse Bewunderung einflößt.

Begriffe wie "Nation", "Kultur" oder auch "Konstruktivismus" sind ambivalent, wurden mehrfach historisch überformt und werden im Ergebnis heute oft in verschiedenen Kontexten in ganz unterschiedlichen Auslegungen benutzt.

Der "Nationen"-Begriff bei Hegel etwa (und anderen Philosophen des 19. Jahrhunderts),ergibt sich gar nicht so sehr aus historischen Verläufen und abgrenzbare Menschengruppen, sondern ist vor allem als eine "Idee" aufzufassen. Mit erheblichen Nachwirkungen bis heute.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

Skeptiker hat geschrieben:(08 Jan 2019, 18:59)

Ehrlich gesagt nervt diese ganze Kulturdebatte, aber wenn Du sie unbedingt fortsetzen möchtest …
Wer schreibt denn, dass die fiktive Vermischung von Kulturen zu Kulturlosigkeit führen wird? Das wird sie natürlich nicht. Ich sehe auch niemanden der behauptet dass es so wäre. Eine "Einheitskultur" wäre auch eine Kultur - nur Multikulti ist dann nicht mehr - wohlgemerkt alles fiktiv, denn das wäre ein Extrem welches sich ausbilden würde, wenn jeder Mensch mit jedem anderen in unmittelbaren Kontakt stehen würde/könnte.

Die fiktive Vermischung von Kulturen wird zu einer Verringerung der Diversifität der Kulturen führen (der Anzahl unterschiedlicher Kulturen, nicht der potentiellen Vielfältigkeit innerhalb dieser Kultur). Das wiederum sollte Dir als Mathematiker schnell einleuchten.
...
Es stellt sich mir einfach (vor allem in diesem Thread) die simple Frage, was das eigentlich sein soll, "sich in 'Kulturen'" bewegen, einer 'Kultur' angehören. Ich weiß das einfach nicht zu deuten, zu verstehen. Vielleicht bin ich zu dumm. Oder meine Lebenswirklichkeit unterscheidet sich so deutlich von anderen, dass mir dieses Verständnis objektiv nicht möglich ist. Ich nutze Diensleistungen, konsumiere Produkte und erlebe soziale Kommunikation. In allen Fällen mit Komponenten aus ganz unterschiedlichen Weltregionen.

Eine ganz andere Geschichte ist die Sprache. In der bewegt man sich tatsächlich. Und nicht nur das: Man denkt, man existiert in Sprache. Da handelt es sich tatsächlich um eine Art basale Verknüpfung, der man nicht entkommen kann. Und in die natürlich beständig alle möglichen kulturgeschichtlichen Dinge hineinfließen. Sie hat aber gegenüber den Nationalstaaten die Eigenschaft, dass man sie praktisch im Kopf überallhin mitnehmen kann.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

Skeptiker hat geschrieben:(08 Jan 2019, 19:13)

Das ist das erste mal, dass ich davon lese, dass der Nationalismus auf dem Balkan zum erliegen kommen würde.

Es mag ja sein, dass es den von Dir geschilderten Fall so geben hat. Ich bin allerdings sehr vorsichtig damit entsprechende Berichte gleich als Anzeichen für eine "sich selbst heilende" Generation zu deuten. Dazu habe ich leider viel zu viele journalistische Fehlleistungen erlebt, als dass ich einen solchen Bericht ernst nehmen würde. Vielleicht beurteilt man da den Zuckergehalt des Brotes an der Rosine …
Wir leben in einer Zeit der Missionare in den Medien. Vorsicht ist angebracht. Es würde mich allerdings sehr freuen, wenn der Trend so wäre.
Das war tatsächlich auch nur so gemeint: Ein kleiner Hoffnungsschimmer in einem Meer von Nationalismus.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

Tom Bombadil hat geschrieben:(09 Jan 2019, 23:10)

Nicht, wenn man die Bürger darüber abstimmen lässt.
Vielleicht kann man das Konzept "Abstimmung" auch durch Bürgergespräche nach Vorschlag Macron und gemeinsame Willensbildung in eigenständigen Nationalstaaten ersetzen. In der EU scheint mir nur dieser Weg gangbar zu sein. Ein fertiges Konzept zur Abstimmung stellen, das könnte auf erbitterten Widerstand stoßen. Wenn man das Konzept gemeinsam entwickelt hat, dann könnte sogar Druck entstehen, das jetzt bitte endlich so zu machen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

In seiner Antrittsrede sprach der neue brasilianische Präsident von "Blut und Nation". Zu den Äußerungen Trumps in Hinsicht auf Nation wurde schon genug geschrieben. Sowohl der ukrainische wie der russische Präsident bechwören anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfest den Bund mit den jeweiligen Kirchen und die Vision einer Rückkehr zur jeweils großen Nation. Seit längerem schon befördert der aktuelle indische Premier den Hindu-Nationalismus. Der japanische Premier besucht regelmäßig eine heilige Stätte, in der die Seelen auch von kriegsverbrechern und Nazi-Kollaborateuren ehrt. Die neue rechtskonservative kroatische Regierung macht die faschistische Ustascha-Ideologie wieder salonfähig. Die ungarische Regierung arbeitet zielstrebig am Gedanken und WUnsch der Wiedereroberung Siebenbürgens. Kann man es einem verdenken, wenn man angesichts dessen dem Begriff "Nation" den Sympathiewert einer Blasenentzündung beimisst?
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

@ Schokoschendretzki:
"sich in 'Kulturen bewegen
Hier mische ich mich als Seiteneinsteiger einmal ein: Mich hatte vor Jahren überrascht, wie viele unterschiedliche Bindungen das Wort "Kultur" haben kann.

Wohl meist als "Art und Weise" zu verstehen: Gesprächskultur, Streitkultur, Eßkultur, Trinkkultur, Wohnkultur, Nationalkultur... Werbefachleuten werden auf Anhieb noch -zig weitere Kulturen einfallen. Kulturschock!

Da dürfte es schnell zu heftigem Streit (Streitkultur :eek: ) kommen, je nach Schwerpunkt der eigenen Sicht auf diese große Zahl von Bindungen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Jan 2019, 22:41)

Und wenn das noch so "langfristig und gründlich geplant" wird, sind derartige Vorhaben nur per Top-Down-Prinzip durchsetzbar und damit NICHT demokratisch legitimiert. Genau das ist der Knackpunkt. Derartige Vorhaben sind immer mit Demokratieverlust verbunden.
Beschaftigungsverhältnisse, Bildung, Sozialsystem etc gehören in den Aufgabenbereich von Natinalstaaten, gehören zu deren Souveränitätsrechten und sind auch nur in Nationalstaaten demokratisch legitimierbar.
Ich wüsste absolut keinen Grund, weslhalb etwa eine Abstimmung über den Bau des Swine-Tunnels in der deutsch-polnischen Europa-Region Pomerania undemokratisch oder nicht demokratisch legitimiert sein soll. Zumal die ganze Region davon betroffen ist.

Das Beispiel ist auch nicht nur ein Beispiel sondern das Gegenexempel, dass bereits als Einzelfall die Allgemeingültigkeit der Behauptung "nur in Nationalstaaten möglich" widerlegt.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(10 Jan 2019, 09:35)

@ Schokoschendretzki:



Hier mische ich mich als Seiteneinsteiger einmal ein: Mich hatte vor Jahren überrascht, wie viele unterschiedliche Bindungen das Wort "Kultur" haben kann.

Wohl meist als "Art und Weise" zu verstehen: Gesprächskultur, Streitkultur, Eßkultur, Trinkkultur, Wohnkultur, Nationalkultur... Werbefachleuten werden auf Anhieb noch -zig weitere Kulturen einfallen. Kulturschock!

Da dürfte es schnell zu heftigem Streit (Streitkultur :eek: ) kommen, je nach Schwerpunkt der eigenen Sicht auf diese große Zahl von Bindungen.

Es gbt aktuell zu der ganzen Problematik ein höchst aufschlussreiches Beispiel. Bekanntlich gibt es mit der rechtskonservativen japanischen Regierung Abe seit Jahren die Bestrebung Staat, Nation, japanische KUltur, Religion und Tradition wieder stärker zusammenzubringen. In diesem Kulturbild spielt der Tenno, der japanische Kaiser eine ganz zentrale Rolle. Als eine Art Zentrum der Welt. (In der Shinto-Religion wird Japan als auserwähltes Land der Götter angesehen und der Kaiser war lange Zeit, auch im 2. WK gleichzeitig oberster Militärführer. Diese Welt des traditionellen Japans will die Regierung Abe mit dem modernen Japan wieder stärker zusammenbringen. Und nun gibt es mindestens einen,, der dabei nicht mitmacht und sich verweigert: Nämlich ausgerechnet der Kaiser selbst. Der tritt nämlich im April (freiwillig) zurück. Und auch wenn sich Staatsoberhäupter ganz allgemein politisch zurückzuhalten haben oder sich gar nicht direkt zu äußern haben ... Sämtliche Kommentare, die mir dazu bekannt sind, gehen von einem DIssenz der Person Akihito mit den rechtsnationalistischen Visionen der Regierung aus. Akihito wird als ausgesprochener Pazifist gesehen. Der diesen umstrittenen yasukuni-Schrein niemals besucht hat. Und von seinem nachfolgenden Sohn wird behauptet, dass der nocheinmal mehr andere Weltvorstellungen hat. Selbst wenn man im absolutem Zentrum einer "Kultur" sitzt, hat man also die Freiheit zum Dissenz.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

@ Schokoschendretzki:
"Blut und Nation"
Dagegen kann sich niemand verwahren; durch Geburt und Erziehung gehört man einer Nation an, wenn die nicht gerade einmal auf die Blutlinie verengt wird. Das könnte in Brasilien etwas schwierig werden. In Europa nicht minder. Dann bleibt die gemeinsame Kultur in einer Nation, die in sich wieder mit Abstufungen in ihrer Intensität versehen ist. Gut verdünnt kann man damit fast überall ganz gut umgehen, in satten Tönen ist sie Leuten von Geist ein Graus... da kann man aber hinkommen, wo man will... da wendet sich der Gast mit Grausen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

@ Schokoschendretzki:
Freiheit zum Dissenz
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(10 Jan 2019, 09:53)

@ Schokoschendretzki:



Dagegen kann sich niemand verwahren; durch Geburt und Erziehung gehört man einer Nation an, wenn die nicht gerade einmal auf die Blutlinie verengt wird. Das könnte in Brasilien etwas schwierig werden. In Europa nicht minder. Dann bleibt die gemeinsame Kultur in einer Nation, die in sich wieder mit Abstufungen in ihrer Intensität versehen ist. Gut verdünnt kann man damit fast überall ganz gut umgehen, in satten Tönen ist sie Leuten von Geist ein Graus... da kann man aber hinkommen, wo man will... da wendet sich der Gast mit Grausen.
Die Frage ist, ob es bei solchen verbalen Entgleisungen bleibt. Es gibt ja die Ansicht, dass das unterbrechungslose mediale Dauerfeuer mit Provokationen von Trump eigentlich vor allem den Zweck hat, dass sich die "Leute von Geist" in der Welt darüber aufregen. Und nicht mehr so genau hinschauen was eigentlich und tatsächlich passiert.

Natürlich gehört jeder Mensch irgendeinem "Blut" an und irgendeiner abgrenzbaren Menschengruppe. Die dann zuweilen auch "Nation" genannt wird oder sich nennt. Aber "Blut und Nation" in der Verbindung ist eben eine kulturelle Aufwertung und Ideologisierung dieser Begriffe. Und jedem politisch interessierten Menschen ist eigentlich klar, in welche Richtung mit der Verbindung dieser Begriffe Assoziationen hervorgerufen werden sollen.

Der entscheidende Punkt nun ist: Derlei verbale Entgleisungen war man in den Nachrkiegsdekaden von durchgeknallten DIktatoren aus kleinen Staaten wie Haiti oder Äquitorialguinea gewohnt. (bei allem Respekt). Nun aber sind es nicht mal nur die mittleren sondern die wirklich ganz großen. Und die ökonomischen Aufsteiger. Es wird häufig behauptet, die Nation sei auch ein Konstrukt der orientierung und Stabilisierung von Gesellschaften. Nie zuvor jedoch geht die politische Instrumentalisierung des Nationen-Begriffs für sehr viele Menschen so sehr mit der Befürchtung einher, die ganze sogenannte internationale Gemeinschaft breche auseinander.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

H2O hat geschrieben:(10 Jan 2019, 09:20)

Vielleicht kann man das Konzept "Abstimmung" auch durch Bürgergespräche nach Vorschlag Macron und gemeinsame Willensbildung in eigenständigen Nationalstaaten ersetzen.
Nein, das kann man mMn. nicht, wenn es um solche fundamentalen Änderungen geht, denen muss eine - imho deutliche - Mehrheit der Bürger zustimmen, sonst funktioniert es nicht.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Jan 2019, 09:21)

Kann man es einem verdenken, wenn man angesichts dessen dem Begriff "Nation" den Sympathiewert einer Blasenentzündung beimisst?
Erdogan hast du noch vergessen :) Und was sagt dir das über den Zustand der Menschheit? Wären die Bürger der genannten Staaten mit dieser Politik nicht einverstanden, würden sie solche Politiker ja gar nicht erst wählen oder sie irgendwann zum Teufel jagen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Jan 2019, 09:21)

In seiner Antrittsrede sprach der neue brasilianische Präsident von "Blut und Nation". Zu den Äußerungen Trumps in Hinsicht auf Nation wurde schon genug geschrieben. Sowohl der ukrainische wie der russische Präsident bechwören anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfest den Bund mit den jeweiligen Kirchen und die Vision einer Rückkehr zur jeweils großen Nation. Seit längerem schon befördert der aktuelle indische Premier den Hindu-Nationalismus. Der japanische Premier besucht regelmäßig eine heilige Stätte, in der die Seelen auch von kriegsverbrechern und Nazi-Kollaborateuren ehrt. Die neue rechtskonservative kroatische Regierung macht die faschistische Ustascha-Ideologie wieder salonfähig. Die ungarische Regierung arbeitet zielstrebig am Gedanken und WUnsch der Wiedereroberung Siebenbürgens. Kann man es einem verdenken, wenn man angesichts dessen dem Begriff "Nation" den Sympathiewert einer Blasenentzündung beimisst?
:D :thumbup:

Der war gut. Geht mir genauso. Alles andere, was du beschreibst, lässt mich sehr nachdenklich werden. Ich wusste, dass der europäische Rechtsruck heftig ist, aber dass es so schlimm ist, wusste ich nicht. Ustascha! Unsäglich. Danke für deine interessanten Infos und Kommentare.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von H2O »

Tom Bombadil hat geschrieben:(10 Jan 2019, 12:06)

Nein, das kann man mMn. nicht, wenn es um solche fundamentalen Änderungen geht, denen muss eine - imho deutliche - Mehrheit der Bürger zustimmen, sonst funktioniert es nicht.
Genau das denke ich aber auch. Ich erwarte nicht, daß Europa "von ganz unten" wächst. Dazu ist die Zahl der Menschen viel zu groß, sind auch Unterschiede viel zu groß. Dazu muß man die Mitmenschen "abholen" und "mitnehmen", nachvollziehbare Gedanken gemeinsam bewerten und aufnehmen. So lange das im gegenseitigen Respekt geschieht, sollte das teelöffelweise gelingen. Auf diese Weise würde ich hoffen, nationale Mehrheiten auf das gemeinsame Ziel zu richten. Man muß aus meiner Sicht auch aufgeben können, wenn diese klare Mehrheit in der einen oder anderen Nation nicht zu erringen ist. Dann eben ohne sie, oder später nach gewachsener Einsicht. Vor allem gehören immer wieder Politiker der anderen Nationen mit ins Gespräch, damit die Mitbürger sehen... ach, das ist ja auch nur jemand, der durch Zufall und Schicksal nicht von uns ins Rennen geschickt wurde.

Schwierig, aber vielleicht planvoll machbar auf der Grundlage des schon Erreichten; eine Gemeinschaft der Willigen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Tom Bombadil »

H2O hat geschrieben:(10 Jan 2019, 13:07)

Ich erwarte nicht, daß Europa "von ganz unten" wächst.
Das muss es auch nicht, der Anstoß soll und muss von "den Eliten" kommen, die müssen sich zuerst einig sein, dann kann man Angleichungen planen und darüber lässt man dann die Bürger abstimmen. Fällt das Vorhaben durch, muss man fragen, was zur Ablehnung führte, nachbessern und neu abstimmen lassen.
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Re: Eine Welt ohne Grenzen, der Nationalstaat am Ende?

Beitrag von Dark Angel »

Tom Bombadil hat geschrieben:(09 Jan 2019, 23:10)

Nicht, wenn man die Bürger darüber abstimmen lässt.
Das setzt Volksabstimmungen voraus und die sind im GG nicht vorgesehen. Da gibt es zumindest in Deutschland ein Problem.
Wie Volksabstimmungen ausgehen können, wenn politische Ziele per Top-Down-Prinzip durchgesetzt werden sollen, zeigt das britische Votum. Die Entscheidung, überhaupt eine Volksabstimmung durchfühen zu lassen, hat Gründe und das Ergebnis ebenso.
Ich will nicht darüber spekulieren, was zur Brexit-Abstimmung geführt hat, dazu gab es zu wenige (seriöse, ideologiefreie) Hintergrundinfos, aber die Gefahr eines solchen Ergebnisses besteht in allen EU-Mitgliedsstaaten, deren Verfassungen Volksabstimmungen zulassen.
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