schokoschendrezki hat geschrieben:(29 May 2017, 12:53)
Gut. Ja. Das Wirken der Institutionen eines demokratischen Staates ist
natürlich eine öffentliche Sache.
Ich meinte nicht die Institutionen eines demokratischen Staates, sondern das institutionelle Prinzip dahinter. Nicht die konkrete Ausgestaltung, sondern der Zwang zu einer Ausgestaltung überhaupt. Demokratie ist immer Institution, anders ist sie gar nicht denkbar. Das Prinzip der Öffentlichkeit versteckt sich meiner Meinung dahinter, weswegen ich nicht verstehe, wie du Demokratie als privates Prinzip betrachten kannst. Nicht nur ihre Natur, sondern auch ihre Ausformung hat Öffentlichkeit zum Bezugspunkt. Demokratie ist das Prinzip der Öffentlichkeit. Dazu gehört allerdings auch
Man nehme nur einmal das Bildungssystem. Und dennoch ist selbst für dieses Bildungssystem, mit dem jeder Bürger einmal im Leben lange und intensiv in Berührung kommt, kein explizites Bekenntnis nötig. Das hat (mindestens) auch damit zu tun, dass es bei Nichtintegration ein System von Sanktionierungen, Strafandrohungen bis hin zum Schulverweis gibt. Und es hat meiner Ansicht auch damit zu tun, dass man ein Recht zum Nichtbekenntnis hat. Die Funktionsfähigkeit des Bildungssystems als demokratischer Insitution ist wichtiger als das private Bekenntnis zu ihr. Oder ganz einfach gesagt: Solange ich den Unterricht nicht störe, kann ich mich (innerlich) zu allem möglichen bekennen. Insofern, meinte ich ist Demokratie bzw. besser Bekenntnis zur Demokratie Privatsache.
Es gibt sicher Grenzbereiche, in denen es schwer fällt, dieses Prinzip zu befürworten. Pädophilie zum Beispiel. Ihre Ausübung wird bestraft bzw. die gesetzliche Strafandrohung wirkt der Ausübung entgegen. Oder sollte es jedenfalls. Es ist aber nicht strafbar, sich zu pädophilen Neigungen zu bekennen. Zumindest, wenn dieses Bekenntnis nicht in einer Form stattfindet, die an sich schon als pädophile Handlung zu werten ist.
Das ist der Unterschied zu nichtdemokratischen Systemen: Dass dort einmal nicht (nur) eine Handlung sondern bereits eine Neigung strafbar ist. Und dass zum anderen präventiv "Bekenntnisse" eingefordert werden. Deshalb ist der Vergleich mit dem "Fahnenappell auf dem Schulhof", der in mehreren aktuellen Kommentaren zur Leitkulturdebatte vorgebracht wurde, auch so passend.
das Recht auf Privatheit. Ich stimme dir zu, woran ich glaube, was und wie ich denke, wie und ob ich das kundtue, das ist Privatsache. Aber für mich liegt das im öffentlichen Prinzip von Demokratie begründet, es ist für mich untrennbar miteinander verbunden. Ich entscheide, wie und ob ich die öffentliche Sphäre betrete und in ihr agiere. Die Aufforderung zu einem Bekenntnis zur Demokratie läuft dem öffentlichen Prinzip entgegen. Sie verletzte es, indem in ihr die Aufblähung der öffentlichen Sphäre enthalten ist; indem sie in die private Sphäre übergreift. Dahinter steht die Möglichkeit zum Verschwinden des privaten Raumes, womit der öffentliche ebenfalls nicht mehr vorhanden wäre. Es machte keinen Unterschied, ob Öffentlichkeit verschwindet oder alles umfasst - sie wird so total. Beides wäre grenzenlose Öffentlichkeit, beides ist im Grunde gegen das Individuum gerichtet. Im ersten Fall wird das Recht auf politische Betätigung geraubt und das Individuum somit der Willkür ausgeliefert. Im zweiten Fall verdrängt der Anspruch die Individualität, der Anspruch auf eine Normierung auf das, was der momentanen Gesellschaft mengenmäßig als vorherrschende Werte und Moral gilt. Damit bin ich wieder bei schelms Forderung, dass Identifikation nach inhaltlichen Maßstäben zu erfolgen habe.
So betrachtet wäre eine Bekenntnisforderung nicht nur ein undemokratischer (im hier verstandenen Sinne) Akt, sondern kann als im Kern totalitär aufgefasst werden.
Allerdings sollte meiner Ansicht nach nicht verkannt werden, dass Demokratie ein scheinbarer Widerspruch zugrunde liegt. Demokratie bedeutet Bekenntnisfreiheit, bedarf aber der Lebendigkeit von sie tragenden Werten. Sonst würde sie hohl. Ich denke, dass das einer der Gründe für die derzeit zu beobachtende Erosion der demokratischen Gesellschaften ist. Die (universellen) Werte der Individualitätsentfaltung und des -schutzes scheinen nicht mehr als zu schützende Werte zu gelten. Diese Identifikationen gilt es wiederzubeleben, womit der scheinbare Widerspruch sichtbar wird: Die Förderung von und der Kampf um Werte, die niemand zu übernehmen verpflichtet ist. Diese Verpflichtung kann nur aus den Individuen selbst wachsen. Das die Privatheit schützende Prinzip der Öffentlichkeit - indem die Trennung Bedingung ist - muss gegen diese Trennung selbst gerichtet sein, wenn es bestehen will. Ich bezeichne diesen Widerspruch als nur scheinbar, weil er auszuhalten ist. Die Gegensätzlichkeit existiert gleichzeitig, man muss sich dessen bewusst machen, sie wahrnehmen, um damit (mit der Tendenz des EIndringens in die private Sphäre einerseits und der Tendenz zur Gleichgültigkeit demokratischer Werte gegenüber) umgehen zu können. An die Verpflichtung des Individuums zu appellieren, damit die pflichtfreie Individualität weiter bestehen kann. Hat ja keiner je behauptet, dass Demokratie nichts anstrengendes sei.
Das hat freilich nichts mit Bekenntnisforderungen zu tun. Verlangte Bekenntnisse tragen nicht nur nicht zur Lebendigkeit der Demokratie tragenden Werte bei, sondern unterhöhlen diese, da Bekenntnisfreiheit (=Recht auf Individualität) zu den grundlegenden Werten von Demokratie gehört. Wer sowas fordert, offenbart seine Unkenntnis darüber, was eigentlich zur Demokratie gehört. Kollektivismus verträgt sich einfach nicht mit freiheitlichen Bestimmungen.