schokoschendrezki hat geschrieben:(03 Aug 2018, 09:07)
Das ist viel viel zu einfach gedacht.
Es gibt - wie hier schon mehrfach richtig geschrieben wurde - offensichtlich ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis nach Transzendenz, Überschreitung, Metaphysik, Erstbegründungen, Welterklärungen, nach Zusammenhangsherstellungen zwischen dem ganz persönlichen Ich und dem Universum usw. Das wird weder durch moderne Naturwissenschaft noch durch Technologie oder arbeitsteilige Produktion anulliert. Dann gibt es das Bedürfnis nach einem sozialen WIr, einer sozialen Gemeinschaft. Und dann gibt es die politische Instrumentalisierung dieser Bedürfnisse. Im Islam wie in den anderen Religionen. Und alles greift ineinander.
Wenn in Ungarn oder sonstwo in Osteuropa, besonders im ländlichen Raum, die Leute wieder zu annähernd 100 Prozent in Sonntagskleidung in die Kirche zum Sonntagsgottesdienst gehen ... wie früher mal ... dann rate ich zur Vorsicht vor scheinbar naheliegenden Denunziationen. Zum Beispiel der, dass diese Leute nicht wirklich gläubig sind, Religion nicht wirklich selbstlos und tief empfinden. Oder dass sie einfach nur dumm sind. Sie glauben in der Mehrzahl wirklich. Und es sind ebenso Ingenieure, Lehrer, Programmierer wie Leute aus einfachen Berufen. Und genauso ist dieser wiederentdeckte Traditionalismus Teil einer als Stabilisierung sozialer Gemeinschaftlichkeit empfundenen Entwicklung. Und genauso wird die Institution Kirche und ihre Symbole politisch in Ländern wie Ungarn oder Russland oder in Bundesländern wie Bayern politisch instrumentalisiert. Die Dinge sind ineinander verschränkt.
Zunächst zum Thema "Absterben der Religionen": Zumindest die großen Kirchen verlieren immer mehr Mitglieder. Die alten Gläubigen sterben weg. Die jungen Eltern taufen ihre Kinder immer seltener. Insofern kann ich zumindest schon eine gewisse Säkularisierung in Deutschland beobachten. Natürlich boomt der Esoterikmarkt. Und die Yogakurse sind oftmals voll. Gelebtes Yoga ist ja dabei auch etwas in der Art religiöses, wie ich am Beispiel meines Bruders erkennen darf. Aber viele Leute sind dann doch im klassischen Sinne nicht mehr religiös. Und natürlich gibt es auch unter den Materialisten fitnesssüchtige, die meinen, dass der Körper eine Art Tempel sei, den man durch möglichst viel Sport fit halten müsse, um die eigene Sterblichkeit noch etwas hinauszuzögern.
Die Ungarn etc. verstehe ich nicht. Es kann sicher sein, dass sie wahrhaft glauben. Aber stellen sich die Leute dort nicht die Frage, wo denn beispielsweise in unserem Universum der viel beschriebene Himmel sein soll, in dem sich Jesus ggerade seit 2.000 Jahren aufhalten soll? Die Religionen haben ja in großen Teilen den Nachteil, dass sie genau definieren wollen, wie denn ihr spezielles göttliches Wesen zu sein habe. Ebenso das Jenseits etc. Ohne Verluste an Glauben geht das alles also nicht vonstatten, wenn man denn an einen Gott glauben will. Und auch im Bereich der Entstehung der Erde und der Menschheit wird, außer bei radikalen Fundamentalisten, anerkannt, dass das Leben auf der Erde durch Evolution entstand.
Was die soziale Gemeinschaft betrifft: Hier habe ich ja selbst die Befürchtung geäußert, dass ohne ein gemeinsames gesellschaftliches Narrativ, das die Leute wieder zusammenschweißt, die Gesellschaft auch in Deutschland in immer mehr Subkulturen zerfallen könnte, die miteinander nicht mehr kooperationsfähig sind. Ich halte dabei einen säkularen Humanismus, der die Rechte der Individuen achtet, für notwendig. Mehr Gemeinschaft ist gut. Sie sollte aber auf freiwilliger Basis entstehen und funktionieren. Denn ansonsten ziehen hier immer mehr Leute eine Ego-Show ab und nehmen nicht mehr aufeinander Rücksicht. Ich sage auch nicht, dass dieser säkulare Humanismus als Bewegung automatisch entstehen wird. Aber als Grundlage halte ich so etwas für die beste Möglichkeit, da ansonsten die Leute in unserer Gesellschaft bald nichts mehr haben, was sie im posiitiven Sinne zusammenschweißt. Es gibt dann kein gemeinsames Ziel, auf das eine Mehrheit hinarbeitet und das für diese erstrebenswert ist.
Die ganzen Tribalismen der Vergangenheit -Religionen, Nationalismen, Rassismen- betrachte ich hierzulande als Gefahr. Wie das Beispiel Polen zeigt, wird dort der Rechtsstaat und die Demokratie geschleift. Wenn die Leute hierzulande wieder religiöser werden würden, dann entstünde ein Gruppendruck, der nicht mehr auf Freiwilligkeit beruht. Das Christentum würde die Rechte von notleidenden Frauen missachten, die abtreiben wollen. Bei den jungen Muslimen wiederum wird das Fasten zum Sport, bei dem jeder sich als der härteste Typ darstellen will. Frauen in beiden Religionen würden wohl ermuntert werden, mehr Kinder zu kriegen und sich als Gebärmaschinen zu betätigen, anstatt in einem geregelten Job ihr eigenes Geld zu verdienen. Eine große Anzahl von Leuten würde wohl durch den neu entstandenen Gruppendruck Teile ihrer Freiheitsrechte verlieren -egal ob Deutschland eine AfD-Regierung bekäme oder aber muslimisch werden würde. Aber Zwang ist meines Erachtens abzulehnen.
Was ich jednefalls auch beobachte, ist eine Art negativer Zusammenhalt. Da gibt es auf der einen Seite die muslimische Seite, die sich in eine Wagenburg flüchtet, weil sie sich vom Rest der Gesellschaft diskriminiert fühlt. Und in solchen Kreisen wird der Islam wieder großgeschrieben. Auf der anderen Seite sind es dann deutsche Mitbürger, die sich vor allem dadurch gegenseitig Zusammenhalt signalisieren, dass sie gegen die bösen Muslime sind. Beide Seiten definieren sich also in ihrem jeweiligen Zusammengehörigkeitsgefühl dadurch, dass sie eben nicht so sind wie die Gegenseite. Was ich mit dem Konzept eines positiven Zusammenhaltes meine, ist ein säkularer Humanismus, bei dem alle zusammen gemeinsam und ohne Zwang von außen für ein besseres Deutschland kämpfen wollen. So etwas kann ich aber nicht erkennen. Die Religionen können in unserer säkularen Gesellschaft jedenfalls die Leute nicht mehr einen. Zumindest die christlichen Kirchen verlieren massenweise Mitglieder. Der Neoliberalismus spaltet das Land. So bleibt meines Erachtens nur etwas aus der säkularen Welt, das den Leuten wieder ein gemeinsames Narrativ schenken kann. Man wird ja noch träumen dürfen, oder?