Laertes hat geschrieben:(25 Nov 2017, 10:04)
Trifft den Nagel auf den Kopf. In dieser durch welche eigene Ideologie auch immer vermeintlich gerechtfertigten
Entmenschlichung vereinen sich alle Unrechtsregime, Terroristen und militanten
"Freiheitskämpfer" dieser Welt.
Das Problem ist mMn der unhintergehbare Mechanismus der Abgrenzung, der jeder kollektiven Identität innewohnt. Der Unterschied zu individuellen Identitäten liegt in der Werteaufladung, die nötig ist, damit kollektive Identitäten auch verbindende Wirkung entfalten können. Darin enthalten ist die Potentialität der Abwertung anderer. Anders gesagt, die Potentialität zur Ideologie (und damit zum Hypermoralismus) wohnt jeder kollektiven Identität inne. Daher habe ich ein tiefes Misstrauen gegenüber sich betont wertebasiert gebenden kollektiven Identitäten, wozu kulturelle wohl gehören. Dann wiederum gehören kollektive Identitäten zur menschlichen Bedingtheit. Die Identifizierung mit Familie und Freundeskreis kennen fast alle Menschen.
Selina hat geschrieben:(25 Nov 2017, 12:41)
Das scheint mir der Kern der ganzen Diskussion zu sein. Zuerst einmal ist jeder Mensch, ob er nun Sauerkraut isst oder Bulgur, ob er Gartenzwerge sammelt oder bunte Gebetsfähnchen aufhängt, ob er arschkurze Röckchen trägt oder längere Tschadors, ab er schwul ist oder hetero, Atheist oder Christ, Buddhist oder Muslim... er ist Mensch. Auch wenn es schwer fällt, es zu sehen, aber sogar hinter der brüllenden Maske eines völlig enthemmten Pegidisten steckt irgendwo... ein Mensch. Bei Leuten, die andere bestialisch foltern, bin ich mir dann nicht mehr ganz so sicher...
Doch, auch folternde Sadisten sind Menschen - deren bestialische Neigung ist (leider) eine menschliche, wenn auch glücklicherweise seltene. Bei all berechtigtem und nachvollziehbarem Abscheu sollte das nicht vergessen werden.
Sextus Ironicus hat geschrieben:(25 Nov 2017, 14:12)
Letzteres funktioniert jedoch auch umgekehrt. Der wichtigste Begriff, der dafür steht, heißt Solidarität.
Ich muss drüber nachdenken, denn was ich nicht nachvollkziehen kann momentan ist die Idee "Identität Mensch". Ich sehe nicht, wie es einen außer- oder gegenkulturellen Identitätsbegriff geben könnte. Denn im Begriff Identität drückt sich m.E. wesentlich eine Beziehung aus, oder ein Bezugsrahmen, und der ist immer schon vorhanden und wird kulturell vermittelt.
Aus pragmatischer Sicht halte ich den universalen Bezugspunkt auch für ein theoretisches Konstrukt, dass dem alltäglichen Handeln des Menschen nur schwer zu vermitteln wäre. Weder Erfahrungen noch Gefühle können geboten werden, und da scheint mir der Schwachpunkt eines solchen alle kulturellen Identitäten aushebelnden universalen Punktes zu sein. Der, nebenbei gesagt, auch zu einer völligen Entgrenzung aller Verantwortung führen würde.
Solidarität ist zwar gemäß eines argentinischen Arztes die Zärtlichkeit der Völker, aber dem würde ich nicht folgen. Solidarität ist Ausdruck der Vernunft, keiner der Leidenschaft. (Obschon Leidenschaften auch sponte Solidarisierungen wecken können, stimmt schon.) Zur Institutionalisierung taugt sie aber nicht als affektive.
Identität drückt auch mMn nach eine Beziehung aus, nämlich die von sich zur Mit- und Umwelt. Die ist allerdings nicht schon immer vorhanden, sondern bildet sich aus. Erst die Existenz anderer bringt die Sinnhaftigkeit des Konzeptes von Identität hervor, das Ich verliert an Bedeutung ohne Bezugspunkt zum Er/Sie. Das ist meiner Ansicht nach zuvorderst psychologisch bedingt - die Abgrenzung von der Familie und die Entdeckung der Eigenständigkeit und darüber die Vermittlung der Zugehörigkeit. Identität ist hier zweischneidig, sie trennt, um verbinden zu können. Ich bin mir nicht sicher, ob sich hier wirklich sinnvoll zwischen kulturell vermittelt oder bedingunsgmäßig angelegt unterscheiden lässt. Zumindest scheint es mir der Verweis auf kulturelle Vermittlung zu weit gegriffen zu sein.
Deinen letzten Absatz kann ich nicht nachvollziehen. Nationen waren (und sind) Katalysator kollektiver Identitäten und ich bin mir sicher, jeder Patriot (von Nationalisten brauchen wir hier nicht sprechen) verstünde diese als kulturelle. Und zwar eine sehr speziell kulturelle, eben eine typische polnische, französische oder deutsche. Das Konstrukt Nation aber ist vom täglichen Leben meilenweit entfernt, weit entfernter als das Menschsein als universaler Bezugspunkt. Letzter begegnet einem ständig, sofern man nicht ein isoliertes Emeritendasein fristet. Die Interaktion mit Menschen führt das Abstrakte täglich konkret vor Augen, freilich ohne die abstrakten universalen Ideale dahinter zu offenbaren. Also sind doch im Gegenteil Erfahrungen und Gefühle die nachvollziehbare, im Sinne von durch Reflektion erfahrbare Grundlage der Universalität.
Im Gegensatz zu kulturellen Identitäten, die gänzlich abstrakt sind. Die Universalität sehe ich aber auch nicht als Kontrapunkt, sondern als komplementär an. Und muss es ja auch, sonst tappte ich in dieselbe Falle der potentiellen Entmenschlichung, indem ich Anhängern kultureller Identitäten ihr Menschsein abspräche (denn das sei ausschließlich universell).
Und ich würde meinen, dass im Gegenteil die Vergewisserung des Ich im Anderen erst zur Verantwortlichkeit führt. Sonst wäre sie nur beliebig und willkürlich, auf Sympathien und nicht auf Einsicht gegründet.