Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Doch, auch folternde Sadisten sind Menschen - deren bestialische Neigung ist (leider) eine menschliche, wenn auch glücklicherweise seltene. Bei all berechtigtem und nachvollziehbarem Abscheu sollte das nicht vergessen werden.
Sie sind vielleicht sogar nirgends so sehr Mensch in dem Sinne, als sich hier der Unterschied zu den anderen Tieren dieses Planeten sehr nachdrücklich zeigt
Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Solidarität ist zwar gemäß eines argentinischen Arztes die Zärtlichkeit der Völker, aber dem würde ich nicht folgen. Solidarität ist Ausdruck der Vernunft, keiner der Leidenschaft. (Obschon Leidenschaften auch sponte Solidarisierungen wecken können, stimmt schon.) Zur Institutionalisierung taugt sie aber nicht als affektive.
Ich wollte damit nur ausdrücken, dass die Leidenschaften, die mit der Zugehörigkeit zu einer Kultur verbunden sind, auch in diese Richtung wirken können, nicht nur in Richtung Krieg. Man nimmt beispielsweise Glaubensbrüder aus irgendwelchen fremden Ländern explizit aus diesen Gründen bei sich auf.
Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Identität drückt auch mMn nach eine Beziehung aus, nämlich die von sich zur Mit- und Umwelt. Die ist allerdings nicht schon immer vorhanden, sondern bildet sich aus. Erst die Existenz anderer bringt die Sinnhaftigkeit des Konzeptes von Identität hervor, das Ich verliert an Bedeutung ohne Bezugspunkt zum Er/Sie. Das ist meiner Ansicht nach zuvorderst psychologisch bedingt - die Abgrenzung von der Familie und die Entdeckung der Eigenständigkeit und darüber die Vermittlung der Zugehörigkeit. Identität ist hier zweischneidig, sie trennt, um verbinden zu können. Ich bin mir nicht sicher, ob sich hier wirklich sinnvoll zwischen kulturell vermittelt oder bedingunsgmäßig angelegt unterscheiden lässt. Zumindest scheint es mir der Verweis auf kulturelle Vermittlung zu weit gegriffen zu sein.
Ich sehe lediglich in der Praxis keine außerkulturelle Vermittlungsinstanz. Wir sind als Individuen aus meiner Sicht immer schon eingebettet in einen soziokulturellen Kontext - der in sich nicht starr ist. Die Vermittlung innerhalb dieses soziokulturellen Kontextes erfolgt durch unterschiedlichste Institutionen (bei der Familie angefangen).
Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Deinen letzten Absatz kann ich nicht nachvollziehen. Nationen waren (und sind) Katalysator kollektiver Identitäten und ich bin mir sicher, jeder Patriot (von Nationalisten brauchen wir hier nicht sprechen) verstünde diese als kulturelle. Und zwar eine sehr speziell kulturelle, eben eine typische polnische, französische oder deutsche. Das Konstrukt Nation aber ist vom täglichen Leben meilenweit entfernt, weit entfernter als das Menschsein als universaler Bezugspunkt. Letzter begegnet einem ständig, sofern man nicht ein isoliertes Emeritendasein fristet. Die Interaktion mit Menschen führt das Abstrakte täglich konkret vor Augen, freilich ohne die abstrakten universalen Ideale dahinter zu offenbaren. Also sind doch im Gegenteil Erfahrungen und Gefühle die nachvollziehbare, im Sinne von durch Reflektion erfahrbare Grundlage der Universalität.
Ja, mit den Nationen betreten wir auch schon das politische Feld. Historisch ist aus meiner Sicht "Nation" im Sinne eines Nationalstaates erst einmal die Institution gewesen, die uns aus dem Clanwesen und dem Recht des Stärkeren herausgeführt hat. Da würde ich die Erschöpfung von 1648 als "Erweckungserlebnis" bezeichnen. Und Nationalstaaten bilden natürlich auch kollektive Identitäten, befördern diese "Wir-Intentionalitäten" die auch auf der Mikroebene konstitutiv für die Überlebenssicherung sind. Allerdings halte ich persönlich die kulturelle Identität für den weiteren Begriff, die über das Nationale hinausgeht. Die positive Funktion des Nationalstaates liegt für mich historisch gesehen darin, dass er die Institutionen hervorgebracht, kulturelle Identität wirksam zu schützen. Dass er aber, wenn das Nationale in bestimmten Vermischungen oder Hervorhebungen von Elementen der kulturellen Identität, über alles andere triumphiert, zur wirkungsmächtigen Negativkraft wird, liegt wohl ebenfalls in der "Natur" seiner Sache, die wie alles menschliche Leben ambivalent ist - Stefan Zweig hat im Einleitungskapitel seiner Autobiografie ein eindrucksvolles Zeugnis für das Aufkommen des Nationalen und der Folgen gegeben.
So, und dann haben wir dieses Positive und Negative, an dem sich der Streit entzündet. Hier schlage ich mich mit Skeptikern oder Pragmatikern wie Marquard oder auch Rorty (trotz anderer Wahrheitsauffassungen als Rorty) dann gegen Foucault & Co. auf die Seiten der Kompensationsvertreter. Für mich ist er unterm Strich, in wohlständigen halbwegs rechtsstaatlichen Verhältnissen aus strukturellen Gründen der bessere Garant von Freiheit und kultureller Identität. Das hat für mich persönlich nichts mit irgendwelcher Symbolik zu tun, sondern mit der besseren Funktionalität kleiner Einheiten. Und ich glaube, um auf deinen letzten Satz zu antworten, dass es gerade Gefühle und Erfahrungen sind, die dem universalen zuwiderlaufen. Für mich ist nicht ein Abstraktum Mensch der Bezugspunkt. Die Person, als die ich in dieser Kultur agiere, als die ich anerkannt bin, konstituiert sich für mich in einer konkreten Umgebung aus den dort geltenden Normen heraus, nicht gegenüber oder aus einem abstrakten Ideal. Wenn alle eine Identität Mensch hätten, löst sich Identität in einem Nichts auf, unser Sprechen darüber wäre sinnlos, es wüsste keiner, was es ist (wenn alle Abi haben, hat keiner eins).
Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Im Gegensatz zu kulturellen Identitäten, die gänzlich abstrakt sind. Die Universalität sehe ich aber auch nicht als Kontrapunkt, sondern als komplementär an. Und muss es ja auch, sonst tappte ich in dieselbe Falle der potentiellen Entmenschlichung, indem ich Anhängern kultureller Identitäten ihr Menschsein abspräche (denn das sei ausschließlich universell).
Kulturelle Identitäten sind vollkommen konkret. Die Tatsache der potenziellen Entmenschung anderer hebt das nicht auf. Die Erkenntnis dieser Potenzialität ist lediglich die Aufforderung, damit vernünftig umzugehen.
Übrigens unterläuft für mich das Konzept Identität Mensch auch jede Integrationsanstrengung, da im Zweifelsfall immer diese der kulturellen Identität als normativ vorrangig gegenübergesetzte Identität alle praktischen Bemühungen letztendlich aushebeln würde. Sie zementiert einen absoluten Relativismus und versucht die totale Negation der Negation. Aber die wäre nur zu einem hohen Preis zu haben, der für mich persönlich nicht mehr zu kompensieren wäre.
Unité 1 hat geschrieben:(25 Nov 2017, 17:17)
Und ich würde meinen, dass im Gegenteil die Vergewisserung des Ich im Anderen erst zur Verantwortlichkeit führt. Sonst wäre sie nur beliebig und willkürlich, auf Sympathien und nicht auf Einsicht gegründet.
Den Satz muss ich nochmal mitnehmen. Ich habe das "Divinisierungs"projekt des Anderen von Levinas nie verstanden, vielleicht weil ich einfach instinktiv rebelliere.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)