Selina hat geschrieben:(10 Oct 2017, 11:55)
Da sehe ich hier genauso, wie ich es im Gender-Thread auch sehe: Nichts, was mit dem Verhalten des Menschen zu tun hat (auch Süchte), sollte losgelöst von den jeweiligen Verhältnissen betrachtet werden, in denen sich der Mensch befindet. Und da ist es völlig egal, ob es sich um stoffliche oder Verhaltenssüchte handelt. Jegliche menschliche Erscheinung immer nur aus sich selbst heraus, losgelöst von den Umständen und Verhältnissen, in denen Menschen agieren, zu betrachten, ist einseitig und ebenfalls biologistisch (was ich dir natürlich keinesfalls unterstelle). Daher hat dieser soziale Aspekt auch durchaus etwas mit dem hier thematisierten Anstieg der Verhaltenssüchte zu tun. In den diversen Suchttherapien ist dieser Punkt allerdings genauso umstritten, wie er das hier auch ist. Da gibt es soziale Ansätze zu Verhaltensänderung ebenso wie solche, die nur auf das betroffene Individuum selbst bezogen sind, ohne Einbeziehung der Außenfaktoren. Übrigens: Erstere soziale Variante (Kopplung von Gruppen- und Einzeltherapie, alltagsnahe therapeutische Behandlung, Einbeziehung von Kollegen und Familienangehörigen des Süchtigen) hat eine niedrigere Rückfallquote zur Folge.
Ich meinte mit dem letzten Satz, dass das wenig mit dem
aktuellen Thema zu tun habe, auch nicht, dass die soziologische Situation keinen Einfluss habe, sondern dass diese Situation Mitte der 90er doch schon eine andere ist als heute, Mitte der 10er. Also nach den großen Finanzkrisen (Ich hab' jemanden im Bekanntenkreis, der zu mindestens einem Dutzend von Leuten gehört, die durch Spekulationen einer Einzelperson im Zuge der Lehmann-Pleite in eine wirklich existenzbedrohende Situation kam). Nach den Umwälzungen im Bereich Digitaltechnik/Kommunikation/Netzwerke. Nach den politischen Umbrüchen in der Welt samt ihren Folgen usw. usf. Es ist vermutlich ziemlich schwierig und komplex, diesen festgestellten aktuellen Anstieg von Verhaltenssüchten (gegenüber stofflichen Süchten) mit den gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt auch technologischen Umbrüchen in Beziehung zu setzen. Aber nichtsdestotrotz ungemein interessant.
Genauso wie auch andere soziologische und sozusagen "psychosoziale" Veränderungen. Herausragend und vor allem in Deutschland beobachtbar: Ein enormer Anstieg der Bedeutung von "Sicherheit" (in allen möglichen Varianten) vor sonstigen persönlichen Zielen wie Wohlstand, Ansehen, Glück usw. Sicherheit hat alleralleroberste Priorität. Der Teil der Wirtschaft, der sich (in Form von technischen Produkten oder auch in Form von Dienstleistungen) "Sicherheit" anbietet, verzeichnet exorbitante Zuwächse. Das Paradoxe daran ist (erstens): Niemals zuvor war das Leben in Deutschland so sicher wie heute. Wenn man objektiv herangeht, Statistiken anstelle "gefühlter Unsicherheit" und medialer Panikmache beachtet und vor allem das Gesamtspektrum betrachtet. Noch paradoxer ist die Tatsache, dass man zunehmend bereit ist und befürwortet, dass "Freiheit" zugunsten von "Sicherheit" einzuschränken ist. Als etwas überspitztes Beispiel: Massen von Autofahrern hören im Autoradio (oder meinetwegen auch im Car-HiFi-Entertainment-System), dass Bahnhöfe umfassend mit Videokameras ausgestattet werden sollen und denkt sich: "o.k. es muss überwacht werden und dafür ist Freiheitsbeschränkung durch Anonymitätsverlust eben hinzunehmen), ohne daran zu denken, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er in ebenjenem Moment, wo er das hört, durch einen Unfall stirbt zig mal höher ist als auf einem Bahnhof von einem Terroranschlag betroffen zu sein. Und dass er eben
gerade durch persönliche Freiheit (zum Beispiel die der Wahl, andere Verkehrssysteme zu nutzen) zu einer höheren Sicherheit gelangen kann.
Ich würde für beides, also den Anstieg von Verhaltenssüchten wie auch dem Anstieg von Sicherheitsbedürfnis folgende These aufstellen: Ursache (oder wenigstens wichtige Mit-Ursache) ist das diffuse Gefühl des Wegbruchs von Lebenssinngebungen. Verhaltenssüchte dienen der Überdeckung oder der vermeintlichen Ersatz-Sinngebung und Sicherheit der Kompensation dieses diffusen Gefühls. Früher ergaben sich diese Sinngebungen einfach aus vorgefundenen und quasi kaum abweisbaren sozialen Gegebenheiten und den sich daraus ergebenden vorgezeichneten Biographien. Ein großer Teil der Menschen heute kommt mit dieser zunehmenden Wahlfreiheit nicht klar. Sie werden vor die Aufgabe gestellt, zunehmend selbst ihre Biographie zu bestimmen und kapitulieren davor.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)