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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 10:52
von schokoschendrezki
Die genetische Varianz des Menschen speist sich zu etwa 15 Prozent aus Populationsunterschieden und zu etwa 85 Prozent aus Individualunterschieden. Und mit der "Kultur" verhält es sich aus meiner Sicht nicht grundlegend anders. Sprich: Es ist nur unwesentlich wahrscheinlicher, dass mir mein deutscher Nachbar "nahe" ist als irgendjemand von irgendwo auf der Welt. (Und wirklich: der reale Nachbar mag vor allem Blondinen und dicke Autos. Mein Geschmack geht in eine ganz andere Richtung. Ich wüsste absolut nicht, worüber ich mich mit dem unterhalten sollte, auch wenn wir die gleiche Sprache sprechen). Mit einem Syrer vor einiger Zeit im Krankenhaus als Bettnachbar bin ich auf Englisch sofort ins gespräch gekommen und wir haben lange interessante Unterhaltungen gehabt.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 11:04
von Sextus Ironicus
Ich weiß nicht genau, wofür das ein Beispiel sein soll, denn sowohl diese Feindschaft gegen die Lebensweise des Nachbarn als auch die positive Neugier für den Syrer sind ja ein Teil der verinnerlichten Kultur. Der virile, blondinen- und dickschlittenliebende Nachbar ist halt ein hier nicht so hoch im Kurs stehendes Lebensmodell. Aber die genetische Varianz wäre auch nicht das Thema. Eher dann schon Ontogenese - hier gibt es (auch innerkulturell) die interessanteren Unterschiede.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 11:10
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 11:04)

Ich weiß nicht genau, wofür das ein Beispiel sein soll, denn sowohl diese Feindschaft gegen die Lebensweise des Nachbarn als auch die positive Neugier für den Syrer sind ja ein Teil der verinnerlichten Kultur. Der virile, blondinen- und dickschlittenliebende Nachbar ist halt ein hier nicht so hoch im Kurs stehendes Lebensmodell. Aber die genetische Varianz wäre auch nicht das Thema. Eher dann schon Ontogenese - hier gibt es (auch innerkulturell) die interessanteren Unterschiede.
Die Genetik war auch nur eine Art Metapher, ein Analogon zu dem, was ich kulturell wahrnehme. Und von Feindschaft war auch nicht die Rede. Nur von fehlender Gemeinsamkeitsbasis (abgesehen von der Sprache). Es sind keine ausgeprägten Vorlieben sondern einfach nur persönliche Erfahrungen, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Gemeinsamkeiten sich nicht oder so gut wie nicht erhöht, wenn ich weiß, dass ich einen Landsmann vor mir sitzen habe.

Und Neugier ist ein absolut universalistisches, humanes Merkmal, dass man als Individuum völlig unabhängig von irgendwelchen Zugehörigkeiten hat oder nicht hat.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 12:00
von Sextus Ironicus
schokoschendrezki hat geschrieben:(14 Nov 2017, 11:10)

Die Genetik war auch nur eine Art Metapher, ein Analogon zu dem, was ich kulturell wahrnehme. Und von Feindschaft war auch nicht die Rede. Nur von fehlender Gemeinsamkeitsbasis (abgesehen von der Sprache). Es sind keine ausgeprägten Vorlieben sondern einfach nur persönliche Erfahrungen, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Gemeinsamkeiten sich nicht oder so gut wie nicht erhöht, wenn ich weiß, dass ich einen Landsmann vor mir sitzen habe.

Und Neugier ist ein absolut universalistisches, humanes Merkmal, dass man als Individuum völlig unabhängig von irgendwelchen Zugehörigkeiten hat oder nicht hat.
Wenn Neugier das ist, dann ist ihr Umfang und die Objekte, auf die sie sich richtet, zu 100 % von der Zugehörigkeit zu einer Kultur abhängig. Jede Erfindung und Entdeckung war immer das Ergebnis, die Summe dessen, wonach man in einem Kulturraum überhaupt fragen konnte.

Aber ich sehe natürlich, dass das moderne Individuum hierzulande, durch die Aufmerksamkeit und die konzentrierten Mittel, mit denen man es päppelt, glaubt, alles liege im Individuum, das sowohl souveräner Schöpfer als auch Zentralgestirn, um das sich alles dreht, in einem sei. Das ist sehr deutsch (und amerikanisch), in Asien begegnet einem das ebenso selten wie in Afrika. Was logisch ist, die haben eine andere Kultur, die andere Prioritäten und Schwerpunkte setzt (oder auch muss), ein anderes Erbe, ein anderes kollektives Gedächtnis, andere oder anders geprägte Religionen.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 12:38
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 12:00)

Wenn Neugier das ist, dann ist ihr Umfang und die Objekte, auf die sie sich richtet, zu 100 % von der Zugehörigkeit zu einer Kultur abhängig. Jede Erfindung und Entdeckung war immer das Ergebnis, die Summe dessen, wonach man in einem Kulturraum überhaupt fragen konnte.

Aber ich sehe natürlich, dass das moderne Individuum hierzulande, durch die Aufmerksamkeit und die konzentrierten Mittel, mit denen man es päppelt, glaubt, alles liege im Individuum, das sowohl souveräner Schöpfer als auch Zentralgestirn, um das sich alles dreht, in einem sei. Das ist sehr deutsch (und amerikanisch), in Asien begegnet einem das ebenso selten wie in Afrika. Was logisch ist, die haben eine andere Kultur, die andere Prioritäten und Schwerpunkte setzt (oder auch muss), ein anderes Erbe, ein anderes kollektives Gedächtnis, andere oder anders geprägte Religionen.
Sorry, Unsinn. Jede neue ostasiatische Touristengruppe in Europa widerlegt die These von der Populationsabhängigkeit von "Neugier". Dass die gewissermaßen für ihre ganze Familie "mitfotografieren" steht ja noch mal auf einem anderen Blatt. Das ist Familien- und Gemeinschaftssinn.

Die Firma Merck hat 2016 die erste internationale Neugier-Studie veröffentlicht, bei der u.a. auch China einbezogen war. Es gibt nachweislich keinen wesentlichen Unterschied beim "Neugier-Index" etwa zwischen Deutschland, USA und China. Lediglich die prozentuale Zusammensetzung (Wissbegier, Offenheit, Kreativität, Stresstoleranz) der Faktoren unterscheidet sich ein wenig. (https://curiosity.merck.de/docs/Curiosi ... German.pdf). Es sind diese dämlichen nicht aus der Welt zu schaffenden Erzählungen wie "Schwarze haben Rhythmus im Blut". Es bestätigt sich (für mich) immer wieder: Die individuelle Varianz ist auch kulturell wesentlich höher als die zwischen den Populationen. Man ist im wesentlichen der, der man ist und nicht der, zu dem man gemacht wird.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 12:53
von Sextus Ironicus
schokoschendrezki hat geschrieben:(14 Nov 2017, 12:38)

Sorry, Unsinn. Jede neue ostasiatische Touristengruppe in Europa widerlegt die These von der Populationsabhängigkeit von "Neugier". Dass die gewissermaßen für ihre ganze Familie "mitfotografieren" steht ja noch mal auf einem anderen Blatt. Das ist Familien- und Gemeinschaftssinn.

Die Firma Merck hat 2016 die erste internationale Neugier-Studie veröffentlicht, bei der u.a. auch China einbezogen war. Es gibt nachweislich keinen wesentlichen Unterschied beim "Neugier-Index" etwa zwischen Deutschland, USA und China. Lediglich die prozentuale Zusammensetzung (Wissbegier, Offenheit, Kreativität, Stresstoleranz) der Faktoren unterscheidet sich ein wenig. (https://curiosity.merck.de/docs/Curiosi ... German.pdf). Es sind diese dämlichen nicht aus der Welt zu schaffenden Erzählungen wie "Schwarze haben Rhythmus im Blut". Es bestätigt sich (für mich) immer wieder: Die individuelle Varianz ist auch kulturell wesentlich höher als die zwischen den Populationen. Man ist im wesentlichen der, der man ist und nicht der, zu dem man gemacht wird.
Die ostasiatische Gruppe entdeckt vielleicht den Dom oder die unterirdische Toilette im Bahnhof. Ich rede aber von theoretischer Neugier: Ein Einstein ist mit seinen Entdeckungen nur aus seiner Zeit und seiner Kultur zu verstehen. Dass jemand der ist, der er ist, ist eine für unsere Kultur durchaus passende metaphorische Ausdrucksweise, die allerdings bis vor ein paar Jahrzehnten für den Gottesnamen stand. Und im wissenschaftlichen Zeitalter, wo man weiß, was es mit dem Wachstum des Gehirns, mit der Onotgenese auf sich hat, wirkt man ist, der man ist, geradezu frivol :)

Dass der Rhythmus im Blut und solche Dinge nur metaphorisches Sprechen sind, ist ja klar. Es ist eine kulturelle Geschichte.

Und übrigens: Schon mal Kaspar Hauser gehört? Was dann aber etwas von der Kultur wegführen würde.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 13:26
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 12:53)

Die ostasiatische Gruppe entdeckt vielleicht den Dom oder die unterirdische Toilette im Bahnhof. Ich rede aber von theoretischer Neugier: Ein Einstein ist mit seinen Entdeckungen nur aus seiner Zeit und seiner Kultur zu verstehen.
Einen Einstein wird es (vermutlich) auch in den klassischen westlichen Forschungsnationen nicht so schnell nochmal geben. Das dürfte aber an den Fragestellungen sowie an der allgemeinen und vor allem weltweiten Ökonomisierung von Wissenschaft liegen.

Ansonsten: Ich habe auf diese internationale Neugier-Studie verwiesen, nach der es in China eben nicht signifikant weniger Neugierde gibt als in D oder USA. Und es gibt noch zig weitere aktuelle Artikel, die darüber berichten, dass China gegenwärtig sich anschickt, die USA als Forschungsland Nr. 1 zu überholen. Und natürlich bezieht das auch theoretische Forschung mit ein. Wissen kann man nur mehr oder weniger pyramidenhaft aufschichten.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 13:28
von zollagent
schokoschendrezki hat geschrieben:(14 Nov 2017, 13:26)

Einen Einstein wird es (vermutlich) auch in den klassischen westlichen Forschungsnationen nicht so schnell nochmal geben. Das dürfte aber an den Fragestellungen sowie an der allgemeinen und vor allem weltweiten Ökonomisierung von Wissenschaft liegen.

Ansonsten: Ich habe auf diese internationale Neugier-Studie verwiesen, nach der es in China eben nicht signifikant weniger Neugierde gibt als in D oder USA. Und es gibt noch zig weitere aktuelle Artikel, die darüber berichten, dass China gegenwärtig sich anschickt, die USA als Forschungsland Nr. 1 zu überholen. Und natürlich bezieht das auch theoretische Forschung mit ein. Wissen kann man nur mehr oder weniger pyramidenhaft aufschichten.
Nun ja, ein Herr Steven Hawking dürfte in seiner Bedeutung für die Forschung einem Herrn Einstein nicht wirklich nachstehen.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 13:34
von Sextus Ironicus
schokoschendrezki hat geschrieben:(14 Nov 2017, 13:26)

Einen Einstein wird es (vermutlich) auch in den klassischen westlichen Forschungsnationen nicht so schnell nochmal geben. Das dürfte aber an den Fragestellungen sowie an der allgemeinen und vor allem weltweiten Ökonomisierung von Wissenschaft liegen.

Ansonsten: Ich habe auf diese internationale Neugier-Studie verwiesen, nach der es in China eben nicht signifikant weniger Neugierde gibt als in D oder USA. Und es gibt noch zig weitere aktuelle Artikel, die darüber berichten, dass China gegenwärtig sich anschickt, die USA als Forschungsland Nr. 1 zu überholen. Und natürlich bezieht das auch theoretische Forschung mit ein. Wissen kann man nur mehr oder weniger pyramidenhaft aufschichten.
Ok, pyramidenförmig aufschichten, damit kann ich leben. Aber selbst wenn in zwei Ländern gleichmäßig aufgeschichtet wäre, genügend Neugier da, fehlt u.U. etwas. China ist ein schönes Beispiel. Die können ihre ganzen Devisenreserven in Forschung stecken, sie werden solange nicht ähnlich innovativ sein, solange sie ihre absoluten und zur völligen Unselbstständigkeit erziehenden streng hierarchischen Beziehungsstrukturen nicht ändern. Solange das neueingestellte Genie nicht klüger als schon der nächste Vorgesetzte sein darf, so lange wird das nichts.

Schönes Beispiel für zwei völlig unterschiedliche, vollkommen unterschiedliche Kulturansätze.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 14:28
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 13:34)

Ok, pyramidenförmig aufschichten, damit kann ich leben. Aber selbst wenn in zwei Ländern gleichmäßig aufgeschichtet wäre, genügend Neugier da, fehlt u.U. etwas. China ist ein schönes Beispiel. Die können ihre ganzen Devisenreserven in Forschung stecken, sie werden solange nicht ähnlich innovativ sein, solange sie ihre absoluten und zur völligen Unselbstständigkeit erziehenden streng hierarchischen Beziehungsstrukturen nicht ändern. Solange das neueingestellte Genie nicht klüger als schon der nächste Vorgesetzte sein darf, so lange wird das nichts.

Schönes Beispiel für zwei völlig unterschiedliche, vollkommen unterschiedliche Kulturansätze.
Ich würde sagen: Schönes Beispiel wie man sich in Europa zum zweiten mal absolut gründlich in seiner oberflächlichen Überheblichkeit irrren kann. Das erstemal wars Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhundert mit der kulturarroganten Sicht auf die USA. Und man kann die Betrachtung übrigens auch umkehren: Wer nicht ein tägliches Update seiner Weltsicht durchführt, wird ganz sicher auch wissenschaftlich zurückbleiben. Es gibt nicht den geringsten Grund, "unselbstständige" Wissenschaftler - wie im Juni dieses Jahres in China - mit einem Weltraum-Röntgenteleskop auszustatten, um schwarze Löcher und Gammablitze zu erforschen. Die "Kulturforscher" werden sich noch mal ziemlich die Augen reiben. Auch die heutigen werden's noch erleben.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 14:45
von schokoschendrezki
zollagent hat geschrieben:(14 Nov 2017, 13:28)

Nun ja, ein Herr Steven Hawking dürfte in seiner Bedeutung für die Forschung einem Herrn Einstein nicht wirklich nachstehen.
Einen solchen "Rangvergleich" lehnt Hawking (zurecht) ab. Fakt ist: Er führte (u.a.) die Theorien Einsteins fort und wendete sie (und die Ergebnisse der QT) zum Beispiel auf die Physik Schwarzer Löcher an und postulierte dabei Hawking-Strahlung. Bei allem Respekt ... es ist eine bedeutsame Fortführung aber nicht die Umwälzung des Beginns der Modernen Physik. Auch Forschungen zur theoretischen Physik finden heute in in großen Anlagen wie dem CERN statt. Das sind andere Bedingungen. Der Fortschritt ist systematischer, planbarer aber auch aufwändiger und komplexer.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 14:50
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 12:53)

Die ostasiatische Gruppe entdeckt vielleicht den Dom oder die unterirdische Toilette im Bahnhof.
So richtig witzig ist das nicht. Zumal du das ja wirklich genau so zu meinen scheinst.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 14:57
von Selina
Senexx hat geschrieben:(08 Sep 2017, 00:20)

Ich möchte lediglich die Frage klären, was die Gemeinde hier unter "Kultur" versteht.
Kultur ist Vielfalt, Freiheit, Gelassenheit, Toleranz, Miteinander-reden-Können, niemanden im Regen stehenlassen, Altes im Neuen bewahren, Neugier, Offenheit, Verspieltheit, Naivität, Großzügigkeit, Schokotorte (selbst gemachte).

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 17:50
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(14 Nov 2017, 14:50)

So richtig witzig ist das nicht. Zumal du das ja wirklich genau so zu meinen scheinst.
Natürlich meine ich das so - weil das, was ich mit "Entdeckungen" ansprach nichts mit der Ebene zu tun hatte, auf der sich das Beispiel mit der Reisegruppe bewegt hat. Ein einstein, ein Hawking und auch jeder normale Tüftler, Bastler, Theoretiker, der im Zuge der theoretischen Neugier "entdeckt", folgt dem, was in seiner Kultur an Vorwissen usw. aber auch an Möglichkeiten vorhanden ist. Dass Einstein oder Hawking zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Kultur (westlich, analytisch geprägt) auftauchen und nicht im Mittleren Osten oder in Amazonien hat kulturelle Gründe. Und wenn man aus dieser Tatsache und den bestehenden kulturellen Unterschieden keine moralische Tatsache und keine moralischen Unterschiede oder gar irgendwie biologischen Ableitungen macht, sondern eine, die sich eben aus den Bedingungen und den Möglichkeiten ergeben hat, dann ist das völlig rational. Wo wäre das Problem?

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 17:53
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(14 Nov 2017, 14:57)

Kultur ist Vielfalt, Freiheit, Gelassenheit, Toleranz, Miteinander-reden-Können, niemanden im Regen stehenlassen, Altes im Neuen bewahren, Neugier, Offenheit, Verspieltheit, Naivität, Großzügigkeit, Schokotorte (selbst gemachte).
Das ist eine rein romantische, ideelle, individualistische Behauptung, die in einer Kultur wie der unseren entsteht. Mit einem wissenschaftlichen Kulturbegriff hat das nichts zu tun. Ein Poesiealbum ist eben kein Sachbuch.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 18:24
von Cat with a whip
Kultur ist rechten Verschwörungsspinnern in den Arsch zu treten.
BERLIN taz | Die Verleihung eines Medienpreises an den ehemaligen RBB-Radiomoderator Ken Jebsen, der seit Jahren in verschwörungstheoretischen Kreisen unterwegs ist, wird nicht wie geplant im Berliner Kino Babylon stattfinden. Das bestätigte die Senatsverwaltung für Kultur am Dienstag der taz.

Damit ist der Wunsch von Kultursenator Klaus Lederer (Linke) in Erfüllung gegangen. Der hatte am Montag auf Facebook geschrieben: „Ich bin entsetzt, dass ein Kulturort in Berlin diesem Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte eine Bühne bietet. Vom Geschäftsführer des Kinos Babylon würde ich mir angesichts dessen die Courage wünschen, zu sagen: Als Plattform für diesen Wahnsinn stehen wir nicht zur Verfügung.“
http://www.taz.de/Querfront-Preisverlei ... /!5463066/

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 18:27
von Adam Smith
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 17:53)

Das ist eine rein romantische, ideelle, individualistische Behauptung, die in einer Kultur wie der unseren entsteht. Mit einem wissenschaftlichen Kulturbegriff hat das nichts zu tun. Ein Poesiealbum ist eben kein Sachbuch.
Kultur ist all das was vom Menschen stammt.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 18:43
von Sextus Ironicus
Cat with a whip hat geschrieben:(14 Nov 2017, 18:24)

Kultur ist rechten Verschwörungsspinnern in den Arsch zu treten.


http://www.taz.de/Querfront-Preisverlei ... /!5463066/
Einen Staats- oder Sozialkundeunterricht, der den Schulabgängern solche theoretischen Überzeugungen vermittelt, könnte man als indikativ für die Ursachenforschung nach den Bedingungen, die zum Pisaknick führen, heranziehen.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 19:10
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 17:53)

Das ist eine rein romantische, ideelle, individualistische Behauptung, die in einer Kultur wie der unseren entsteht. Mit einem wissenschaftlichen Kulturbegriff hat das nichts zu tun. Ein Poesiealbum ist eben kein Sachbuch.
Ach? Hier geht es um einen "wissenschaftlichen Kulturbegriff"? Alles klar. Welchen von den vielen wissenschaftlichen Kulturbegriffen bevorzugst du denn?

https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur_(B ... C3%A4rung)

Die Frage des Threaderstellers war: "Ich möchte lediglich die Frage klären, was die Gemeinde hier unter 'Kultur' versteht." Und da ich schon viel zum Kulturbegriff geschrieben hatte in einem Kultur-Thread, der vor diesem hier eröffnet wurde, hab ich hier mal genau diese Anfangsfrage beantwortet. Eigentlich alles klar verständlich.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 19:16
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 17:50)

Natürlich meine ich das so - weil das, was ich mit "Entdeckungen" ansprach nichts mit der Ebene zu tun hatte, auf der sich das Beispiel mit der Reisegruppe bewegt hat. Ein einstein, ein Hawking und auch jeder normale Tüftler, Bastler, Theoretiker, der im Zuge der theoretischen Neugier "entdeckt", folgt dem, was in seiner Kultur an Vorwissen usw. aber auch an Möglichkeiten vorhanden ist. Dass Einstein oder Hawking zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Kultur (westlich, analytisch geprägt) auftauchen und nicht im Mittleren Osten oder in Amazonien hat kulturelle Gründe. Und wenn man aus dieser Tatsache und den bestehenden kulturellen Unterschieden keine moralische Tatsache und keine moralischen Unterschiede oder gar irgendwie biologischen Ableitungen macht, sondern eine, die sich eben aus den Bedingungen und den Möglichkeiten ergeben hat, dann ist das völlig rational. Wo wäre das Problem?
Mir ging es lediglich um deinen Satz "Die ostasiatische Gruppe entdeckt vielleicht den Dom oder die unterirdische Toilette im Bahnhof". Den finde ich überheblich. Oder hab ich ihn nur falsch verstanden?

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 19:26
von imp
Die Asiaten haben eine fortschrittliche Klosettkultur. Da kann Deutschland nicht mithalten. Vor allem Japan.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 19:32
von krone
Sole.survivor@web.de hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:26)

Die Asiaten haben eine fortschrittliche Klosettkultur.
Blödsinn.
In Asien scheissen 0.00001% in Schüsseln aus puren Gold.

Der Rest scheisst wo er gerade steht .

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Di 14. Nov 2017, 19:40
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:10)

Ach? Hier geht es um einen "wissenschaftlichen Kulturbegriff"? Alles klar. Welchen von den vielen wissenschaftlichen Kulturbegriffen bevorzugst du denn?
Den ich im Nachbarthread schon gepostet habe heute, wonach der Kulturbegriff "eine jeweilige Gesamtheit symbolischer, ideeler und materieller Ausdrucksformen umfasst. Diese können sich auf konkrete Interaktionsverhältnisse, Institutionen, gruppen- oder gesellschaftsspezifische Ritualisierungen beziehen, die bewusst oder unbewusst vollzogen werden und somit als Stabilität garantierende normen- und wertbezogene Bindungen verstanden werden."

Der scheint mir brauchbar, auch wenn er nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Zumindest ist frei von allen romantischen, ideellen und normativen Inhalten. Was für Diskussionen um Kultur schon immer ein großer Vorteil ist - zumindest wenn man nicht nur ideologische Steinchenwerferei miteinander betreiben möchte. Man muss sich ja nicht auf den Kulturbegriff selbst einigen, aber wenigstens darüber, worum man eigentlich streitet.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 09:15
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:40)

Den ich im Nachbarthread schon gepostet habe heute, wonach der Kulturbegriff "eine jeweilige Gesamtheit symbolischer, ideeler und materieller Ausdrucksformen umfasst. Diese können sich auf konkrete Interaktionsverhältnisse, Institutionen, gruppen- oder gesellschaftsspezifische Ritualisierungen beziehen, die bewusst oder unbewusst vollzogen werden und somit als Stabilität garantierende normen- und wertbezogene Bindungen verstanden werden."

Der scheint mir brauchbar, auch wenn er nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Zumindest ist frei von allen romantischen, ideellen und normativen Inhalten. Was für Diskussionen um Kultur schon immer ein großer Vorteil ist - zumindest wenn man nicht nur ideologische Steinchenwerferei miteinander betreiben möchte. Man muss sich ja nicht auf den Kulturbegriff selbst einigen, aber wenigstens darüber, worum man eigentlich streitet.
Naja, ich weiß nicht. Ich hatte ja schon oft geschrieben, dass es eine große Vielfalt an Kulturbegriffen gibt und die sich in ständigem Wandel befinden. Damit muss man halt leben können. Aber auch das hier hatten schon mehrere User im Thread als Versuch einer Definition angeboten. Scheint mir am praktikabelsten zu sein:

Zitat:

Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 09:48
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:15)

Naja, ich weiß nicht. Ich hatte ja schon oft geschrieben, dass es eine große Vielfalt an Kulturbegriffen gibt und die sich in ständigem Wandel befinden. Damit muss man halt leben können. Aber auch das hier hatten schon mehrere User im Thread als Versuch einer Definition angeboten. Scheint mir am praktikabelsten zu sein:

Zitat:

Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
Naja, die Unterscheidung Kultur/Natur ist selbst schon wieder eine, die ab dem 16. JH in Europa aufkam, während es immer noch andere Kulturen gibt, die diesen Dualismus nicht kennen. Und er hilft für das, worum es wirklich geht, überhaupt nicht weiter. Mal ein paar unordentliche Gedanken dazu:

Die Fragestellung "Was ist eigentlich Kultur" ist eine zutiefst deutsche. Die deutsche Sprache ist sehr nominal- und damit absolut substanzlastig, während zum Beispiel das Englische eher verbal- und damit prozess-/funktionslastig ist. Das wirkt sich, da alles Denken sprachlich ist, natürlich aus, denn "was ist" giert nach abschließenden Definitionen, während "wie geht/funktioniert das" Beschreibungen verlangt. Man kann also bei letzterem viel häufiger auch zeigen statt reden. In Ost- und Südostasien ist es ähnlich, dort herrscht, plakativ gesprochen eher Prozessontologie als Substanontologie vor.

Für die Frage nach der Kultur hat das Folgen. Die sozialwissenschaftliche BEGRIFFSDEFINITION, die ich gab, richtet sich etwas mehr auf Prozesse.

Ob es eine Vielfalt an Kulturbegriffen gibt, ist auch gar nicht spannend - es gibt schließlich (noch) eine Vielfalt an Kulturen, auch wenn die Zahl ständig abnimmt. Von den aktuell 6.000 Sprachen werden um die Jahrhundertmitte etwa die Hälfte verschwunden sein, und mit jeder Sprache verschwindet eine Kultur. Was übrigens nicht ausschließt, dass sich theoretisch eine Kultur von einer anderen Kultur nur in kleinsten Nuancen unterscheidet. Auf die Vielfalt komme ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, falls hier eine Diskussion entsteht, zurück. Wobei das besser in den anderen Thread passen würde. Hier würde es reichen festzuhalten: So wie die Frage "Was ist Erdanziehungskraft?" nur prozesstheoretisch und nicht substanztheoretisch beantwortet werden kann, so gilt das auch für "Was ist Kultur?" Im Grunde weiß das auch jeder, aber die Deutschen sind gerne normativ verspannt und neigen dazu, die Existenz von einfachen "Dingen" an normative Bedingungen zu knüpfen. Am Kulturbegriff wird das am sinnfälligsten. Wie und warum genau, kann man anhand der anderen Frage im anderen Thrread diskutieren.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 10:02
von Dark Angel
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 10:31)

Ob es "untergeordnet" wird, weiß ich nicht genau, aber es wird getrennt betrachtet. Huntington hatte auch nicht vom Kampf der Kulturen gesprochen, sondern eigentlich "Clash of Civilisation" gesagt. Leider verwischt sich das im deutschen titel und wird dadurch dramatisiert.

Die Definition finde ich unschärfer als meine, die ich aus dem Bourdieu-Handbuch im anderen Kulturthread gegeben habe.

In der hier gegebenen ist ("die Menschen als Teil der Gesellschaft in sozialem Lernen erworben haben") müsste es wenigstens heißen "die Menschen als Teil EINER Gesellschaft in sozialem Lernen erworben haben."
Zustimmung, diese Aussage ist konkreter. Aus dieser Aussage/Definition, lässt sich (auch) besser ableiten, wie kulturelle Unterschiede entstehen. :thumbup:

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 10:38
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:48)
Hier würde es reichen festzuhalten: So wie die Frage "Was ist Erdanziehungskraft?" nur prozesstheoretisch und nicht substanztheoretisch beantwortet werden kann, so gilt das auch für "Was ist Kultur?" Im Grunde weiß das auch jeder, aber die Deutschen sind gerne normativ verspannt und neigen dazu, die Existenz von einfachen "Dingen" an normative Bedingungen zu knüpfen. Am Kulturbegriff wird das am sinnfälligsten. Wie und warum genau, kann man anhand der anderen Frage im anderen Thrread diskutieren.
Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche. In der Schule wird ein "Vektor" als eine "gerichtete Größe im 2- oder 3-dimensionalen Raum" eingeführt. Bei der abstraktest möglichen wird der eigentliche Kern des Begriffs über das Verhalten von Vektoren bei Operationen definiert. Deshalb sind tatsächlich Fragen wie etwa "Wie vermittelt sich Kultur" näher am Wesen des Begriffs dran als normative Was-ist-Fragen. Ich habe unlängst einen Artikel gelesen, der der (oft gewählten) Definition von Kultur als "Landkarte der Bedeutungen" entgegensetzt, Kultur sei nicht etwa eine solche statisch gegebene Landkarte sondern der (individuelle oder in Gruppen vollzogene) spezifische dynamische Prozess der Entschlüsselungen und Interpretationen dieser Bedeutungen.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 10:44
von Dark Angel
Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 17:50)

Natürlich meine ich das so - weil das, was ich mit "Entdeckungen" ansprach nichts mit der Ebene zu tun hatte, auf der sich das Beispiel mit der Reisegruppe bewegt hat. Ein einstein, ein Hawking und auch jeder normale Tüftler, Bastler, Theoretiker, der im Zuge der theoretischen Neugier "entdeckt", folgt dem, was in seiner Kultur an Vorwissen usw. aber auch an Möglichkeiten vorhanden ist. Dass Einstein oder Hawking zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Kultur (westlich, analytisch geprägt) auftauchen und nicht im Mittleren Osten oder in Amazonien hat kulturelle Gründe. Und wenn man aus dieser Tatsache und den bestehenden kulturellen Unterschieden keine moralische Tatsache und keine moralischen Unterschiede oder gar irgendwie biologischen Ableitungen macht, sondern eine, die sich eben aus den Bedingungen und den Möglichkeiten ergeben hat, dann ist das völlig rational. Wo wäre das Problem?
Eine m.M.n sehr wichtige und entscheidende Aussage, die jedoch von einigen ideologisch verblendeten Zeitgenossen nicht akzeptiert wird bzw werden kann.
Für die ist jeder wertneutrale Vergleich, verschiedener Kulturen miteinander und die Beschreibung von vorhandenen Unterschieden (auch Antagonismen) grundsätzlich wertend. Diese Zeitgenossen unterstellen jedem, der es wagt, auf Unterschiede hinzuweisen und zu beschreiben eine (moralisch) wertende Überhöhung der "eigenen" Kultur und damit auch eine moralische Abwertung jeder anderen Kultur.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 11:02
von Sextus Ironicus
schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:38)

Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche.
Zustimmung, und damit trägt man im Falle der Kultur ihrer wirklich unendlichen Komplexität Rechnung. Und es fördert das Hinschauen. Im Human Brain Project schaffen sie es nicht einmal, das neuronale Netzwerk des Gehirns im Maßstab 1:1 hinzubekommen, und gleichzeitig verlangt man im Grunde auf eine Frage wie "Was ist (eine bestimmte) Kultur?", die Interaktionen von riesigen Menschengruppen beinhaltet, mit einer simplen Definition zu beantworten.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 11:03
von Sextus Ironicus
Dark Angel hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:44)

Eine m.M.n sehr wichtige und entscheidende Aussage, die jedoch von einigen ideologisch verblendeten Zeitgenossen nicht akzeptiert wird bzw werden kann.
Für die ist jeder wertneutrale Vergleich, verschiedener Kulturen miteinander und die Beschreibung von vorhandenen Unterschieden (auch Antagonismen) grundsätzlich wertend. Diese Zeitgenossen unterstellen jedem, der es wagt, auf Unterschiede hinzuweisen und zu beschreiben eine (moralisch) wertende Überhöhung der "eigenen" Kultur und damit auch eine moralische Abwertung jeder anderen Kultur.
Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.

Nachtrag: Bekanntermaßen gilt ja das Primat des Normativen vor dem Ontologischen sowieso. :D

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 11:36
von Dark Angel
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:03)

Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.
:D Diesen Satz sollten sich einige Zeitgenossen aber ganz dick hinter die Ohren schreiben (oder ins Poesiealbum schreiben lassen).

Der bedeutet nix anderes, als dass eben nichts (in diesem Fall Kultur) beliebig ist oder beliebig austauschbar und schon gar kein Einheitsbrei.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 12:03
von Sextus Ironicus
Dark Angel hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:36)

:D Diesen Satz sollten sich einige Zeitgenossen aber ganz dick hinter die Ohren schreiben (oder ins Poesiealbum schreiben lassen).

Der bedeutet nix anderes, als dass eben nichts (in diesem Fall Kultur) beliebig ist oder beliebig austauschbar und schon gar kein Einheitsbrei.
Die Spezies Sozialkonstruktivus vulgaris würde jetzt aber nach dem Paddington-Prinzip der Unzufriedenheit ("Paddington gave him a hard stare") reagieren und intervenieren :D

Und ja, so wie beispielsweise Frau Merkel nicht Lady Gaga ist, ist halt die Kultur x nicht die Kultur y. Was immer das dann auf welcher Ebene auch bedeuten mag.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 12:07
von pikant
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:03)



Und ja, so wie beispielsweise Frau Merkel nicht Lady Gaga ist, ist halt die Kultur x nicht die Kultur y.
grossartige Erkenntnis, die man mal aussprechen sollte fuer die Menschen, die nicht Frau Merkel und auch nicht Lady Gaga kennen - Danke!

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 12:44
von Sextus Ironicus
pikant hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:07)

grossartige Erkenntnis, die man mal aussprechen sollte fuer die Menschen, die nicht Frau Merkel und auch nicht Lady Gaga kennen - Danke!
Keine Ursache. Es ist ja kein Unglück, beide nicht zu kennen. Daraus aber abzuleiten, es gäbe keine von beiden, wäre eine andere Nummer.

Womit wir wieder zur Kulturfrage zurückkehren können, die oft so tiefenunentspannt und schnappatmig geführt wird. Und bei der es schon ein Gewinn wäre, wenn man Sätze wie "es gibt keine (spezifische) deutsche/thailändische/chilenische usw." als unsinnig erkennen würde.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 12:52
von pikant
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:44)

Keine Ursache. Es ist ja kein Unglück, beide nicht zu kennen. Daraus aber abzuleiten, es gäbe keine von beiden, wäre eine andere Nummer.

Womit wir wieder zur Kulturfrage zurückkehren können, die oft so tiefenunentspannt und schnappatmig geführt wird. Und bei der es schon ein Gewinn wäre, wenn man Sätze wie "es gibt keine (spezifische) deutsche/thailändische/chilenische usw." als unsinnig erkennen würde.
die Kultur ist vielfaeltig, was man ja auch an der Musik sieht!

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:04
von Sextus Ironicus
pikant hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:52)

die Kultur ist vielfaeltig, was man ja auch an der Musik sieht!
Ist denn jede Kultur gleichermaßen vielfältig? Und wäre eine Kultur, die nicht vielfältig ist, keine Kultur mehr? Kann sie zur Vielfalt gezwungen werden? Wer bestimmt, wann einer Kultur die Eigenschaft "vielfältig" zugeschrieben wird? Welche Voraussetzung müsste eine Kultur erfüllen? Und ist das immer positiv? Ist Vielfalt eher Qualität oder eher Quantität? Oder ist Vielfalt ein moralisches Gebot innerhalb einer Kultur? Wie oder wodurch entsteht Vielfalt?

Das wären so ein paar Fragen, die allein zum Thema Vielfalt zu stellen wären. Aber damit die sich stellen, darf die spezifische Grundlage nicht selbst in Frage gestellt werden. Vielfalt entsteht nur dort, wo vieles, also beispielsweise unterschiedliche spezifische Kulturen vorhanden ist ---> siehe den zitierten Gedanken von Liessmann, ohne den wir Vielfalt gar nicht denken könnten. Denn ist alles unterschiedslos eines, wäre der Begriff nicht mehr verständlich, also nicht existent.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:10
von schokoschendrezki
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:03)

Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.
Und das gilt nicht nur für das (geographische) Nebeneinander verschiedener Kulturen sondern auch für das zeitliche Nacheinander der Kultur in ein- und derselben geographischen Region. Panta Rhei.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:10
von pikant
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:04)

Ist denn jede Kultur gleichermaßen vielfältig? Und wäre eine Kultur, die nicht vielfältig ist, keine Kultur mehr? Kann sie zur Vielfalt gezwungen werden? Wer bestimmt, wann einer Kultur die Eigenschaft "vielfältig" zugeschrieben wird? Welche Voraussetzung müsste eine Kultur erfüllen? Und ist das immer positiv? Ist Vielfalt eher Qualität oder eher Quantität? Oder ist Vielfalt ein moralisches Gebot innerhalb einer Kultur? Wie oder wodurch entsteht Vielfalt?
.
1. Jeder Teilbereich einer Kultur ist unterschiedlich vielfaeltig

2. doch

3. nein

4. jeder selbst

5. muss jeder selbst entscheiden

6. kommt auf die subjektive Sichtweise an

7. Vielfalt ist Vielfalt und hat nichts mit Qualitaet oder Quantitaet zu tun

8. Vielfalt hat mit Moral nichts zu tun

9. Vielfalt entsteht durch Angebot

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:13
von Selina
schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:38)

Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche. In der Schule wird ein "Vektor" als eine "gerichtete Größe im 2- oder 3-dimensionalen Raum" eingeführt. Bei der abstraktest möglichen wird der eigentliche Kern des Begriffs über das Verhalten von Vektoren bei Operationen definiert. Deshalb sind tatsächlich Fragen wie etwa "Wie vermittelt sich Kultur" näher am Wesen des Begriffs dran als normative Was-ist-Fragen. Ich habe unlängst einen Artikel gelesen, der der (oft gewählten) Definition von Kultur als "Landkarte der Bedeutungen" entgegensetzt, Kultur sei nicht etwa eine solche statisch gegebene Landkarte sondern der (individuelle oder in Gruppen vollzogene) spezifische dynamische Prozess der Entschlüsselungen und Interpretationen dieser Bedeutungen.
Genau. Diese Definition ist mir am sympathischsten. Das kommt auch dem sehr nahe, was ich mit "vielen verschiedenen Kulturbegriffen" meinte. Auf die Gefahren eines zu starren abgrenzenden Kulturbegriffes wird hier hingewiesen:

Zitat

Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass "Kultur" als ein diskursives Konstrukt zu begreifen ist, das auf unterschiedlichste Weise begriffen, definiert und erforscht werden kann. Eine wichtige Funktion von Kultur besteht darin, dass "sie nach innen hin integrativ, nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert". Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:21
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:13)

Genau. Diese Definition ist mir am sympathischsten. Das kommt auch dem sehr nahe, was ich mit "vielen verschiedenen Kulturbegriffen" meinte. Auf die Gefahren eines zu starren abgrenzenden Kulturbegriffes wird hier hingewiesen:

Zitat

Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass "Kultur" als ein diskursives Konstrukt zu begreifen ist, das auf unterschiedlichste Weise begriffen, definiert und erforscht werden kann. Eine wichtige Funktion von Kultur besteht darin, dass "sie nach innen hin integrativ, nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert". Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
Das sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Kulturbegriffe. Der erste ist ein deskriptiver, der zweite stammt aus dem postmodernen Sozialkonstruktivismus und ist zu 100 % normativ konstruiert. Dort möchte man jeden Kulturbegriff durch normative Prämissen legitimieren oder entsprechend delegitimieren. Das entspricht dem Prinzip vom Primat des Normativen, was unwissenschaftlicher Unfug ist, in diesem Falle eine Art Prozesstheologie.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 13:52
von BlueMonday
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:48)

Die Fragestellung "Was ist eigentlich Kultur" ist eine zutiefst deutsche. Die deutsche Sprache ist sehr nominal- und damit absolut substanzlastig, während zum Beispiel das Englische eher verbal- und damit prozess-/funktionslastig ist. Das wirkt sich, da alles Denken sprachlich ist, natürlich aus, denn "was ist" giert nach abschließenden Definitionen, während "wie geht/funktioniert das" Beschreibungen verlangt..
Auch englisch sprechende Menschen fragen sich, was "culture" ist oder noch viel häufiger, was Kunst/art ist.
Das eigentliche Problem bei solchen Fragen ist oft die Hypostase/Reifikation, also dass man damit anfängt, nach den Begriffen als fassbare und wirksame Dinge zu suchen. Diese Dinge als wirksame Voraussetzung für etwas anderes, und gerade nicht als rein gedanklich folgendes Konstrukt, als Résumé von etwas längst Getanem und immer wieder Getanem, das man dann einen Namen gibt, damit man auch darüber sprechen kann.

So musste dann eine englisch denkende und sprechende Margaret Thatcher erst explizit zu ihren Landsleuten werden mit ihrem berühmten Satz: "There's no such thing as society". Und so sucht man auch nach einem Ding namens Kultur, und man findet es freilich nicht als etwas Fassbares, so wenig wie man die Gesellschaft, das Volk oder den Staat finden wird, dem man gegenübertreten könnte.

Also: man kann wohl etwas "kulturvoll" tun und dann im Gegensatz auch nicht. Das, was man ganz beiläufig, ohne jede Erwähnung, ohne jede Notiznahme, ohne jedes besondere Bewusstsein tut ... ist wohl kulturlos, alles andere kulturvoll.

Der Winter kommt, die Schleimhäute sind gereizt und in Bewegung, sondern Flüssigkeiten und Schleim ab. Und wie man sich nun diesem Schleim entledigt, dafür kann man eine Kultur entwickeln, also ein Bewusstsein, ein extra angefertiges Schnäuztuch, eine Kultur des Naseschnäuzens... oder man spuckt das Ganze achtlos und kulturlos aus oder schluckt es herunter, aus gedankenloser Notwendigkeit. Man kratzt sich, weil es kratzt. Oder man macht auch daraus eine (Gegen)Kultur, einen Kult.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 14:41
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:21)

Das sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Kulturbegriffe. Der erste ist ein deskriptiver, der zweite stammt aus dem postmodernen Sozialkonstruktivismus und ist zu 100 % normativ konstruiert. Dort möchte man jeden Kulturbegriff durch normative Prämissen legitimieren oder entsprechend delegitimieren. Das entspricht dem Prinzip vom Primat des Normativen, was unwissenschaftlicher Unfug ist, in diesem Falle eine Art Prozesstheologie.
Könntest du bitte in verständlichen Worten sagen, was das bedeuten soll? Danke.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 15:09
von Sextus Ironicus
BlueMonday hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:52)

Auch englisch sprechende Menschen fragen sich, was "culture" ist oder noch viel häufiger, was Kunst/art ist.
Tun sie, aber sie sind dabei weniger besessen vom substanziellen Verstehen, sondern konzentrieren sich mehr auf das prozessurale oder funktionale Verstehen. Ihre Sprache bietet ihnen da auch viel mehr Verbalisierungswerkzeuge.
BlueMonday hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:52)
Das eigentliche Problem bei solchen Fragen ist oft die Hypostase/Reifikation, also dass man damit anfängt, nach den Begriffen als fassbare und wirksame Dinge zu suchen. Diese Dinge als wirksame Voraussetzung für etwas anderes, und gerade nicht als rein gedanklich folgendes Konstrukt, als Résumé von etwas längst Getanem und immer wieder Getanem, das man dann einen Namen gibt, damit man auch darüber sprechen kann.

So musste dann eine englisch denkende und sprechende Margaret Thatcher erst explizit zu ihren Landsleuten werden mit ihrem berühmten Satz: "There's no such thing as society". Und so sucht man auch nach einem Ding namens Kultur, und man findet es freilich nicht als etwas Fassbares, so wenig wie man die Gesellschaft, das Volk oder den Staat finden wird, dem man gegenübertreten könnte.

Also: man kann wohl etwas "kulturvoll" tun und dann im Gegensatz auch nicht. Das, was man ganz beiläufig, ohne jede Erwähnung, ohne jede Notiznahme, ohne jedes besondere Bewusstsein tut ... ist wohl kulturlos, alles andere kulturvoll.

Der Winter kommt, die Schleimhäute sind gereizt und in Bewegung, sondern Flüssigkeiten und Schleim ab. Und wie man sich nun diesem Schleim entledigt, dafür kann man eine Kultur entwickeln, also ein Bewusstsein, ein extra angefertiges Schnäuztuch, eine Kultur des Naseschnäuzens... oder man spuckt das Ganze achtlos und kulturlos aus oder schluckt es herunter, aus gedankenloser Notwendigkeit. Man kratzt sich, weil es kratzt. Oder man macht auch daraus eine (Gegen)Kultur, einen Kult.
So, schauen wir mal, was mir hierzu einfällt.

Die eiserne Lady hat das Zitat, wenn ich mich recht erinnere, beim Hayek geklaut.

Ob man Volk, Gesellschaft usw. nicht findet, ihnen nicht gegenübertreten kann, weil man nichts Fassbares findet? Heißt das im Ergebnis: Es gibt keine Gesellschaft, kein Volk? Für Hayek und Thacher war das eine politische Frage, keine erkenntnistheoretische! Eine Gegenfrage lautet: Hat unser Sprechen einen Sinn? Verwirklichen wir also beispielsweise in einem Sprechakt etwas, was es ohne ihn nicht geben könnte, wie auch manche annehmen? Und was bedeutet "gegenübertreten"? Wenn jemand in der 30er-Zone 100 fährst, wird ihm der Staat in Form irgendeiner seiner Institutionen ggf. unabhängig von jedem Ding-Begriff gegenübertreten und zur Kasse bitten. Und unser Grundgesetz mag nun auch nicht von einem Ding sprechen, wenn es das Volk meint. Was genau es ist, ist dabei (erst einmal) egal.

Was den letzten Absatz angeht: Sehr nettes Beispiel, da zeigt sich der deutsche Pferdefuß des "Begriffes" (nicht zu verwechseln mit der Sache selbst). Hier kann man an Tausende von Begriffen den Begriff "Kultur" anhängen, um einer Sache eine Art höhere Bedeutung zu verleihen. Dieser rein sprachliche, meist irgendwelchen Interessen geschuldete Akt ist halt ein Teil der deutschen Kultur aufgrund unserer Sprache. Funktioniert nicht überall auf der Welt so.

Die Frage der Vergegenständlichung ist nun wieder rein philosophisch und würde wohl weit wegführen. Meine zitierte Definition und ein paar andere hier reichen als Grundlage wohl aus.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 15:11
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 14:41)

Könntest du bitte in verständlichen Worten sagen, was das bedeuten soll? Danke.
Kurz gesagt behaupte ich, dass der Kulturbegriff dort von einem Sollen abhängig gemacht wird. Das ist Religion.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 15:33
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 15:11)

Kurz gesagt behaupte ich, dass der Kulturbegriff dort von einem Sollen abhängig gemacht wird. Das ist Religion.
Kann ich nicht sehen. Dort wird einfach beschrieben, was es derzeit so gibt an Kulturbegriffen und wie der praktische Umgang mit ihnen ist. Das ist reine Beschreibung und Analyse des momentanen Ist-Zustandes, kein "Sollen". Daher nochmal der kurze Ausschnitt aus dem Zitat (Quelle hatte ich bereits angegeben):

"Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen."

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Mi 15. Nov 2017, 16:03
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 15:33)

Kann ich nicht sehen. Dort wird einfach beschrieben, was es derzeit so gibt an Kulturbegriffen und wie der praktische Umgang mit ihnen ist. Das ist reine Beschreibung und Analyse des momentanen Ist-Zustandes, kein "Sollen". Daher nochmal der kurze Ausschnitt aus dem Zitat (Quelle hatte ich bereits angegeben):

"Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen."

Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

Ich habe mal markiert. Also unmissverständlicher kann man doch nicht sagen, dass man moralischen Mängeln abhelfen möchte. Das heißt, Kultur soll nicht so beschrieben werden, wie sie wahrgenommen WIRD, sondern wie sie wahrgenommen werden SOLL. Das ist ja gut, wenn es so deutlich und ohne großes nebelkerziges Herumreden ausgesprochen wird. Das Sollen soll das Bewusstsein bestimmen, das ist das, was ich als säkulare Theologie bezeichne.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Fr 17. Nov 2017, 10:16
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 16:03)

Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

Ich habe mal markiert. Also unmissverständlicher kann man doch nicht sagen, dass man moralischen Mängeln abhelfen möchte. Das heißt, Kultur soll nicht so beschrieben werden, wie sie wahrgenommen WIRD, sondern wie sie wahrgenommen werden SOLL. Das ist ja gut, wenn es so deutlich und ohne großes nebelkerziges Herumreden ausgesprochen wird. Das Sollen soll das Bewusstsein bestimmen, das ist das, was ich als säkulare Theologie bezeichne.
Nochmal: Das ist schlicht eine Beschreibung/Analyse des Vorgefundenen. Und fasst im Übrigen auch gut zusammen, was hier oft diskutiert wird von einigen. Ein Kulturbegriff, der ausgrenzt, ist einfach nicht akzeptabel für aufgeklärte Menschen. Und um es mal auf eine praktische nachvollziehbare Ebene herunterzubrechen: Ich hab es immer schon als bereichernd empfunden, mit einer bunten Truppe von Leuten aus aller Herren Länder zusammenzusitzen, gemeinsam zu musizieren und Theater zu spielen statt immer nur mit den eigenen Landsleuten. Keine Kultur ist besser als die andere oder gar "mehr wert" als die andere, so dass sich daraus sowas Irrationales wie etwa eine "Leitkultur" erklären ließe.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Fr 17. Nov 2017, 10:25
von Sextus Ironicus
Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:16)

Nochmal: Das ist schlicht eine Beschreibung/Analyse des Vorgefundenen. Und fasst im Übrigen auch gut zusammen, was hier oft diskutiert wird von einigen. Ein Kulturbegriff, der ausgrenzt, ist einfach nicht akzeptabel für aufgeklärte Menschen. Und um es mal auf eine praktische nachvollziehbare Ebene herunterzubrechen: Ich hab es immer schon als bereichernd empfunden, mit einer lustigen bunten Truppe von Leuten aus aller Herren Länder zusammenzusitzen, gemeinsam zu musizieren und Theater zu spielen als immer nur mit den eigenen Landsleuten. Keine Kultur ist besser als die andere oder gar "mehr wert" als die andere, so dass sich daraus der Anspruch einer "Leitkultur" erklären ließe.
Es ist für einen wissenschaftlichen Kulturbegriff vollkommen irrelevant. Aufgabe einer Beschreibung des Phänomens ist die Wirklichkeit wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Und Leitkultur, wie ich erklärt hatte, ist ein politischer (Kampf)Begriff und kein Kulturbegriff. Du möchtest dass Kultur das ist, was sie nach deiner Meinung sein soll oder die Gültigkeit des Begriffes davon abhängig machen, welche Folgen das hätte.

Ich stelle mal zur Erklärung zwei Links ein:

https://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz
https://bookofbadarguments.com/de/

(Seite 10 z.B.)

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Fr 17. Nov 2017, 10:31
von Selina
Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:25)

Es ist für einen wissenschaftlichen Kulturbegriff vollkommen irrelevant. Aufgabe einer Beschreibung des Phänomens ist die Wirklichkeit wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Und Leitkultur, wie ich erklärt hatte, ist ein politischer (Kampf)Begriff und kein Kulturbegriff. Du möchtest dass Kultur das ist, was sie nach deiner Meinung sein soll oder die Gültigkeit des Begriffes davon abhängig machen, welche Folgen das hätte.

Ich stelle mal zur Erklärung zwei Links ein:

https://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz
https://bookofbadarguments.com/de/

(Seite 10 z.B.)
Nö, die Realität ist einfach so, das hat nix mit irgendwelchen Wünsche von mir zu tun. Schau dich um an den Theatern, Hochschulen, in den Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Uni-Kliniken, dort geht es nun mal sehr gemischt zu und keiner denkt im Ernst daran, andere auszugrenzen oder sich selbst für etwas Besseres zu halten. Im Gegenteil: Ohne das Know-how aus dem Ausland würden wir manchmal ganz schön alt aussehen. Das ist einfach der Stand der Dinge. Das wird auch ein kleines Häufchen Neurechter nicht mehr ändern können. Zum Glück.

Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Verfasst: Fr 17. Nov 2017, 10:41
von schokoschendrezki
Der primäre und wesentliche und objektiv gegebene gesellschaftliche Trend weltweit besteht darin, Kulturzugehörigkeiten aufzulösen. Völlig unabhängig davon, wie man das subjektiv bewertet. Daran besteht doch überhaupt kein Zweifel. Von der Jazzmusik bis hin zum Hollywood-Kino, vom Pizza-Lokal bis hin zum Yoga-Zentrum in jedem Winkel der Erde. Und ebensowenig Zweifel besteht daran, dass der Kulturzugehörigkeitswahn der letzten 10,20 Jahre im wesentlichen eine Gegenreaktion darauf ist. Es gibt aus meiner Sicht nur eine angemessene Reaktion darauf: Gelassen, distanziert und gleichzeitg kritisch als unabhängiger Beobachter daneben zu stehen.