Mhm, ich würde das nicht rundum als vor ideologischen Karren spannen bezeichnen. Gruppen sind erst einmal schlicht eine anthropologische Geschichte, oder nicht? Das menschliche Erfolgsmodell basiert ja auf Kooperation (die Tomasello als Ursprung für die Moral setzt). Und im innersten Zirkel braucht man für die hierzu erforderliche Loyalität (mir gefällt dieser Begriff Michael Walzers besser als Moral) wenig ideologiefähige Beschreibung. Je weiter wir uns nach außen bewegen in dieser konzentrischen Anordnung, desto dichter werden die Beschreibungen (nach Walzers Modell), und je dichter die Beschreibungen desto stärker spielen Machtfragen (und damit Ideologiefragen) für die Durchsetzung/Erzwingung von Loyalität eine Rolle. Aber umgekehrt scheint es mir auch so, als würde die Ausmerzung von Gruppenzugehörigkeit aufgrund des Umstands ihrer Abgrenzungsbedürfnisse nicht nur alle Loyalitäten auflösen, sondern auch das größte Kapital zerstören, das erfolgreiche Gesellschaften/Gruppen aufweisen, nämlich das Vertrauen. Was man auch daran ablesen kann, dass Vertreter von sehr universalistischen Modellen eine umfassende Verrechtlichung von gesellschaftlichen Beziehungen anstreben, wobei, wie Rorty vor 25 Jahren schon festgestellt hat mit Blick auf seine Gesellschaft, nur noch Identitätspolitik betrieben wird, aber die sozialen, die ökonomischen Aspekte außen vor bleiben. Was kein Wunder ist angesichts derjenigen, die da zugange sind. Würde man Marx alte Lumpenproletariatsdefinition aufgreifen und modifizieren, müsste man diese Identitätspolitiker dem oberen Lumpenproletariat zuordnen.schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 15:25)
Den Fingerzeig habe ich wohl verstanden ... Aber die Kausalrichtung ist umgekehrt. Gruppen werden, noch bevor man ihnen misstrauisch begegnet, immer schon vor einen ideologischen Karren gespannt: Vor dem Misstrauen gegenüber "Klassenbewusstsein" steht die Erfahrung des realen Sozialismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Religionszugehörigkeit stehen Mittelalter, Inquisition und später die Ehe zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Nationenzugehörigkeit steht der Nationalismus samt seinen Auswüchsen. Irgendwann ist Schluss und die Ablehnung von Gruppenzugehörigkeit könnte sich noch als sozusagen vorgreifende Inanspruchnahme und Besetzung der individualistischen Position erweisen, die (noch) mit humanistischem Inhalt ausgefüllt werden kann, bevor sie von der rabiaten Ökonomisierung ausgefüllt wird.
Was die Ausfüllung individualistischer Positionen mit humanistischen Inhalten angeht, so hab ich mir neulich mal notiert: Einem Gedanken der Aufklärung zufolge ist der Mensch von Natur aus dumm und roh, aber erziehbar. Man braucht, selbst als möglicher Zweifler oder notorischer Pessimist, diese Vorstellung nicht in Bausch und Bogen zu verdammen, sie nicht grundsätzlich als Ammenmärchen abtun. Jedoch ließe sich die rein behavioristische Pointe der Hoffnung präzisieren und wieder auf ihre anthropologische Ebene stellen, indem man »erziehbar« durch »korrumpierbar« ersetzt.
Nach dem Ende des Wohlstands kehrt der Mensch wieder zu seinen Ursprüngen zurück.
Dann wird also entleert werden