Sextus Ironicus hat geschrieben:(18 Nov 2017, 16:05)
Ein neutraler Begriff Kulturbegriff, der so formuliert wäre, dass er die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnissen nicht abbildet oder enthält, wäre irgendwas, aber kein brauchbarer Kulturbegriff. Die von mir gelieferte Definition lässt diese auch nicht außer Acht, sie enthält halt den Ausgangspunkt für das, was Bourdieu wollte (und uns auch nicht weiter zu interessieren braucht). Nochmal das Zitat:
Das schließt alle von dir genannten Verhältnisse mit ein, denn Wirtschaft, soziale Beziehungen, Politik laufen in Form konkreter Interaktionsverhältnisse ab. Auch unsere Diskussion hier ist ein konkretes Interaktionsverhältnis, es richtet sich nach den Regeln, die hier im Forum gelten und ihrerseits an die in unserem gemeinsamen Kulturkreis geltenden Normen (bestehend aus Rechts-, Sitten- und Moralnormen) angelehnt sind. Der vorgestellte Kulturbegriff muss nicht erschöpfend sein, aber man kann ihn kritisieren und die Gründe angeben. Ein falsches Argument wäre dabei aber, etwas aus normativen Gründen zu verwerfen, weil man damit auf die falsche Ebene gerät. Er hat ein paar Gemeinsamkeiten mit dem von Blue Monday zitierten, allerdings vermischt Mauthner schon wieder ein wenig das Deskriptive und Normative.
Diesen Einwand kann man machen. Man kann ihn aber auch umkehren. Ich zum Beispiel verstehe die Angst vieler Leute vor Politikern, die gar nicht wissen, wovon sie überhaupt sprechen, wenn sie den Begriff "Kultur" verwenden. Nur wenn ich einen Begriff von Kultur habe, kann ich mir ihre Funktionsweise vor Augen führen, dabei mehr und mehr ein Verständnis davon gewinnen, weshalb etwas so und so ist und weshalb etwas so und so sein sollte und ob es überhaupt so und sein kann, ob die Bedingungen überhaupt vorhanden sind usw. Das gehört dazu, und es weist über normative Aspekte hinaus. Und über hundert Jahre nach Mauthner, im Zeitalter der Neurowissenschaften (wie unterschiedlich dort die Ansätze auch sein mögen), weiß man sogar, dass im Rahmen der soziokulturellen Umstände noch nicht einmal von den "physiologischen Bedingungen des Einzellebens" (siehe den Mauthner-Beitrag) abgesehen werden kann, wenn man über Kultur spricht. Man denke an Kaspar Hauser, der ein spannendes Objekt für eine neurophysiologische Untersuchung wäre.
Zu deinem Bourdieu-Zitat: Ja, kann ich mit leben, bis auf die Formulierung "als Stabilität garantierende normen- und wertbezogene Bindungen". Welche Stabilität? Kulturelle Beziehungen, auch die erwähnte Interaktion auf allen Gebieten, aber auch die hier gerne außen vor gelassenen künstlerischen Verhältnisse und Erscheinungen leben gerade davon, dass sie immer wieder alles in Frage stellen, eben keine Stabilität sichern. Die Kultur, die ich im Blickfeld habe, ist offen, frei, experimentell, Grenzen auslotend, alles hinterfragend, zweifelnd. Ja, auch so eine Diskussion hier ist damit gemeint. Der Zweifel an bestimmten Thesen ist mir da ein besserer Ratgeber als das sich ständige gegenseitige Bestätigen.
Du sagst "ein falsches Argument wäre dabei aber, etwas aus normativen Gründen zu verwerfen, weil man damit auf die falsche Ebene gerät". Nein, es gibt keine "falschen Argumente" und auch keine "falsche Ebene", schon gar nicht bei dem schwer eingrenzbaren Kulturbegriff. Und irgendetwas aus normativen Gründen zu verwerfen, das kann schon durchaus mal nötig werden. Wenn mir zum Beispiel eine "Bewegung" oder Partei erklärt, die einzig akzeptable Familie sei die aus Vater, Mutter, Kind bestehende und alles andere, wie zum Beispiel Familien mit homosexuellen Partnern und Kind, entspräche nicht der gewünschten Norm, dann entgegne ich halt recht "normativ": Nee, die Realität des Familienlebens vollzieht sich auf vielfältige Art und Weise, mit hetero-
und homosexuellen Eltern. Ob man das nun will oder nicht, es
ist einfach so.
Und wenn du sagst, du verstehst "die Angst vieler Leute vor Politikern, die gar nicht wissen, wovon sie überhaupt sprechen, wenn sie den Begriff 'Kultur' verwenden", dann weiß ich jetzt nicht, welche Politiker du genau meinst. Da gibt es einige, die sehr genau mit Begrifflichkeiten umgehen und andere wiederum nicht. Für mich ist die ganze Kulturbegriffs-Debatte eine Scheindebatte. Warum wird sie geführt, was soll sie bringen? Wer braucht sie? Wofür? Wer ein liberales, freies, humanes und kreatives Leben bevorzugt, das weltoffen und tolerant ist, wer sich nicht in "kulturellen Gruppen" abgrenzt von anderen, der lebt eigentlich ganz gut. Er tut sich selbst und anderen gut. Auch ohne einen fein ziselierten und fest umrissenen Kulturbegriff.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz