Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

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schokoschendrezki
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(11 Dec 2017, 14:39)

Woher beziehst du nicht gemacht? Er sagt ja vorne:



Dass diese politischen Planungsphantasien tatsächlich Unsinn sind, ist ja gerade auch mein Punkt, wenn ich mich dagegen wehre, dass Politik bis ins Allerprivateste vordringt und mir aus hypermoralischen Gründen alle diese vermeintlichen Werte mittels Verrechtlichung aufs Auge drücken will. Und mit seinem letzten Satz, den du zitierst, tut er das, was auch Neurowissenschaftler über ein oder anderthalb Jahrzehnte so großspurig taten: Sie wollen die Prozesse, die sie beschreiben, selbst interpretieren. Reckwitz geht hier direkt von dem, was ist, was stattfindet, was fabriziert wird, in eine Rechtfertigung über. Man sieht ja an seiner Literaturliste: Er hat eigentlich nichts aus den Naturwissenschaften gelesen, keine Psychologie, keine Verhaltensbiologie, keine Neurowissenschaftler, einfach nichts. Und lies mal nicht bloß die Vokabel "homogen", lies auch mal "keine rationale Ordnung, keine egalitäre Gesellschaft, keine balancierte Persönlichkeitsstruktur" (keine Ahnung, was er sich unter letzterem vorstellt). Er muss also die Konsequenzen, die man aus seiner Beschreibung, die Wertungen, die Interpretation usw. schon seinen Lesern überlassen. Seine Aufgabe ist es, uns zu klären, was stattfindet, nicht uns zu sagen: Das ist das Schicksal, nehmt es hin. Denn diejenigen, die da fabrizieren, könnten ja auch einen an der Waffel haben (ums mal zuzuspitzen).
Zwischen "sozial fabriziert" und "nicht gemacht" besteht für mich kein Widerspruch. Ab einer gewissen Mindestmenge von Individuen ist das sozial Fabrizierte für den Einzelnen nicht mehr (bewusst) "gemacht", auch wenn es natürlich immer noch durch die Tätigkeit von Menschen geschieht. Ein System ist mehr als die Summe seiner Bestandteile.

Wie er das mit der "balancierten Persönlichkeitsstruktur" (parallel zu Ordnung und Gesellschaft) meinte, ist mir auch nicht ganz klar.

"Verrechtlichung" sehe ich, ganz im Gegenteil als Distanz-Phänomen. Vor dem Recht sind erstens alle gleich und zweitens ist Recht immer ausformulierter Text. Man kann ihn lesen und sich daran halten (oder nicht). Ganz und gar anders als diffuse moralische Appelle oder kulturelle "Werte".
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Sextus Ironicus
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 15:55)

Zwischen "sozial fabriziert" und "nicht gemacht" besteht für mich kein Widerspruch. Ab einer gewissen Mindestmenge von Individuen ist das sozial Fabrizierte für den Einzelnen nicht mehr (bewusst) "gemacht", auch wenn es natürlich immer noch durch die Tätigkeit von Menschen geschieht. Ein System ist mehr als die Summe seiner Bestandteile.
Hieße aber in der Summe, dass die Angewohnheiten von 30 % der Menschen zu 100 % die Wirklichkeit konstruieren.
Mal abgesehen davon, dass die traditionellen Lebenssichten ja über solche Prozesse plötzlich auch zu wirkmächtigen Singularitäten aufsteigen könnten.
Mich überzeugt die Beschreibung, aber weder das Fatalistische noch das Notwendige. Es folgt ganz bestimmten Logiken, ganz bestimmten Machstrukturen, einem ganz bestimmten Menschenbild. Und letzteres ist das Entscheidende, weil es vollkommen prekär und defizitär ist.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(11 Dec 2017, 16:04)

Hieße aber in der Summe, dass die Angewohnheiten von 30 % der Menschen zu 100 % die Wirklichkeit konstruieren.
Warum denn das? Auch mal angenommen, die Prozentzahlen stimmen in etwa: Den "Valorisierungen" stehen mehr oder minder gleichbedeutend die "Entwertungen" gegenüber. Das ist eine ganz zentrale These des Buchs. Die vorgefundene 100% soziale Realität wird von beiden Phänomen gleichermaßen geprägt. Also auch gleichermaßen von den (wenns stimmt) 30 und 70 Prozent.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Mo 11. Dez 2017, 16:09, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 15:55)


"Verrechtlichung" sehe ich, ganz im Gegenteil als Distanz-Phänomen. Vor dem Recht sind erstens alle gleich und zweitens ist Recht immer ausformulierter Text. Man kann ihn lesen und sich daran halten (oder nicht). Ganz und gar anders als diffuse moralische Appelle oder kulturelle "Werte".
Zur Erinnerung: "We should never doubt that nationalizing the moral life is the first step toward totalitarianism." Das sagt Kenneth Minogue in "The Servile Mind", und da hat er einfach Recht. Und aus dieser Sklavenmoralität heraus entstehen Gesetze übers Essen oder Rauchen bis hin zum Verbot der Sterbehilfe.

Aber das nur nebenbei: wie kommst du auf deinen letzten Satz? Alles, was Reckwitz beschreibt, dreht sich um fabrizierte kulturelle Werte?!
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Uffzach »

relativ hat geschrieben:(11 Dec 2017, 15:54)

Das was du Thematisiert hast hat schon lange nix mehr mit dem Threadthema zu tun, da nutzt dir auch die etwas flache Herleitung zum Ende nix mehr. ;)
Nein nein. Recht und Ordnung ist das einzige, was als verbindendende Kultur wirken kann. Nur vom Staat kann diese kommen, wenn - und nur wenn - er diese auch durchsetzt.
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Sextus Ironicus
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Uffzach hat geschrieben:(11 Dec 2017, 16:41)

Nein nein. Recht und Ordnung ist das einzige, was als verbindendende Kultur wirken kann. Nur vom Staat kann diese kommen, wenn - und nur wenn - er diese auch durchsetzt.
Großer Seufzer. Noch so ein Servile Mind-Vertreter. :rolleyes:

Der Staat ist dazu da, Recht durchzusetzen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wie das geschieht, in welchem Umfang und mit welchen Mitteln, das ist sicher ein Teil der Kultur. Nähme man aber jetzt deine Maßstäbe, wäre Nordkorea der Idealstaat.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 13:31)

Ersteinmal haben in einem System mit Pressefreiheit die Medien keine "Aufgabe".
Da irrst du aber gewaltig -Verehrtester.
Gerade in einem System der Pressefreiheit haben Medien (sogar mehrere) Aufgaben bzw Funktionen.

"Funktionen der Medien in einer demokratischen Gesellschaft I und II"Medien tragen sowohl zur Stabilität des politischen Systems als auch zum stetigen Wandel der Gesellschaft aufgrund aktueller Entwicklungen bei. Dies geschieht, indem Medien über alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft, d. h. insbesondere Politik, Wirtschaft sowie Kultur und Soziales
so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren,
in freier und offener Diskussion zur Meinungsbildung beitragen und
mit Kritik und Kontrolle durch investigativen (nachforschenden und aufdeckenden) Journalismus begleiten."

Quelle


Zur Meinungsbildung beitragen ist etwas anderes als eine Meinung (die Meinung der Journalisten) vorgeben.
schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 13:31)Die Medien können Comic-Serien oder Nacktfotos oder sonsterwas produzieren. Der öffentlich-rechtliche Bereich lediglich hat den Auftrag einer Grundversorgung.

Und wieder befindest du dich ganz gewaltig im Irrtum ==> siehe oben:
"so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren"

Nix da mit "Grundversorgung"!

"Da die Bürger/innen in einer Demokratie mitbestimmen können und sollen, müssen sie über die wichtigen politischen Abläufe und Inhalte informiert werden. Es gibt jedoch viele politische Ereignisse, die oftmals sehr komplex sind und auch abseits der Öffentlichkeit in speziellen Gremien stattfinden. Medien können darauf aufmerksam machen und die verschiedenen Positionen erläutern bzw. den Beteiligten Raum für Erläuterungen bieten. Damit eröffnen sich zugleich Möglichkeiten der Kontrolle und Kritik, da Vorgehensweisen und Inhalte politischer Vorgehensweisen hinterfragt werden."
gleiche Quelle


Also wieder nix mit "Grundversorgung"
schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 13:31)]Berechtigterweise müsste man von einer Deutungshoheitsinanspruchnahme sprechen, wenn es irgendwelche Kartellstrukturen gäbe.

Und genau solche kartellähnlichen Strukturen gibt es:
Der Kommunikationswissenschaftler em. Prof. Hans Mathias Kepplinge kommt bei seinen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Journalisten Meinungen verbreiten (statt, wie es ihre Aufgabe ist, "vollständig, sachlich und verständlich" zu informieren) und damit entfernen sie sich immer mehr von ihren Lesern.

„Alle Journalisten verfolgen den ganzen Tag die Gewichtung und Bewertung des aktuellen Geschehens durch ihre Kollegen bei anderen Medien. Das verbindet die Kollegen untereinander und beschleunigt die Meinungsbildung im Journalismus insgesamt bzw. in unterschiedlichen Lagern.
Wegen der intensiven und schnellen Ko-Orientierung entstehen im Journalismus gemeinsame Überzeugungen, die sich wechselseitig bestätigen und zu Wahrheitsansprüchen verdichten, an denen sich die Sichtweisen der Bevölkerung messen lassen müssen.
Für viele Journalisten handelt es sich nicht um Meinungen zu, sondern um Tatsachenaussagen über Phänomene: für sie »ist« z.B. die Kernenergie unkontrollierbar.“
Quelle: "Totschweigen und Skandalisieren: Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken", Hans Mathias Kepplinger, Herbert von Halem Verlag 2017


Kepplinger bezeichnet solche Strukturen als "journalistische Filterbubble" in welcher sich Journalisten sich im Besitz der Wahrheit wähnen und wer sie nicht teilt, muss irren. Zweifler darf es nicht geben, die werden mit Nationalisten und/oder Fremdenfeinden gleichgesetzt. Kepplinger legt in seinem Buch dar, dass einzelne Störfälle beginnen, die Gesellschaft zu verändern und ihre Funktionsfähigkeit anzugreifen.
Dies führt letztendlich dazu - so Kepplinger - dass Journalisten ihre Meinung "faktenbereinigt" äußern:

„Fast alle berichteten schwerpunktmäßig über die Ansichten von Experten, die ähnliche Meinungen vertraten wie die Journalisten in ihren Meinungsbeiträgen. Die aktuellen Nachrichten und Berichte dieser Blätter bestätigten nun mit anderen Worten die Sichtweisen der Journalisten durch die Experten, die sie zu Wort kommen ließen."
Siehe Quelle oben.


Nunja - diese Art Journalismus ist tatsächlich das Beanspruchen der Deutungshoheit.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Uffzach »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(11 Dec 2017, 16:53)

Großer Seufzer. Noch so ein Servile Mind-Vertreter. :rolleyes:
Falsches Gleis. Die Alternative wäre ein Nebeneinander von Subkulturen, also Multikulti ohne Verbindendes. Es kommt also darauf an wie man den Rahmen setzt für 'verbindende Kultur'. Im Titel ist der Rahmen durch das wort 'deutsch' gesetzt, bezieht sich also auf Deutschland und da kann dann also das Verbindende nur vom deutschen Staat kommen und vom Staat als Instanz der Rationalität kommt notwendigerweise Recht und Ordnung.
Sextus Ironicus hat geschrieben: Der Staat ist dazu da, Recht durchzusetzen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wie das geschieht, in welchem Umfang und mit welchen Mitteln, das ist sicher ein Teil der Kultur. Nähme man aber jetzt deine Maßstäbe, wäre Nordkorea der Idealstaat.
Das Thema hier ist nicht der Staat, sondern 'eine verbindende Deutsche Kultur'. Nordkorea hat sicher eine verbindende Kultur, aber keine deutsche, und ob Recht und Ordnung kann ich nicht beurteilen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2017, 13:42)

Die Kausalrichtung ist in beiden Fällen genau anderstherum. Der Mensch ist in erster Linie von den ihn umgebenden Gegebenheiten geprägt. Kaum jemand wird sich freiwillig "entwurzeln". Den Du Kosmopolit nennst, ist es, versucht aber, damit zurechtzukommen, es zu akzeptieren oder sogar ins Positive zu wenden.
Falsch! Der Mensch ist durch seine Biologie, durch die Evolution geprägt und NICHT durch die ihn "umgebenden Gegebenheiten".
Genau das ist ja der Trugschluss, dem ihr Sozialkonstruktivisten aufsitzt.
Der Mensch ist ein Rudeltier und entsprechend hat er evolutionär eine Sozialverhalten entwicklet, welches Rudeltieren entspricht.
Und natürlich entwurzeln sich so genannte Kosmopoliten freiwillig, indem sie jede Zugehörigkeit leugnen, einer "fluiden Indentität" das Wort reden und Bindungen (zu und in einer Gemeinschaft) ablehnen.
Darum sind Kosmopoliten (Vertreter des Sozialkontruktivismus) auch so leicht manipulierbar und ideologisch indoktrinierbar - und sie merken das nicht einmal.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Uffzach hat geschrieben:(11 Dec 2017, 17:29)

Falsches Gleis. Die Alternative wäre ein Nebeneinander von Subkulturen, also Multikulti ohne Verbindendes. Es kommt also darauf an wie man den Rahmen setzt für 'verbindende Kultur'. Im Titel ist der Rahmen durch das wort 'deutsch' gesetzt, bezieht sich also auf Deutschland und da kann dann also das Verbindende nur vom deutschen Staat kommen und vom Staat als Instanz der Rationalität kommt notwendigerweise Recht und Ordnung.


Das Thema hier ist nicht der Staat, sondern 'eine verbindende Deutsche Kultur'. Nordkorea hat sicher eine verbindende Kultur, aber keine deutsche, und ob Recht und Ordnung kann ich nicht beurteilen.
Ob Nordkorea eine hat oder nicht, ist egal. Weil die Menschen im Zweifelsfall gewaltsam verbunden würden.

Und auf dem falschen Gleis sitzt du. Als Ordnungsmacht hat der Staat einige Schutzfunktionen, aber ganz sicher nicht die Aufgabe, eine verbindende Kultur herzustellen. Je stärker eine solche verbindende Kultur auf der Basis des Vertrauens von Menschen entsteht, wächst, sich wandelt und entwickelt, desto weniger bedarf es der Ordnungsmacht des Staates (mal etwas vereinfachend ausgedrückt). Was die Paternalisten heute auf den Plan ruft, ist der Versuch, immer mehr neue "Verbindungen" im Wege der Verrechtlichung ganz natürlicher alltäglicher Beziehungen durchzusetzen und Moralen zu dekretieren, die in sich ebenso Unfug sind wie gegen die Interessen der Mehrzahl der Menschen gerichtet.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Occham »

Dark Angel hat geschrieben:(11 Dec 2017, 17:39)

Falsch! Der Mensch ist durch seine Biologie, durch die Evolution geprägt und NICHT durch die ihn "umgebenden Gegebenheiten".
Redet Evolution nicht von Anpassung an die Gegebenheiten? Irgendwo ist dir hier ein Denkfehler untergekommen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

Occham hat geschrieben:(11 Dec 2017, 18:55)

Redet Evolution nicht von Anpassung an die Gegebenheiten? Irgendwo ist dir hier ein Denkfehler untergekommen.
Evolution redet gar nicht, die ist nämlich kein Mensch.
Evolution ist ein deskriptiver Begriff und zwar für den Entwicklungsprozess vom Einfachen zum Komplexen.
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.

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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Uffzach »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(11 Dec 2017, 18:37)
Ob Nordkorea eine hat oder nicht, ist egal. Weil die Menschen im Zweifelsfall gewaltsam verbunden würden.

Und auf dem falschen Gleis sitzt du. Als Ordnungsmacht hat der Staat einige Schutzfunktionen, aber ganz sicher nicht die Aufgabe, eine verbindende Kultur herzustellen.
Kann man so sehen. Ich sehe den Staat jedoch als kreative ratio ohne den das irrationale Kollektiv in Chaos und Willkür abgleitet. Kein Nachtwächterstaat, sondern ein
rationaler Konstrukteur.

Sextus Ironicus hat geschrieben: Je stärker eine solche verbindende Kultur auf der Basis des Vertrauens von Menschen entsteht, wächst, sich wandelt und entwickelt, desto weniger bedarf es der Ordnungsmacht des Staates (mal etwas vereinfachend ausgedrückt). Was die Paternalisten heute auf den Plan ruft, ist der Versuch, immer mehr neue "Verbindungen" im Wege der Verrechtlichung ganz natürlicher alltäglicher Beziehungen durchzusetzen und Moralen zu dekretieren, die in sich ebenso Unfug sind wie gegen die Interessen der Mehrzahl der Menschen gerichtet.
Kann man so sehen. Ich seh's nicht so. Ordnung kann auf vielerlei Weise hergestellt werden. individuelle Freiheit vorzugaukeln ist dabei auch ein Mittel zum Zweck.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(11 Dec 2017, 17:39)
Der Mensch ist ein Rudeltier und entsprechend hat er evolutionär eine Sozialverhalten entwicklet, welches Rudeltieren entspricht.
Nur wird dieses Sozialverhalten mehr und mehr von gesellschaftlichen Prozessen überblendet.

Die zentrale These des Buchs "Die Gesellschaft der Singularitäten", das wir nun schon in mehreren Beiträgen diskutiert haben, ist, dass es
eine Zäsur zwischen dem früheren Industriekapitalismus und den mehr und mehr voherrschenden postmodernen Gesellschaften in der sogenannten westlichen Welt gibt. Und das Wesen dieses Wandels besteht in einem zunehmenden Primat des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen. Sagt ja schon der Titel. Und dass die aktuellen Tendenzen zur (Wieder)Kommunitarisiserung (in Form von Entwertungen) nur eine (hilflose) Reaktion auf diese unvermeidliche Entwicklung ist. Aus einem anderen Buch zur gleichen Frage:
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint uns der Prozess der Vorgeschichte der modernen Welt nicht nur als eine fortschreitende Auflösung vorgegebenen Gemeinwesens, sondern zugleich auch als Neukonstruktion von Gemeinschaftlichkeit. Kommunitarisierung, wenn wir sie so nennen wollen, ist in der europäischen Geschichte nur die andere Seite von Individualisierung.
Das wurde 2003 geschrieben. Heute, und das ist vielleicht der entscheidende Punkt bei Reckwitz, hat diese Singularisierung neuerlich nochmal an Fahrt aufgenommen. Und im letzten Abschnitt bezeichnet er die Hoffnung auf eine tatsächliche Wieder-Kommunitarisierung als Illusion.

Aus deiner Sicht - soweit ich dich verstanden habe - wird diese Singularisierung immer wieder als Ergebnis willentlicher Entscheidungen einer Gruppe von Menschen dargestellt. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Reckwitz sieht die ganze analysierte Entwicklung auch mitnichten durchweg positiv. Ich übrigens auch nicht. Aber sie findet statt. Sie wird nicht "inszeniert" oder "konstruiert" sondern sie ist.

Die ganze soziologische Argumentation überzeugt mich weit eher als deine biologistische Sicht auf den Menschen als "Rudeltier". Und zig Rezensenten des besprochenen Buches auch. Die Tatsache, auf die User S.I. hingewiesen hat, dass es im Quellenanhang kein naturwissenschaftliches Material gibt, ist kein Manko, sondern spricht, ganz im Gegenteil, für dieses Buch. Weil sie der sozialen und kulturellen Überformung des Menschen als biologisches Wesen Rechnung trägt und eine Reduzierung auf biologische Funktionen vermeidet.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Di 12. Dez 2017, 07:35, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und zu den Medien nochmal: Man könnte dem von dir zitierten bpb-Artikel mehere Artikel entgegensetzen, in denen davon die Rede ist, es sei Aufgabe der Bürger die nach dem demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung freie Presse zur Informationsbeschaffung zu nutzen. Die Funktion oder Rolle der Medien ist dann einfach die Feststellung und Analyse funktionierender (oder auch nicht fuktionierender) Informationskreisläufe und nicht eine zugewiesene "Aufgabe". Wer sollte die auch zuweisen, wenn die Medien als vierte Gewalt unabhängig zu sein haben?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben: Falsch! Der Mensch ist durch seine Biologie, durch die Evolution geprägt und NICHT durch die ihn "umgebenden Gegebenheiten".
Genau das ist ja der Trugschluss, dem ihr Sozialkonstruktivisten aufsitzt.
Der Mensch ist ein Rudeltier und entsprechend hat er evolutionär eine Sozialverhalten entwicklet, welches Rudeltieren entspricht.
Und natürlich entwurzeln sich so genannte Kosmopoliten freiwillig, indem sie jede Zugehörigkeit leugnen, einer "fluiden Indentität" das Wort reden und Bindungen (zu und in einer Gemeinschaft) ablehnen.
Darum sind Kosmopoliten (Vertreter des Sozialkontruktivismus) auch so leicht manipulierbar und ideologisch indoktrinierbar - und sie merken das nicht einmal.
Der Mensch als Art Homo Sapiens der Gattung Homo ist in seinen Eigenschaften ganz sicher durch die Evolution geprägt. Wie denn auch sonst. Als Individuum jedoch werde ich in eine konkrete Lebenswelt hineingeboren, an der ich anteilig zwar nicht nichts aber im Verhältnis doch relativ wenig ändern kann. Mein Entscheidungsraum besteht im Wesentlichen darin, ein sinnvolles Verhältnis zu diesen Gegebenheiten zu finden. Das ist die ganz normale Alltagserfahrung. Ich will gerne noch einmal darüber nachdenken. Mein wichtigster vorläufiger Einwand besteht darin, dass es nicht egal ist, ob ich als Mensch vorrangig mit existenziellen Problemen zu tun habe oder nicht. Ob Futtersuche und Nachkommenschafterzeugung Morgen für Morgen das allererste ist, woran ich zu denken habe. In dem Falle will ich gern glauben, dass ich ein Sozialverhalten als Rudeltier entwickeln werde. Ist dem aber wirklich so hier in Mitteleuropa?

"Sozialkonstruktivismus" ... das ist doch der Glauben daran, man könne sich eine Lebenswelt "konstruieren". Das glaube ich überhaupt nicht! Man kann ein sinnvolles persönliches Verhältnis zu einer vorgefundenen sozialen Lebenswelt finden und in einem Mikrobereich (der nur ein kleiner Teil davon ist) mikroskopische Veränderungen versuchen, herbeizuführen. Die Lebenswelt, in die ich hineingeboren wurde, war eine kollektivistische und ist mittlerweile eine, die mehr und mehr einerseits Singularitäten und andrerseits Abwertungsreaktionen darauf produziert. Ich habe daran keinen Anteil. Ich versuche lediglich, mich darin zurechtzufinden. Die meiner Persönlichkeit adäquateste Seite in diesem Gegensatzpaar zu finden. Ich konstruiere dabei ganz bestimmt nix oder so gut wie nix außer meinem persönlichen Verhältnis zu dieser widersprüchlichen Lebenswelt.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)


Das wurde 2003 geschrieben. Heute, und das ist vielleicht der entscheidende Punkt bei Reckwitz, hat diese Singularisierung neuerlich nochmal an Fahrt aufgenommen. Und im letzten Abschnitt bezeichnet er die Hoffnung auf eine tatsächliche Wieder-Kommunitarisierung als Illusion.
Da verlässt er den Boden der Theorie und wechselt ins Fach der Auguren. Der letzte Teil ist ganz schwach, da kommt zum Tragen, dass er den "kommunitaristischen Essenzialismus", wie er es nennt, als eine Gegenreaktion versteht und lediglich mit romantischen Modellen wie Herder oder geschichtsphilosophischen Ansätzen nach Hegel und Kojève gleichsetzt und so tut, als sei das alles (plus der böse Nationalismus, der als das Böse natürlich nicht fehlen darf). Aber seine gelungene Systemschau krankt einfach daran, dass er wie früher marxistische Geschichtsphilosophen völlig unpsychologisch und unanthropologisch vorgeht. Und er ist natürlich wie du ganz ungewollt hegelianisch: Was ist, ist vernünftig, was vernünftig ist, ist auch. Das scheint die Botschaft.

Dröselt man sein konstruktivistisches Vokabular ein wenig auf, sieht man, was ich meine.

Wolfgang Ullrich hat darauf hingewiesen, dass diese reine Werteethik, die Reckwitz ja auch vertritt, dazu führt, dass materielle Werte in immaterielle Werte umgewandelt werden. Das zieht sich durch den gesamten Reckwitz, denn die Basis seiner spätmodernen Mittelschicht ist ja keine Tugend oder keine Ethik, sondern das Materielle. Erst über das das Materielle bilden sich Werte (da müsste es vor allem den Linken hier, so sie echt sind, die Zehennägel nach oben biegen). Ullrich weist deshalb in seiner Wertekritik drauf hin, dass sich die Gesellschaft damit in doppelter Hinsicht spalte. Die Wohlständigen haben nicht nur die Kohle, sie können diese auch unterm Primat der Werte in Moral umwandeln. Werte, so Ullrich, ersetzen die Moral. Und damit sind die weniger Wohlständigen doppelt abgehängt: Materiell und moralisch, da man sich die rein an Werte gekoppelte Moral gar nicht leisten kann und eine Tugendmoral, die es nicht in den Stand eines Wertes, des Reckwitzschen Besonderen schaffe, eben obsolet ist.

Und am schönsten kann man den Einzelnen in seiner leeren Werteorientierung anhand von Reckwitz schöner Figur des "performativen Subjektivismus" vorführen. Es geht darum, seine Werteorientierung darzustellen, der Wert an sich liegt nicht im Handeln sondern in der Performativität. Früher sagte man: schön daherreden, nur dass das heute werteveredelt ist. Mit dieser Strategie betreibt übrigens das ZPS seinen Ablasshandel. Die helfen ja niemanden, sondern performen Werte und rufen andere zur Teilnahme durch Spenden auf. Das ist wie in Südostasien im Theravada-Buddhismus, wo man auch gutes Karma kaufen kann. Performativer Subjektivismus ist demnach primär ein Akt des Schauspiels, eine Art "heilige Wandlung" von schnödem Mammon in Werte, durch die man sich vom gemeinen Fußvolk abgrenzt. So präzise Reckwitz den Vorgang für alle Lebenslagen beschreibt, so geschichtsblind ist er, so unpsychologisch. Er ist wie der Seher im Asterix, der die Zukunft auch aus den fehlenden Eingeweiden von totem und gegrillten Tier liest. Natürlich stellen seine Werte auch ein Stück verbindende Kultur her, aber dadurch, dass er Psychologie außer Acht lässt, bleibt halt nur die durch Plappern ins Ideelle, Werthafte veredelte Kohle. Mich würde interessieren, was die sozial orientierte Linke zu einem solchen Ideal sagt.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Occham »

Dark Angel hat geschrieben:(11 Dec 2017, 19:19)

Evolution redet gar nicht, die ist nämlich kein Mensch.
Evolution ist ein deskriptiver Begriff und zwar für den Entwicklungsprozess vom Einfachen zum Komplexen.
Jedenfalls war deine Aussage, Anpassung an die Gegebenheiten seie falsch. Ein Obdachloser hat nämlch andere Verhaltensweisen als eine reiche Person, warum? Weil sich jedes Wesen an die Gegebenheiten anpassen muss, der Lebensbewältigung wegen und so entsteht auch Kultur, man passt sich kollektiv zur Lebensbewältigung an die Gegebenheiten an.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)

Nur wird dieses Sozialverhalten mehr und mehr von gesellschaftlichen Prozessen überblendet.
Nein - wird es nicht!
Menschliches Sozialverhalten IST biologisch (evolutionär) bedingt.
Es sind Menschen die gesellschaftliche Prozesse in Gang bringen und gestalten, NICHT umgekehrt.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)Die zentrale These des Buchs "Die Gesellschaft der Singularitäten", das wir nun schon in mehreren Beiträgen diskutiert haben, ist, dass es
eine Zäsur zwischen dem früheren Industriekapitalismus und den mehr und mehr voherrschenden postmodernen Gesellschaften in der sogenannten westlichen Welt gibt. Und das Wesen dieses Wandels besteht in einem zunehmenden Primat des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen.
Mag ja sein, dass das die zentrale These des Buches ist. Eine These ist auch nur eine unbewiesene Behauptung.
Diese These muss sich an der Realität überprüfen lassen, das funktioniert aber nicht, wenn man Biologie, evolutionäre Psychologie und Neurowissenschaften ausblendet und sich auf Sozialkonstruktivismus und Postkonstruktivismus beschränkt, wie das gegenwärtig in den Sozial- und Kulturwissenschaften üblich ist.
Und genau das ist Reckwitz - Soziologe und Kulturwissenschaftler.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)Sagt ja schon der Titel. Und dass die aktuellen Tendenzen zur (Wieder)Kommunitarisiserung (in Form von Entwertungen) nur eine (hilflose) Reaktion auf diese unvermeidliche Entwicklung ist. Aus einem anderen Buch zur gleichen Frage:

Das wurde 2003 geschrieben. Heute, und das ist vielleicht der entscheidende Punkt bei Reckwitz, hat diese Singularisierung neuerlich nochmal an Fahrt aufgenommen. Und im letzten Abschnitt bezeichnet er die Hoffnung auf eine tatsächliche Wieder-Kommunitarisierung als Illusion.
Du verstehst Aussagen auch immer nur so wie du sie verstehen willst.
Ich denke mal User Sextus Ironikus hat recht kritische Sichtweisen zu Reckwitz Thesen geliefert, hat hinterfragt, kommt teilweise zu anderen Schlüssen als Reckwitz.
DU liest nur heraus, was dir gerade in den Kram passt. Nun 30% "abgehobene, um den eigenen Nabel kreisende Individualisten" sind immer noch eine Minderheit gegenüber den restlichen 70% - angeblich hilflosen - Kommunitaristen.
Auch wenn Reckwitz der Meinung sein mag, die "die Hoffnung auf eine tatsächliche Wieder-Kommunitarisierung [sei eine] Illusion.", ist da evtl der Wunsch der Vater des Gedanken.
Den gegenwärtigen Trend, allen möglichen Quatsch nachzuahmen und auf Instagram oder Fratzenbuch zu teilen, als Singularität - als das Besondere - darzustellen, ist schon ziemlich seltsam. Das nur als Beispiel
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)Aus deiner Sicht - soweit ich dich verstanden habe - wird diese Singularisierung immer wieder als Ergebnis willentlicher Entscheidungen einer Gruppe von Menschen dargestellt. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Reckwitz sieht die ganze analysierte Entwicklung auch mitnichten durchweg positiv. Ich übrigens auch nicht. Aber sie findet statt. Sie wird nicht "inszeniert" oder "konstruiert" sondern sie ist.
Natürlich handelt es sich dabei um eine willentliche Entscheidung - um was denn sonst?
Wer oder was sollte denn Menschen dazu zwingen, irgendwelchen Modererscheinungen, irgendeinem Zeitgeist oder irgendeiner Denkrichtung zu folgen, wenn nicht aus eigener Entscheidung?
Natürlich wird sie von Menschen inszeniert, fabriziert - was denn sonst?
Solche gesellschaftlichen Erscheinungen/Prozesse fallen doch nicht vom Himmel oder entstehen aus dem Nichts.
Die sind nicht - puff - mal eben da.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 00:37)Die ganze soziologische Argumentation überzeugt mich weit eher als deine biologistische Sicht auf den Menschen als "Rudeltier". Und zig Rezensenten des besprochenen Buches auch. Die Tatsache, auf die User S.I. hingewiesen hat, dass es im Quellenanhang kein naturwissenschaftliches Material gibt, ist kein Manko, sondern spricht, ganz im Gegenteil, für dieses Buch. Weil sie der sozialen und kulturellen Überformung des Menschen als biologisches Wesen Rechnung trägt und eine Reduzierung auf biologische Funktionen vermeidet.
Aaah - darauf habe ich gewartet - da isse wieder, die Leugnung und Abwertung der biologischen (evolutionären) Determiniertheit und Bedingtheit des Menschen als "Biologismus".
Der Mensch ist derjenige der Kultur überhaupt erst schafft und er wird NICHT "kulturell überformt". Das ist Unsinn in höchster Potenz. Biologie Ist und bleibt bestimmend für die Natur des Menschen und erst dann - ein ganzes Stück weit später - kommt eine kulturelle Prägung hinzu.
Doch, es ist sehr wohl ein Manko und zwar ein sehr großes, dass im Buch keine naturwissenschaftlichen Quellen hinzu gezogen wurden, darum ergibt sich ein vollkommen einseitiges und vor allem unvollständiges Bild.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 07:34)

Der Mensch als Art Homo Sapiens der Gattung Homo ist in seinen Eigenschaften ganz sicher durch die Evolution geprägt. Wie denn auch sonst.
Falsch! Der Mensch ist NICHT "in seinen Eigenschaften ganz sicher durch die Evolution geprägt", sondern durch evolutionäre Prozesse überhaupt erst entstanden. Seine Eigenschaften sind biologisch determiniert und biologisch bedingt.
Die Biologie hat das Primat!
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 07:34)] Als Individuum jedoch werde ich in eine konkrete Lebenswelt hineingeboren, an der ich anteilig zwar nicht nichts aber im Verhältnis doch relativ wenig ändern kann.
Und diese konkrete Lebenswelt ist Kultur und damit ein Produkt menschlicher Tätigkeit, meschlicher Kreativität und Schöpferkraft, welche wiederum ihre Grundlage in der Biologie hat.
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Selina
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 07:34)

Der Mensch als Art Homo Sapiens der Gattung Homo ist in seinen Eigenschaften ganz sicher durch die Evolution geprägt. Wie denn auch sonst. Als Individuum jedoch werde ich in eine konkrete Lebenswelt hineingeboren, an der ich anteilig zwar nicht nichts aber im Verhältnis doch relativ wenig ändern kann. Mein Entscheidungsraum besteht im Wesentlichen darin, ein sinnvolles Verhältnis zu diesen Gegebenheiten zu finden. Das ist die ganz normale Alltagserfahrung. Ich will gerne noch einmal darüber nachdenken. Mein wichtigster vorläufiger Einwand besteht darin, dass es nicht egal ist, ob ich als Mensch vorrangig mit existenziellen Problemen zu tun habe oder nicht. Ob Futtersuche und Nachkommenschafterzeugung Morgen für Morgen das allererste ist, woran ich zu denken habe. In dem Falle will ich gern glauben, dass ich ein Sozialverhalten als Rudeltier entwickeln werde. Ist dem aber wirklich so hier in Mitteleuropa?

"Sozialkonstruktivismus" ... das ist doch der Glauben daran, man könne sich eine Lebenswelt "konstruieren". Das glaube ich überhaupt nicht! Man kann ein sinnvolles persönliches Verhältnis zu einer vorgefundenen sozialen Lebenswelt finden und in einem Mikrobereich (der nur ein kleiner Teil davon ist) mikroskopische Veränderungen versuchen, herbeizuführen. Die Lebenswelt, in die ich hineingeboren wurde, war eine kollektivistische und ist mittlerweile eine, die mehr und mehr einerseits Singularitäten und andrerseits Abwertungsreaktionen darauf produziert. Ich habe daran keinen Anteil. Ich versuche lediglich, mich darin zurechtzufinden. Die meiner Persönlichkeit adäquateste Seite in diesem Gegensatzpaar zu finden. Ich konstruiere dabei ganz bestimmt nix oder so gut wie nix außer meinem persönlichen Verhältnis zu dieser widersprüchlichen Lebenswelt.
Selbstverständlich ist das so, wie von dir beschrieben. Es ist nicht egal. Der Mensch ist natürlich "durch die Evolution geprägt", und in gewisser Weise ist er auch ein "Rudeltier", ja. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist selbstverständlich die soziale, sind die Verhältnisse und Zustände, in die der Mensch hineingeboren wurde. Stimmt. Und es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob jemand in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren wurde oder in weniger wohlhabende, ja, auch in richtig arme. Armut prägt. "Einmal arm, immer arm" heißt es drastisch. Und es ist auch was dran, denn ein armer Heranwachsender, dem es an allem fehlt, hat es heute ungleich schwerer als ein wohlhabender, alle Chancen zu nutzen, sich im Leben zu behaupten, einen/seinen Platz zu finden. Ganz zu schweigen davon, später mal einen versicherungspflichtigen unbefristeten Job zu finden als Basis für eine mögliche Familienplanung und Familiengründung. Solche Binsenweisheiten des täglichen Lebenskampfes zu leugnen und von "alles Biologie" zu reden, während es vielfach einfach "nur" um den nackten Existenzkampf geht, das ist weltfremd. Politisch-philosophisch sind solche biologistischen Aussagen der pure Fatalismus, weil damit ja (absichtlich) gesagt wird, der Mensch könne nix an seiner Pein und an den ihn klein und geduckt haltenden Verhältnissen ändern, weil ja sowieso alles biologisch vorgeprägt sei. Das zu behaupten, führt in der Konsequenz zu Stillstand. Auf allen Gebieten.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Pangelos »

Selina hat geschrieben:(12 Dec 2017, 14:56)

Selbstverständlich ist das so, wie von dir beschrieben. Es ist nicht egal. Der Mensch ist natürlich "durch die Evolution geprägt", und in gewisser Weise ist er auch ein "Rudeltier", ja. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist selbstverständlich die soziale, sind die Verhältnisse und Zustände, in die der Mensch hineingeboren wurde. Stimmt. Und es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob jemand in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren wurde oder in weniger wohlhabende, ja, auch in richtig arme. Armut prägt. "Einmal arm, immer arm" heißt es drastisch. Und es ist auch was dran, denn ein armer Heranwachsender, dem es an allem fehlt, hat es heute ungleich schwerer als ein wohlhabender, alle Chancen zu nutzen, sich im Leben zu behaupten, einen/seinen Platz zu finden. Ganz zu schweigen davon, später mal einen versicherungspflichtigen unbefristeten Job zu finden als Basis für eine mögliche Familienplanung und Familiengründung. Solche Binsenweisheiten des täglichen Lebenskampfes zu leugnen und von "alles Biologie" zu reden, während es vielfach einfach "nur" um den nackten Existenzkampf geht, das ist weltfremd. Politisch-philosophisch sind solche biologistischen Aussagen der pure Fatalismus, weil damit ja (absichtlich) gesagt wird, der Mensch könne nix an seiner Pein und an den ihn klein und geduckt haltenden Verhältnissen ändern, weil ja sowieso alles biologisch vorgeprägt sei. Das zu behaupten, führt in der Konsequenz zu Stillstand. Auf allen Gebieten.
Gut! Also gibt es nichts, was uns verbindet. Dein Menschsein interessiert mich nicht. Dein Menschsein ist halt nur deine Daseinsberechtigung. Also sei. Für dich. Du bist mir egal! Du kannst im Straßengraben liegen , komm zurecht, uns verbindet nichts. Wir sprechen noch nicht einmal die gleiche Sprache, obwohl wir die gleichen Wörter benutzen.

Ich brauche dich nicht, für nichts. Du mich auch nicht. Ist doch gut so. Klick und du bist raus aus meiner Welt.

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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(12 Dec 2017, 14:56)
Selbstverständlich ist das so, wie von dir beschrieben. Es ist nicht egal. Der Mensch ist natürlich "durch die Evolution geprägt", und in gewisser Weise ist er auch ein "Rudeltier", ja. Aber das ist nur die eine Seite.
Sorry Selina, aber das ist Unfug - Evolution prägt nicht, sie determiniert (genetisch festgelegt)und bedingt (Umwelteinflüsse).
Unter Prägung wird in der Biologie eine Form des Lernens, während eines relativ kurzen genetisch festgelegten Zeitabschnitts verstanden, bei der spezifische individuelle Erfahrungen irreversibel in in erbliche Verhaltensprogramme eingebaut werden.
Im Zusammenhang mit Naturwissenschaften solle man schon die Bedeutung von Begriffen kennen und vor allem die Begriffe, ihrer Bedeutung entsprechend korrekt verwenden (können), ansonsten kommt da nur Nonsens raus.
Selina hat geschrieben:(12 Dec 2017, 14:56)] Die andere ist selbstverständlich die soziale, sind die Verhältnisse und Zustände, in die der Mensch hineingeboren wurde.
Und wo kommt denn das "soziale" her? Wo hat das "soziale" seine Grundlage, seine Ursachen?
Selina hat geschrieben:(12 Dec 2017, 14:56)]Stimmt. Und es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob jemand in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren wurde oder in weniger wohlhabende, ja, auch in richtig arme. Armut prägt. "Einmal arm, immer arm" heißt es drastisch. Und es ist auch was dran, denn ein armer Heranwachsender, dem es an allem fehlt, hat es heute ungleich schwerer als ein wohlhabender, alle Chancen zu nutzen, sich im Leben zu behaupten, einen/seinen Platz zu finden.
Und was, bitte schön, soll das Ganze mit menschlichen Verhaltensweisen, mit verbindender Kultur zu tun haben?
Kannst du das bitte mal erklären?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 07:34)

"Sozialkonstruktivismus" ... das ist doch der Glauben daran, man könne sich eine Lebenswelt "konstruieren". Das glaube ich überhaupt nicht! Man kann ein sinnvolles persönliches Verhältnis zu einer vorgefundenen sozialen Lebenswelt finden und in einem Mikrobereich (der nur ein kleiner Teil davon ist) mikroskopische Veränderungen versuchen, herbeizuführen. Die Lebenswelt, in die ich hineingeboren wurde, war eine kollektivistische und ist mittlerweile eine, die mehr und mehr einerseits Singularitäten und andrerseits Abwertungsreaktionen darauf produziert. Ich habe daran keinen Anteil. Ich versuche lediglich, mich darin zurechtzufinden. Die meiner Persönlichkeit adäquateste Seite in diesem Gegensatzpaar zu finden. Ich konstruiere dabei ganz bestimmt nix oder so gut wie nix außer meinem persönlichen Verhältnis zu dieser widersprüchlichen Lebenswelt.
Damit befindest du dich aber im strengen Widerspruch zu Reckwitz. Im Zuge seiner Diskussion übers Authentische sagt er ja explizit "... im Raum des Sozialen ist alles gemacht und im strengen Sinne fake - nichts ist natürlich." Oder was meinst du jetzt mit "Lebenswelt"?

Oder:
Indem die soziale Welt sich zunehmend an Menschen, Gegenständen, Bildern, Gruppen, Orten und Ereignissen ausrichtet, die sie als singulär begreift und empfindet, ja, diese teilweise gezielt als solche hervorbringt, entfaltet die soziale Logik der Singularitäten für ihre Teilnehme eine Realität mit erheblichen, sogar unerbittlichen Konsequenzen.
Widerspricht das nicht auch deiner Aussage? Wobei ich persönlich solche Sätze als sinnlos empfinde, weil hier die "soziale Welt" als aktives Handlungs- und Empfindungssubjekt begriffen wird, was völlig daneben ist.

Aber das eher nebenbei. Ich wollte nach etwas anderem fragen. Er sagt (S. 350)
Ausgehend von der neuen Mittelklasse und ihrem Selbstverständnis, den avancierten Lebensstil der Gesellschaft der Singularitäten zu vertreten, den auch die Institutionen (in der Politik, im Bildungswesen, in der Medizin etc) auf breiter Front stützen, wird die Unterklasse zum Gegenstand negativer Kulturalisierung. Diese betrifft die geringe Ausstattung mit (formellem und informellem) kulturellem Kapital, die begrenzte Möglichkeit, das eigene (in legitimer Weise) ethisch-ästhetisch zu kulturalisieren, sowie die Entwertung des gesamten Lebensstils als defizitär, als ohne Lebensqualität, Anerkennung und Perspektive - eine Entwertung, die von außen, aber häufig auch von innen in Form einer Selbstentwertung erfolgt.
Weiter hinten, wo er dann den "alten" Modellen den Prozess macht, führt er mehr die moralische Seite ein und grenzt diese unterschichtige Variante der Essenzialismen dadurch ab, dass er ihnen von der schwachen bis zur starken Abgrenzung diese in Form unterschiedlich ausgeprägter Freund-Feind-Verhältnisse vorwirft. (Seite 397)
Die Innen-Außen-Differenz kultureller Gemeinschaften ist verknüpft mit einem Antagonismus zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen: Die Außenwelt erscheint aus der jeweiligen Binnensicht der Gemeinschaften bestenfalls wertmäßig neutral, häufig aber von negativem Wert und teilweise als zu bekämpfender Gegner. Diese kulturessenzialistische Valorisierung unterscheidet sich signifikant vom Valorisierungsregime der Hyperkultur: Dort steht man den als wertvoll anerkannten Gütern der weite Hintergrund der Elemente gegenüber, die nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten und denen keine Valorisierung gelingt. Die Haltung ihnen gegenüber ist eine der Differenz, nicht jedoch der Negativität. Ganz anders der Kulturessenzialismus, für den häufig eine Affektkultur der Negativität kennzeichnend ist: Die Identität des Innen setzt hier im Extrem eine scharfe Abgrenzung vom verworfenen, fremden, gar dämonisierten Außen ... voraus, das beständig sichtbar gemacht und entvalorisiert wird.
Das sind zwei Momentaufnahmen, die ganz gut zeigen, wie man mit ein paar Vokabeln "Moral macht". Den Unterschied in der Moral macht die Indifferenz: Denen, die über ausreichend formelles und informelles kulturelles Kapital (Basis: die Kohle) verfügen, können sich die Indifferenz leisten, da ihre Stellung und ihre Wertmünzerei ja ungefährdet ist, solange sie nicht durch irgendwelche, der Valorisierbarkeit entzogenen "Konstrukte" gehindert werden. Hier gilt nicht einmal mehr die Intersubjektivität in ethischen Dingen, hier zählt allein, dass sich etwas auf dem Wertemarkt als Singularität vermarkten, performen lässt. Die Indifferenz endet dort, wo der Essenzialismus auftritt, der bekommt dann sofort die moralische Wertekeule verpasst.

Das wird spannend, wer sich da durchsetzt. Aufs Besondere würde ich nicht wetten, da Wohlstand nicht unendlich steigerbar ist. Das wäre aber die Bedingung. Stattdessen würde ich lieber Ullrichs Warnung vor einer reinen Werteethik ernst nehmen. Im Übrigen glaube ich, dass selbst in diesem System noch ganz viel schnöde Natürlichkeit steckt, denn die Durchsetzung von Werteinteressen erfolgt ja nicht von einem abstrakten System her, sondern von den handelnden Menschen her. Und die folgen ganz natürlichen Instinkten und Trieben. Und die sind doch recht übersichtlich.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(12 Dec 2017, 10:21)
Aaah - darauf habe ich gewartet - da isse wieder, die Leugnung und Abwertung der biologischen (evolutionären) Determiniertheit und Bedingtheit des Menschen als "Biologismus".
Der Mensch ist derjenige der Kultur überhaupt erst schafft und er wird NICHT "kulturell überformt". Das ist Unsinn in höchster Potenz. Biologie Ist und bleibt bestimmend für die Natur des Menschen und erst dann - ein ganzes Stück weit später - kommt eine kulturelle Prägung hinzu.
Doch, es ist sehr wohl ein Manko und zwar ein sehr großes, dass im Buch keine naturwissenschaftlichen Quellen hinzu gezogen wurden, darum ergibt sich ein vollkommen einseitiges und vor allem unvollständiges Bild.
Jetzt nur mal diese Passage als Anlass für eine Entgegnung der vielen Gegenmeinungen (ich komme hoffentlich noch dazu mich ausführlicher zu äußern, bin momentan etwas anderweitig überlastet, will mich aber, weil serh am Thema nteressiert nicht aus der Diskussion ausklinken ...) Dass es Bankenpleiten und in der Folge private Insolvenzen gibt, dass große Unternehmen Betriebsteile schließen und ganze Regionen in Krisen stürzen (egal wo) ... ist das auf eine biologische Gegebenheit zurückzuführen? Ist das gewollt (von seiten der Unternehmer)? Haben die Betroffenen aufgrund ihrer biologischen Gegebenheiten eine Chance, sich dagegen zu wehren? Die Betroffenen haben in der Regel (in Mitteleuropa jedenfalls) ebensowenig Hunger und ebensoviel Sex wie vorher. Und dennoch ist ihre soziale Basis kaputt. Das liegt daran, dass diese Veränderungen systemisch bedingt sind. Sie haben mit abstrakten Marktmechanismen zu tun. Aber so abstrakt diese auch sein mögen: Das Werk schließt, der Hauskredit ist nicht mehr abzahlbar, die versprochene finanzielle Unterstützung vo Kindern und Enkeln bleibt aus. Und das soll jetzt irrelevant oder das Produkt von Neurotransmittern sein? Die Zusammenballung der Macht großer internationaler Konzerne hat nix, aber auch gar nix damit zu tun, dass die Chefs irgendeiner sexgetriebenen Machtausübungslust folgen. Überhauot nix! Es ergibt sich einfach aus systemischen Entwicklungen. Selbst sie als potente Machtmenschen sind völlig machtlos gegenüber diesen systemisch wirksamen Gesetzlichkeiten. Sie haben Aktienkurse, Währungsumrechnungen, Unternehmensstrukturen im Auge. Die weder mit ihrer eigenen Biologie noch mit der potenzieller Markttelnehmer etwas zu tun hat. Ich halte auch sowohl das Märchen, dass Produktsortimente durch tatsächliche Kundenbedürfnisse gesteuert werden für genau das: Ein Märchen. Als auch die Verschwörungstheorie, dass Unternehmen den Kunden durch Manipulationen irgendetwas "unterjubeln" und aufdrängen. Beide Seiten unterliegen den systemischen Gesetzlichkeiten der kapitalistischen Industriegesellschaft, die (noch) in der Lage war, eine gewisse Kommunitarität aufrechtzuerhalten und heute aber einer postmodernen Gesellschaft, die zunehmend aus Singularitäten besteht. Die Freiheit der Lebensgestaltung richtet sich zwangsläufig auf die Gesaltung einer individuellen, singularisierten Innenwelt.

Ebensowenig wie die soziologisch-kulturell diffus als "kosmopolitisch" beschriebenen Lebenswelten das Ergebnis bewusster Gestaltungs-Entschlüsse von "Kosmopoliten" sind. Sie sind in der Regel Kombinationen von günstig verlaufenen ökonomischen Entwicklungen in Kombination mit klimatisch positiven Gegebenheiten, Verschonung von Kriegszerstörungen, Abwesenheit von ethnischen und religiösen Konflikten usw.

Und die Struktur-Ebenen sind einfach durcheinander. Keine digitale Information kommt ohne Kodierung ins Binärsystem aus. Und denoch haben die politischen Nachrichten, die binär verschlüsselt um die Welt gehen primär mit politischen Prozessen und nur insofern mit der Basis 2 zu tun, als dass es ohne sie technisch nicht geht. Das ist die Biologie der modernen digitalen Gesellschaften. Sie ist die eigentliche Basis und sie ist andererseits für gesellschaftliche Prognosen und Analysen völlig uninteressant. Sie ist eine Sache von Informatikern, Mathematikern etc.

Nochmal: Die Chance für das Individuum besteht darin, ein persönliches sinnvolles Verältnis zu diesen Gegebenheiten zu finden. Und dann natürlich sein (wenn auch verhältnismäßig geringes) Potenzial auszunutzen, demokratische Machtausübung zu verüben und auf sonstige Art politische Überzeugungen zu unterstützen oder zu bekämpfen.

Dass wir tendenziell in einer divergierenden, in immer kleinere, isoliertere Entitäten zerfallenden Welt leben .., ich habe das bis vor kurzem noch für eine bedauerliche aber unabänderliche und vor allem ganz allgemein kaum angezweifelte Tatsache gehalten.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

schokoschendrezki hat geschrieben: "Sozialkonstruktivismus" ... das ist doch der Glauben daran, man könne sich eine Lebenswelt "konstruieren". Das glaube ich überhaupt nicht! ...
Sextus Ironicus hat geschrieben: Damit befindest du dich aber im strengen Widerspruch zu Reckwitz. Im Zuge seiner Diskussion übers Authentische sagt er ja explizit "... im Raum des Sozialen ist alles gemacht und im strengen Sinne fake - nichts ist natürlich." Oder was meinst du jetzt mit "Lebenswelt"?

Oder:
Indem die soziale Welt sich zunehmend an Menschen, Gegenständen, Bildern, Gruppen, Orten und Ereignissen ausrichtet, die sie als singulär begreift und empfindet, ja, diese teilweise gezielt als solche hervorbringt, entfaltet die soziale Logik der Singularitäten für ihre Teilnehmer eine Realität mit erheblichen, sogar unerbittlichen Konsequenzen.
Widerspricht das nicht auch deiner Aussage? Wobei ich persönlich solche Sätze als sinnlos empfinde, weil hier die "soziale Welt" als aktives Handlungs- und Empfindungssubjekt begriffen wird, was völlig daneben ist.
Zumindest in dem angeführtem Zitat steht ja auch nicht "soziale Welt" sondern "soziale Logik". Und das scheint mir der Punkt zu sein. Selbstverständlich sind alle Phänomene unserer sozialen Lebenswelt irgendwie "gemacht". Aber sowohl die "Macher" als auch die "Teilnehmer" sind in höherem Maße einer solchen Logik unterworfen als ihren individuellen Intentionen. In einer Rezension zum "Steve Jobs"-Film hieß es, der Film zeige, dass "Steve Jobs kein besonders interessanter Mensch" gewesen sei. Die Innovativität seiner Produkte folgt einer technologischen und gleichermaßen sozialen Logik, der er selbst unterworfen war und nicht der gottgleichen Innovativität, die ihm von seinen Fans zugeschrieben wird. Und dennoch sind Apple-Produkte und der Kult um sie herum selbstverständlich "gemacht".
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(12 Dec 2017, 21:54)
Das sind zwei Momentaufnahmen, die ganz gut zeigen, wie man mit ein paar Vokabeln "Moral macht". Den Unterschied in der Moral macht die Indifferenz: Denen, die über ausreichend formelles und informelles kulturelles Kapital (Basis: die Kohle) verfügen, können sich die Indifferenz leisten, da ihre Stellung und ihre Wertmünzerei ja ungefährdet ist, solange sie nicht durch irgendwelche, der Valorisierbarkeit entzogenen "Konstrukte" gehindert werden. Hier gilt nicht einmal mehr die Intersubjektivität in ethischen Dingen, hier zählt allein, dass sich etwas auf dem Wertemarkt als Singularität vermarkten, performen lässt. Die Indifferenz endet dort, wo der Essenzialismus auftritt, der bekommt dann sofort die moralische Wertekeule verpasst.

Das wird spannend, wer sich da durchsetzt. Aufs Besondere würde ich nicht wetten, da Wohlstand nicht unendlich steigerbar ist. Das wäre aber die Bedingung. Stattdessen würde ich lieber Ullrichs Warnung vor einer reinen Werteethik ernst nehmen. Im Übrigen glaube ich, dass selbst in diesem System noch ganz viel schnöde Natürlichkeit steckt, denn die Durchsetzung von Werteinteressen erfolgt ja nicht von einem abstrakten System her, sondern von den handelnden Menschen her. Und die folgen ganz natürlichen Instinkten und Trieben. Und die sind doch recht übersichtlich.
Auch das beschreibt eine Perspektive, in der sich die einen Gruppen von Menschen vorsätzlich gegen die anderen durchsetzen. Reckwitz beschreibt aber die postindustrielle "Singularitätsökonomie" gar nicht als eine der sozialen Abgrenzungen von Menschen oder Gruppen oder sozialen Schichten. Es gibt ja extra ein Kapitel "Die postindustrielle Ökonomie der SIngularitäten". Der (kursiv hervorgehobene) Kernsatz darin lautet, dass sich die Form der Güter und nicht die Form der Einkommensverhältnisse geändert hat. Mehr und mehr werde aus der Trias "Produzent, Produkt, Konsument" die Trias "Autor, Werk und Rezipient bzw. Publikum". Nirgendwo steht, dass es die Einkommensverhältnisse oder gar einfach nur die Höhe des Einkommens sei, die eine Teilnahme an dieser Singularitätsökonomie ermögliche. Diese Einkommensverhältnisse sind weitaus heterogener als in den Gliederungen der traditionellen Industriegesellschaft mit Vorstadt-Eigenheim, Mittelklasse-Wagen und Kreuzfahrturlaub. Sie reichen von den absoluten Gewinnern der Digitalindustrie in Kalifornien bis zu den überwiegend prekären Lebensverhältnissen von Künstlern oder Beschäftigten in kurzlebigen Startup-Unternehmen in Berlin. Gerade in letzterem Bereich ist es - im Gegenteil - häufig der ganz bewusste Verzicht auf "Kohle", der eine solche Teilnahme ermöglicht.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 07:58)

Zumindest in dem angeführtem Zitat steht ja auch nicht "soziale Welt" sondern "soziale Logik". Und das scheint mir der Punkt zu sein. Selbstverständlich sind alle Phänomene unserer sozialen Lebenswelt irgendwie "gemacht".
Naja, im Zitat stand, dass die soziale Welt sich ausrichtet, begreift, empfindet, das war meine Nebenkritik, denn er nimmt einfach die Handlungssubjekte völlig raus und degradiert sie zu Objekten. Müssen wir aber nicht verfolgen.

Und noch etwas, was mir so nebenbei auffiel: Wer Reckwitz Ablehnung von kommunitaristischen Essenzialisten teilt, dürfte ja den strengen kommunitaristischen Essenzialismus, den fast alle Zuwanderer mitbringen, keinesfalls unter Vielfaltsaspekten verteidigen, denn der läuft ja der Kultur des Besonderen entgegen. Man könnte ihn allenfalls unter einer Erweiterung der wertefähiger Wahlmöglichkeiten aus der Indifferenz hervorheben, was jedoch bedeutet, dass man die "Neuen" lediglich im Sinne der eigenen performativen Subjektivität instrumentalisiert. Denn in ihrem kommunitaristischen Essenzialismus wären sie ja eigentlich abzulehnen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Provokateur »

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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 08:27)

Auch das beschreibt eine Perspektive, in der sich die einen Gruppen von Menschen vorsätzlich gegen die anderen durchsetzen. Reckwitz beschreibt aber die postindustrielle "Singularitätsökonomie" gar nicht als eine der sozialen Abgrenzungen von Menschen oder Gruppen oder sozialen Schichten. Es gibt ja extra ein Kapitel "Die postindustrielle Ökonomie der SIngularitäten". Der (kursiv hervorgehobene) Kernsatz darin lautet, dass sich die Form der Güter und nicht die Form der Einkommensverhältnisse geändert hat. Mehr und mehr werde aus der Trias "Produzent, Produkt, Konsument" die Trias "Autor, Werk und Rezipient bzw. Publikum". Nirgendwo steht, dass es die Einkommensverhältnisse oder gar einfach nur die Höhe des Einkommens sei, die eine Teilnahme an dieser Singularitätsökonomie ermögliche. Diese Einkommensverhältnisse sind weitaus heterogener als in den Gliederungen der traditionellen Industriegesellschaft mit Vorstadt-Eigenheim, Mittelklasse-Wagen und Kreuzfahrturlaub. Sie reichen von den absoluten Gewinnern der Digitalindustrie in Kalifornien bis zu den überwiegend prekären Lebensverhältnissen von Künstlern oder Beschäftigten in kurzlebigen Startup-Unternehmen in Berlin. Gerade in letzterem Bereich ist es - im Gegenteil - häufig der ganz bewusste Verzicht auf "Kohle", der eine solche Teilnahme ermöglicht.
Nein, dass die Höhe des Einkommens allein entscheidend sei, behaupte auch ich nicht. Nur im Querschnitt der Teilnehmer wird man halt feststellen (siehe auch das Sinus-Projekt), dass ohne Kohle nichts los ist. Natürlich gibt es den schicken Verzicht von Einzelnen, die diesen Verzicht dann "kultivieren" wie man bisher sagte. Aber wer sich anschaut, wer das ist, sieht rasch, dass die eben auch aus diesem Milieu kommen und mit ihrem Verzicht das, was anderen Schicksal ist, frei wählen können. Das sind keine Menschen, die schon aus prekären Verhältnissen kommen, das ist die Generation derer, die schon mit den ersten SUVs in den Kindrgarten gefahren wurde. Und was Berlin angeht, sag ich jetzt lieber nichts. Wäre ein ganz schlechtes Thema :D
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(13 Dec 2017, 08:28)
Naja, im Zitat stand, dass die soziale Welt sich ausrichtet, begreift, empfindet, das war meine Nebenkritik, denn er nimmt einfach die Handlungssubjekte völlig raus und degradiert sie zu Objekten. Müssen wir aber nicht verfolgen.
Die nüchterne Analyse, dass gesellschaftliche, soziale, kulturelle Veränderungen wesentlicher von systemischen Prozessen als von Intentionen handelnder
Subjekte geprägt sind, würde ich jetzt nicht als "Degradierung" bezeichnen. Die Handlungsfreiheit des Subjekts ist immer noch damit gegeben, dass es sich in unterschiedlicher Weise zu diesen systemischen Veränderungen ausrichten kann.
Und noch etwas, was mir so nebenbei auffiel: Wer Reckwitz Ablehnung von kommunitaristischen Essenzialisten teilt, dürfte ja den strengen kommunitaristischen Essenzialismus, den fast alle Zuwanderer mitbringen, keinesfalls unter Vielfaltsaspekten verteidigen, denn der läuft ja der Kultur des Besonderen entgegen. Man könnte ihn allenfalls unter einer Erweiterung der wertefähiger Wahlmöglichkeiten aus der Indifferenz hervorheben, was jedoch bedeutet, dass man die "Neuen" lediglich im Sinne der eigenen performativen Subjektivität instrumentalisiert. Denn in ihrem kommunitaristischen Essenzialismus wären sie ja eigentlich abzulehnen.
Warum sollte man überhaupt eine Entwicklung hin oder weg zu Vielfältigkeit verteidigen? Sie findet sowieso statt. Ob in der enen oder anderen Richtung. Man kann die negativen und positiven Seiten dieser Entwicklung herausanalysieren. Der Essenzialismus der meisten Zuwanderer ist für mich extrem negativ konnotiert. Keine Frage. Ich werde ihn aber nicht ändern sondern mich allenfalls entziehen können. Das ganze in Frage stehende Buch, nochmal, ist doch nicht aus der Perspektive eines Menschen geschrieben, der damit Vielfältigkeit oder eine "Gesellschaft der Singularitäten" befördern will. Er stellt sie einfach fest. Auch wenn es richtig ist, dass das Buch am Ende von einer nüchternen Analyse eher zu einer subjektiven Bewertung wird. Aber diese Bewertung ist keineswegs einfach positiv.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(13 Dec 2017, 08:40)

Nein, dass die Höhe des Einkommens allein entscheidend sei, behaupte auch ich nicht. Nur im Querschnitt der Teilnehmer wird man halt feststellen (siehe auch das Sinus-Projekt), dass ohne Kohle nichts los ist. Natürlich gibt es den schicken Verzicht von Einzelnen, die diesen Verzicht dann "kultivieren" wie man bisher sagte. Aber wer sich anschaut, wer das ist, sieht rasch, dass die eben auch aus diesem Milieu kommen und mit ihrem Verzicht das, was anderen Schicksal ist, frei wählen können. Das sind keine Menschen, die schon aus prekären Verhältnissen kommen, das ist die Generation derer, die schon mit den ersten SUVs in den Kindrgarten gefahren wurde. Und was Berlin angeht, sag ich jetzt lieber nichts. Wäre ein ganz schlechtes Thema :D
Zumindest im Hochschulbereich sind prekäre Verhältnisse keineswegs eine Art "Luxusverzicht". Da gehts - abgesehen von der feudalen Professorenschicht - mehr und mehr ans Eingemachte. Nix ist da selbstgewählt. Oder auch auf Herkunftsbasis dann doch irgendwie abgesichert. Im Gegenteil: Diese oft prekären Verhältnisse stehen den immer noch weit abgesicherteren Verhältnissen in den traditionellen Industriebereichen entgegen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 08:40)

Die nüchterne Analyse, dass gesellschaftliche, soziale, kulturelle Veränderungen wesentlicher von systemischen Prozessen als von Intentionen handelnder
Subjekte geprägt sind, würde ich jetzt nicht als "Degradierung" bezeichnen. Die Handlungsfreiheit des Subjekts ist immer noch damit gegeben, dass es sich in unterschiedlicher Weise zu diesen systemischen Veränderungen ausrichten kann.

Warum sollte man überhaupt eine Entwicklung hin oder weg zu Vielfältigkeit verteidigen? Sie findet sowieso statt. Ob in der enen oder anderen Richtung. Man kann die negativen und positiven Seiten dieser Entwicklung herausanalysieren. Der Essenzialismus der meisten Zuwanderer ist für mich extrem negativ konnotiert. Keine Frage. Ich werde ihn aber nicht ändern sondern mich allenfalls entziehen können. Das ganze in Frage stehende Buch, nochmal, ist doch nicht aus der Perspektive eines Menschen geschrieben, der damit Vielfältigkeit oder eine "Gesellschaft der Singularitäten" befördern will. Er stellt sie einfach fest. Auch wenn es richtig ist, dass das Buch am Ende von einer nüchternen Analyse eher zu einer subjektiven Bewertung wird. Aber diese Bewertung ist keineswegs einfach positiv.
Das heißt etwa für dich: Man kann sich auf der Ebene des neuen Mittelstandes (wenn man dazugehören will) dem System des Wertens (der Faktizität des Dass) nicht entziehen, und die Freiheit liegt allein im Versuch, das ausgewählte "Was" in den Rang des sozialen Guts des Besonderen zu bringen?

Die Frage für mich ist eben dabei auch: Was bedeutet das eigentlich im Bereich der Ethik? Anyone any thoughts on this?
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(13 Dec 2017, 09:10)

Das heißt etwa für dich: Man kann sich auf der Ebene des neuen Mittelstandes (wenn man dazugehören will) dem System des Wertens (der Faktizität des Dass) nicht entziehen, und die Freiheit liegt allein im Versuch, das ausgewählte "Was" in den Rang des sozialen Guts des Besonderen zu bringen?

Die Frage für mich ist eben dabei auch: Was bedeutet das eigentlich im Bereich der Ethik? Anyone any thoughts on this?
Ersteinmal ist für mich die Gesellschaft (weder die traditionelle Industriegesellschaft noch die postmoderne Gesellschaft der Singularitäten) rein vertikal sortiert. Ich weiß mit einem Begriff wie "Mittelstand" absolut nix anzufangen. Es gibt mehr oder weniger disjunkte Lebenswelten. Ob die jeweils "Oben", "Unten" oder "Mitte" sind ... keine Ahnung. Ich weiß zumindest, dass mehr Bildung (jedenfalls in nicht-MINT-Richtung) sich ziemlich häufig mit prekären Einkommensverhältnissen verbindet und dass sich weniger Bildung und sehr hohe Einkommen ganz sicher nicht ausschließen.

Die Frage der Ethik ist allerdings hochbrisant. Sie wird in dem Buch nicht beantwortet. Nicht dass ich wüsste jedenfalls. Eine "Generaltheorie unserer Epoche" wurde das Buch in der ZEIT genannt. Muss eine solche Gesellschaftsanalyse ethische Richtlinien vorgeben?

Vermutlich ist auch die Ethik inzwischen singularisiert. Es gibt die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" und schon das Attribut "Allgemeine" verweist darauf, dass das, was darin steht, möglicherweise nicht mehr ungeteilt akzeptiert wird, weil es eben nicht das "Besondere" ist. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Feststellung einer Singularisierung alles andere als ein Projekt zu ihrer Beförderung oder Gutheißung ist.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 22:46)

Jetzt nur mal diese Passage als Anlass für eine Entgegnung der vielen Gegenmeinungen (ich komme hoffentlich noch dazu mich ausführlicher zu äußern, bin momentan etwas anderweitig überlastet, will mich aber, weil serh am Thema nteressiert nicht aus der Diskussion ausklinken ...) Dass es Bankenpleiten und in der Folge private Insolvenzen gibt, dass große Unternehmen Betriebsteile schließen und ganze Regionen in Krisen stürzen (egal wo) ... ist das auf eine biologische Gegebenheit zurückzuführen? Ist das gewollt (von seiten der Unternehmer)? Haben die Betroffenen aufgrund ihrer biologischen Gegebenheiten eine Chance, sich dagegen zu wehren? Die Betroffenen haben in der Regel (in Mitteleuropa jedenfalls) ebensowenig Hunger und ebensoviel Sex wie vorher. Und dennoch ist ihre soziale Basis kaputt.
Verschwurbelst du mal wieder Natur mit Kultur?
Ich sagte der Mensch ist nicht durch Evolution geprägt, sondern determiniert, weil überhaupt erst durch evolutionäre Prozesse entstanden. Entsprechend bildet Biologie (Natur) die Grundlage für alles was Mensch tut, kommt der Biologie das Primat zu.
Der ganze Sermon den du (be)schreibst ist Kultur - vom Menschen erst geschaffen, damit sekundär. Das Sekundäre kann jedoch das Primäre nicht "überblenden". Die Natur des Menschen ändert sich dadurch nicht.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 22:46) Das liegt daran, dass diese Veränderungen systemisch bedingt sind. Sie haben mit abstrakten Marktmechanismen zu tun. Aber so abstrakt diese auch sein mögen: Das Werk schließt, der Hauskredit ist nicht mehr abzahlbar, die versprochene finanzielle Unterstützung vo Kindern und Enkeln bleibt aus. Und das soll jetzt irrelevant oder das Produkt von Neurotransmittern sein? Die Zusammenballung der Macht großer internationaler Konzerne hat nix, aber auch gar nix damit zu tun, dass die Chefs irgendeiner sexgetriebenen Machtausübungslust folgen. Überhauot nix! Es ergibt sich einfach aus systemischen Entwicklungen. Selbst sie als potente Machtmenschen sind völlig machtlos gegenüber diesen systemisch wirksamen Gesetzlichkeiten. Sie haben Aktienkurse, Währungsumrechnungen, Unternehmensstrukturen im Auge. Die weder mit ihrer eigenen Biologie noch mit der potenzieller Markttelnehmer etwas zu tun hat. Ich halte auch sowohl das Märchen, dass Produktsortimente durch tatsächliche Kundenbedürfnisse gesteuert werden für genau das: Ein Märchen. Als auch die Verschwörungstheorie, dass Unternehmen den Kunden durch Manipulationen irgendetwas "unterjubeln" und aufdrängen. Beide Seiten unterliegen den systemischen Gesetzlichkeiten der kapitalistischen Industriegesellschaft, die (noch) in der Lage war, eine gewisse Kommunitarität aufrechtzuerhalten und heute aber einer postmodernen Gesellschaft, die zunehmend aus Singularitäten besteht. Die Freiheit der Lebensgestaltung richtet sich zwangsläufig auf die Gesaltung einer individuellen, singularisierten Innenwelt.
Sorry - aber das ist Quatsch, was du da schreibst - hat dir Sextus Ironicus in einem vorhergehenden Beitrag wunderbar auseinander klamüsert.
Alles was du beschreibst ist KULTUR und damit "menschengemacht" und damit eben NICHT "gesetzmäßig". Sorry, aber die These dass gesellschaftliche Entwicklungen irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, entstammt dem Marxismus.
Gesellschaftliche Entwicklung/kulturelle Entwicklung fällt nicht vom Himmel ist auch nicht "Schicksal" und noch weniger szial konstruiert, sondern hat sehr wohl mit der Biologie des Menschen zu tun - nämlich damit, dass Mensch über ein großes kompplexes Gehirn verfügt, welches eben zu Abstraktion fähig ist, welches zur Problemlösung fähig ist, welches dem Menschen überhaupt erst ermöglicht in Zusammenhängen zu denken.
Gesellschaftliche Entwicklungen sind solche Zusammenhänge.
Und NEIN, es gibt keine "Gesellschaft der Singularitäten" und eine "individuellen, singularisierten Innenwelt" gibt es ebenso wenig.
Auf solche Idee kann man nur kommen, wenn naturwissenschaftliche Erkenntnisse (aus Biologie, evolutionärer Psychologie, Neurowissenschaften etc) komplett ausgeblendet werden und alles als "sozial kontruiert" betrachtet wird.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 22:46) Ebensowenig wie die soziologisch-kulturell diffus als "kosmopolitisch" beschriebenen Lebenswelten das Ergebnis bewusster Gestaltungs-Entschlüsse von "Kosmopoliten" sind. Sie sind in der Regel Kombinationen von günstig verlaufenen ökonomischen Entwicklungen in Kombination mit klimatisch positiven Gegebenheiten, Verschonung von Kriegszerstörungen, Abwesenheit von ethnischen und religiösen Konflikten usw.
Was sind denn die "kosmopolitischen Lebenswelten", was sollen "Lebenswelten" überhaupt sein?
Du bedienst dich hier doch des Sozialkonstruktivismus, wenn du von "Lebenswelten" faselst?

Worin soll sich denn meine "Lebenswelt" von der deinen unterscheiden?

Kulturelle/gesellschaftliche Verhältnisse sind doch vom Menschen überhaupt erst hervor gebracht, unterliegen ständigen Veränderungen, die eben NICHT vorhaersehbar sind, weil sie keinen Gesetzmäßigkeiten unterliegen
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2017, 22:46) Nochmal: Die Chance für das Individuum besteht darin, ein persönliches sinnvolles Verältnis zu diesen Gegebenheiten zu finden. Und dann natürlich sein (wenn auch verhältnismäßig geringes) Potenzial auszunutzen, demokratische Machtausübung zu verüben und auf sonstige Art politische Überzeugungen zu unterstützen oder zu bekämpfen.
Falsch! Das Individuum findet keine Gegebenheiten vor und es findet auch kein "Verhältnis zu diesen Gegebenheiten", sondern es schafft und gestaltet diese Gegebenheiten überhaupt erst, durch soziale Interaktion mit anderen Individuen.
Womit wir wieder bei der Biologie (Psychologie, evolutionärer Psychologie und den Neurowissenschaften) wären, welche die Voraussetzung für die soziale Interaktion der Individuen untereinander sind.
Soziokulturelle Verhältnisse, Demokratie etc wurden von Menschen hervor gebracht und entwickelt, die existieren NICHT unahängig von menschlichem Handeln.
Menschen sind NICHT passiv irgendwelchen "Verhältnissen, Gegebenheiten" ausgesetzt, sondern sie schaffen und gestalten diese aktiv.
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.

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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 09:46)
Vermutlich ist auch die Ethik inzwischen singularisiert. Es gibt die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" und schon das Attribut "Allgemeine" verweist darauf, dass das, was darin steht, möglicherweise nicht mehr ungeteilt akzeptiert wird, weil es eben nicht das "Besondere" ist. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Feststellung einer Singularisierung alles andere als ein Projekt zu ihrer Beförderung oder Gutheißung ist.
Ooh - na das lässt ja mal sehr tief blicken!
Ist dir eigentlich bewusst, wie inhuman und menschenverachtend solche Sichtweise ist?
Die AEMR nicht akzeptieren, weil darin die gleichen Rechte für ALLE Menschen - allein aufgrund ihres Menschseins - formuliert sind.
Etwas Besonderes sein wollen bedeutet auch besondere Rechte haben wollen, Rechte, die man anderen Menschen nicht zugesteht.
Das bedeutet im Klartext, Menschen haben einen unterschiedlichen Wert - einen höheren Wert haben natürlich die (selbsternannten) "Besonderen" und die bestimmen dann bzw legen dann fest, welchen Wert alle anderen haben und welche Rechte ihnen noch zugestanden werden.
Hier die "Besonderen", die "Wertvollen", die nur noch materielle Werte kennen und schätzen, die jegliche ideellen Wertvorstellungen ablehnen, die aber auch besondere Rechte für sich in Anspruch nehmen und dort die "Abgehängten", die Minderwertigen oder Wertlosen, denen man Rechte zugestehen oder aberkennen kann, wann immer es beliebt.
Der "Wert eines Menschen" orientiert sich in solcher Gesellschaft dann nur noch an materiellem Besitz.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(13 Dec 2017, 10:37)
Ooh - na das lässt ja mal sehr tief blicken!
Ist dir eigentlich bewusst, wie inhuman und menschenverachtend solche Sichtweise ist?
Ja. Allerdings. Ich habe auch nicht umsonst in dem von Dir zitierten Beitrag geschrieben, dass die Feststellung einer zunehmenden Singularsierung in keinster Weise ihre uneingeschränkte Gutheißung oder gar Beförderung bedeutet.

Vor kurzem war ja gerade der Tag der Menschenrechte. In den meisten Artikeln dazu wurde kommentiert, dass sich die Achtung der Menschenrechte tatsächlich auf dem Rückzug befindet. Und dass das auch die sogenannten Industrieländer betrifft. "Singularisierung" findet nicht nur auf der Individualebene sondern auch auf der Ebene größerer Gruppen statt. Die Behauptung einer grundsätzlichen Inkompatibilität zwischen Menschen aus christilich geprägten Regionen mit solchen aus muslimisch geprägten Regionen ist ein Beispiel für solch eine gruppenbezogene SIngularisierung und bedeutet menschenrechtlich zum Beispiel ganz konkret für sehr viele Flüchtlinge in Deutschland, dass sie von ihren Familien getrennt bleiben.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von BlueMonday »

Das nennt sich auch "spontane Ordnung"(Hayek, Rothbard), was hier so mühselig-sperrig diskutiert wird. Nur ist das kein "mehr" als die Teile, sondern allenfalls nicht völlig verhersehbar in seiner Entwicklung und Entfaltung. Deshalb gibt es Spekulation in der Gesellschaft und es gibt Versicherungen, Finanzderivate, Optionen, Futures ... alles der Unsicherheit (Unkenntnis der Zukunft) geschuldet
Und all dieses spontan gebildeten Strukturen lassen sich aus "micro behaviour and motives" erklären, also mittels methodologischen Individualismus. Auf der anderen Seite hat man holistische Ansätze, die das vermeintliche Mehr praktisch mit sich selbst erklären wollen, und dann gerät man wohl in diesen dunklen, verdunkelnd-munkelden Sprachgebrauch ... Gottheiten, Reifikationen, zum Eigenleben erweckte Gesetzmäßigkeiten, denen man sich dann ohnmächtig ausgeliefert fühlt.

Auch wenn der einzelne Wassertropfen im reißenden Strom keinen Überblick über den ganzen Fluss hat und wahrscheinlich auch keine Kenntnis über den individuellen Tropfen hat, der eine Sekunde vor ihm eine Stelle passiert hat oder von den vielen Tropfen, die ihm nachfolgen werden, so ist doch der ganze Fluss nicht mehr als die fließenden Tropfen. Der eine Tropfen reißt den nächsten mit, nur manch ein Exemplar spritzt aus dem Verbund hinaus, löst sich mit viel kinetischem Schwung aus der zähen Adhäsion zu den Nachbartropfen. Sicherlich kann man sich eine "Flussheit" vorstellen, die "mehr" sein soll als dieses ganze fließende Spiel, aber wozu, mit welchem Erklärungsgewinn.

Sicherlich kann man die Tropfen noch weiter unterteilen, aber irgendeine Abstraktion (als Abstand zum Eigentlichen) ist unvermeidlich, um nicht sprach- und begrifflos zu werden. Dabei nun ist jede Abstraktion gemacht, ein Werturteil. Ganz "unten" oder zu Beginn der Abstraktionsleiter ist das Eigentliche und Wirkliche. Was danach kommt, ist Folge, die nur mit Begriffen eingefangen und umschlossen wird. Worte, die gern zu einem Aberglauben werden.

Statt nun einfach Tropfen zu sein, sich mitreißen zu lassen, sich mit anderen Tropfen zu vereinen, oder sich auch wieder zu lösen und zu trennen, wird alles wie eine Krankheit diskutiert, wie ein zu lösendes oder zu bedauerndes Problem statt es einfach zuzulassen, es zu leben. Fluss sein. Im Fluss sein. Und manchmal geht man auch unter, wenn man sich falsch entschieden hat. Das haben viele leider verlernt, untergehen zu können.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von BlueMonday »

Singularisierung ist auch so ein eigenartiger Begiff. Das Singuläre ist nicht gemacht, im Gegenteil, das ist der Ausgangspunkt in jeder Hinsicht, was dann folgt, ist das Zurechtgemachte, Behauptete, Abstrahierte, Konstruierte, Gefärbte, Gefälschte... Und dann gibt es - immer wieder - Zeiten der Umordnung, des Aufbrechens viel zu groß und träge gewordener Strukturen. Da wachen heutzutage viele zu gut ins Bestehende Eingerichtete unsanft auf, werden förmlich aufgescheucht...
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(13 Dec 2017, 11:42)

Das nennt sich auch "spontane Ordnung"(Hayek, Rothbard), was hier so mühselig-sperrig diskutiert wird. Nur ist das kein "mehr" als die Teile, sondern allenfalls nicht völlig verhersehbar in seiner Entwicklung und Entfaltung. Deshalb gibt es Spekulation in der Gesellschaft und es gibt Versicherungen, Finanzderivate, Optionen, Futures ... alles der Unsicherheit (Unkenntnis der Zukunft) geschuldet
Und all dieses spontan gebildeten Strukturen lassen sich aus "micro behaviour and motives" erklären, also mittels methodologischen Individualismus. Auf der anderen Seite hat man holistische Ansätze, die das vermeintliche Mehr praktisch mit sich selbst erklären wollen, und dann gerät man wohl in diesen dunklen, verdunkelnd-munkelden Sprachgebrauch ... Gottheiten, Reifikationen, zum Eigenleben erweckte Gesetzmäßigkeiten, denen man sich dann ohnmächtig ausgeliefert fühlt.

Auch wenn der einzelne Wassertropfen im reißenden Strom keinen Überblick über den ganzen Fluss hat und wahrscheinlich auch keine Kenntnis über den individuellen Tropfen hat, der eine Sekunde vor ihm eine Stelle passiert hat oder von den vielen Tropfen, die ihm nachfolgen werden, so ist doch der ganze Fluss nicht mehr als die fließenden Tropfen. Der eine Tropfen reißt den nächsten mit, nur manch ein Exemplar spritzt aus dem Verbund hinaus, löst sich mit viel kinetischem Schwung aus der zähen Adhäsion zu den Nachbartropfen. Sicherlich kann man sich eine "Flussheit" vorstellen, die "mehr" sein soll als dieses ganze fließende Spiel, aber wozu, mit welchem Erklärungsgewinn.
B.M.: Der "Fluss" ist schlicht und einfach das Ergebnis von Erdgravitation und Gravitationseigenschaften, der Eigenschaften des Aggregatzustands "flüssig" und eines gegebenen Klima- und Landschaftsprofils.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

So wie ein Fluss ins Meer und nicht den Berg hinauf fließt, so gibt es systemische Attraktoren (Das Prinzip der Profitmaximierung im ökonomischen Bereich ist nur eines von vielen), die die Entwicklung der Gesellschaft in bestimmte Richtungen drängen. Daran ist so wenig Mystisches wie am Prinzip der kleinsten Wirkung in der Physik. Und das heißt ja nicht, dass der Mensch machtlos demgegenüber ist. Weder als Gruppe noch als Individuum.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(13 Dec 2017, 10:08)
Falsch! Das Individuum findet keine Gegebenheiten vor und es findet auch kein "Verhältnis zu diesen Gegebenheiten", sondern es schafft und gestaltet diese Gegebenheiten überhaupt erst, durch soziale Interaktion mit anderen Individuen.
Womit wir wieder bei der Biologie (Psychologie, evolutionärer Psychologie und den Neurowissenschaften) wären, welche die Voraussetzung für die soziale Interaktion der Individuen untereinander sind.
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Von Passivität ist auch gar nicht die Rede. Der von Reckwitz herausanalysierte grundsätzliche gesellschaftliche Wandel am Beispiel von Politik. "Aus 'Kulturpolitik' wurde eine Kulturalisierung von Politik." Kultur ist vorhanden und wird auch ständig neu (von Menschen) geschaffen. Indem aber der Gesamtvorrat an kulturellen Hervorbringungen auf der individuellen Ebene einfach als (wörtlich) "Ressource für Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit" behandelt wird, ist für den Einzelnen eine klar definierte Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung schwerer erkennbar und von daher ist es schwieriger, sich einer bestimmten Richtung anzuschließen und eine Ausprägung dieser Richtung zu erreichen.

Essenzialistische Kulturpolitik (zum Beispiel die explizite Aufnahme des christilichen Gottesbezugs und eines "Nationalen Bekenntnis" in die Präambel der neuen ungarischen Verfasssung) ist der hilflose Versuch, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 12:34)

So wie ein Fluss ins Meer und nicht den Berg hinauf fließt, so gibt es systemische Attraktoren (Das Prinzip der Profitmaximierung im ökonomischen Bereich ist nur eines von vielen), die die Entwicklung der Gesellschaft in bestimmte Richtungen drängen. Daran ist so wenig Mystisches wie am Prinzip der kleinsten Wirkung in der Physik. Und das heißt ja nicht, dass der Mensch machtlos demgegenüber ist. Weder als Gruppe noch als Individuum.
Ich bin richtig dankbar, dass diese Bemerkung von dir jetzt noch gekommen ist. Denn ich hab mich beim angestrengten Durcharbeiten durch eure letzten Dialoge immer wieder gefragt: Wo bleibt bei all diesen Betrachtungen eigentlich der Mensch? Der aktive, handelnde, denkende, kritisch wertende, gestalten wollende Mensch? Wo? Ist das dann wieder zu "normativ" und darf es deshalb vielleicht nicht diskutiert werden? Ich finde mich weder in dieser "Fluss"-Theorie wieder, wo ich auch noch lernen soll, einfach mit entlangzugleiten mit all den Tropfen und unter Umständen auch noch mit Würde und ohne Trotz unterzugehen. Noch kann ich was damit anfangen, dass es angeblich keine Verhältnisse (z. B. Wirtschaft, Einkommen, Wohnen, Familie) und keine Lebensumstände geben soll, sondern nur "Kultur" und nur "evolutionär determinierte" Wesen, die miteinander - lediglich auf der Grundlage ihrer biologischen Eigenschaften und Anlagen - auf irgendeine imaginäre Weise agieren. Sorry, aber in meinem Menschenbild gibt es aktive, kritische Leute, die durchaus etwas verändern wollen an diesen real existierenden Verhältnissen. Sie ertragen das massenhafte Leid auf der Welt nicht, es lässt sie nicht gut schlafen. Deshalb tun sie etwas, gehen zeitweilig in entsprechende Vereine und Organisationen - und das selbstverständlich, ohne deshalb ihre Individualität irgendeiner Sache oder "Gruppenzugehörigkeit" zu opfern, sondern einfach, um zu helfen, um ein Stück mehr Menschlichkeit in das Leben von extrem Armen, von afrikanischen Aids-Kranken, von genital Verstümmelten, von Verdurstenden und Verhungernden zu bringen. Oder auch, um Flüchtlinge, darunter Kinder, vor dem Ertrinken auf offener See zu bewahren. Und einige ganz Böse denken sogar über eine Transformation der Gesellschaft nach. Tja, auch solche Erwägungen gibt es.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 12:52)


Essenzialistische Kulturpolitik .... ist der hilflose Versuch, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen.
Tja, das wäre die Frage. Reckwitz Modell ist ein bisschen wie Rorty, der ja statt auf Erkenntnis auf Hoffnung gesetzt hat in dem Sinne, dass wir durch immer neue Beschreibungen eben zu einer humanen Welt kommen würden. Wobei er wenigstens noch die privaten Vokabulare der Selbstvervollkommnung von den der öffentlichen Solidarität trennt und damit jener Totalzerschlagung des Allgemeinen einen absoluten Riegel vorschiebt, denn damit ist klar, dass private (idiosynkratische) Vokabulare (wie er mit Blick auf Nietzsche, Foucault, Nabokov sagt) im günstigsten Fall naiv sind, wenn man sie aufs Öffentliche anwenden möchte. Da ist Reckwitz eben trennscharf, was sich eben auf ethische Fragen auswirkt. Rorty hat nie gefragt, wer die Macht hat, Vokabulare durchzusetzen - und diese Frage fehlt auch bei Reckwitz. Essenzialismus kann auch ganz schnell zum Besonderen werden, wenn genügend essenzialistisch sprechen. :D

Nachtrag: Sollte natürlich heißen: Überhaupt nicht trennscharf!
Zuletzt geändert von Sextus Ironicus am Mi 13. Dez 2017, 13:37, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(13 Dec 2017, 13:15)

Tja, das wäre die Frage. Reckwitz Modell ist ein bisschen wie Rorty, der ja statt auf Erkenntnis auf Hoffnung gesetzt hat in dem Sinne, dass wir durch immer neue Beschreibungen eben zu einer humanen Welt kommen würden. Wobei er wenigstens noch die privaten Vokabulare der Selbstvervollkommnung von den der öffentlichen Solidarität trennt und damit jener Totalzerschlagung des Allgemeinen einen absoluten Riegel vorschiebt, denn damit ist klar, dass private (idiosynkratische) Vokabulare (wie er mit Blick auf Nietzsche, Foucault, Nabokov sagt) im günstigsten Fall naiv sind, wenn man sie aufs Öffentliche anwenden möchte. Da ist Reckwitz eben trennscharf, was sich eben auf ethische Fragen auswirkt. Rorty hat nie gefragt, wer die Macht hat, Vokabulare durchzusetzen - und diese Frage fehlt auch bei Reckwitz. Essenzialismus kann auch ganz schnell zum Besonderen werden, wenn genügend essenzialistisch sprechen. :D
Ich glaube kaum, dass man bei Fidesz-Parteisitzungen über so abgehobene Probleme nachdenkt. Da wird wirklich ganz klassisch Kulturpolitik gemacht. Ganz deterministisch versucht, eine gewollte geschlossene gesellschaftliche Ordnung herzustellen. So wie man ein Hemd bügelt.

Richtig ist allerdings, und das Beispiel China zeigt es in noch weit weit größerem Maße: Man braucht nicht auf einen Selbstzerfall kulturessenzialistischer Gemeinwesen warten. Auch nicht oder gerade nicht ökonomisch. Weil die Ökonomie ihren eigenen Bewegungsraum hat. Schau dir die Liste der größten Unternehmen in Ungarn an: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der ... _in_Ungarn. Fast alles Zweigestellen großer internationaler Firmen(geflechte). Man könnte auch sagen: Abgesehen von ein bissel Steuereintreibung gibt es so gut wie gar keine ungarische Nationalökonomie. Und das trifft auch auf viele andere Länder zu. Und womöglich genau oder unter anderem wegen dieser Internationalisierung der Ökonomie wirft sich der Nationalismus auf die Kultur. Die Formierung nationaler Gesellschaften läuft gar nicht mehr über die Sphäre von Arbeit, Einkommen, Produktion.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Apropos Idiosynkrasien: Wozu das führt, kann man direkt hier nachlesen. Denn eigentlich müssten "wahre Linke", also am sozialen und nicht am kulturökonomischen Modell orientierte Menschen, sich vom Grundsatz her auf die Seite von moderaten kommunitaristischen Ansätzen stellen. :D

Aber meine Großmutter wusste auch schon: Alles Psychologie :p

Nachtrag: Das sind typische Fälle von Igeln, die Füchse sein wollen :p
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Selina
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

Gemeinwohlorientierte Politik ist erstmal nichts Schlechtes. Wobei solches Tun natürlich nichts an den Strukturen des Systems ändert. Im Gegenteil: So eine Politik stärkt diese Strukturen langfristig gesehen. Aber bevor gar nichts geschieht, nur Stagnation herrscht und die Ungerechtigkeiten immer weiter zementiert werden, könnte Gemeinwohlorientiertheit immer noch ein vorübergehender Minimalkonsens verschiedenster Kräfte sein. Aufpassen müsste man dabei natürlich, sich nicht in ein Boot mit Len Pen und Konsorten zu setzen, die sich ja auch oft sehr "sozial" geben, um ihre eigentlichen Zwecke verfolgen zu können.
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BlueMonday
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 12:34)

So wie ein Fluss ins Meer und nicht den Berg hinauf fließt, so gibt es systemische Attraktoren (Das Prinzip der Profitmaximierung im ökonomischen Bereich ist nur eines von vielen), die die Entwicklung der Gesellschaft in bestimmte Richtungen drängen. Daran ist so wenig Mystisches wie am Prinzip der kleinsten Wirkung in der Physik. Und das heißt ja nicht, dass der Mensch machtlos demgegenüber ist. Weder als Gruppe noch als Individuum.
Nun ist gerade die Profitmaximierung nichts, das irgendwie von außen "als Attraktor" (und gerade das ist wiederum so ein verklärender verdunkelnder verrätselnder Begriff) auf die Akteuren wirkt, sondern aus ihnen selbst stammt, aus ihren Handlungsweisen, ihren Erwartungshaltungen und wegen mir aus ihrer "Biologie".. und so ist der ganze Begriff des Attraktors nicht mehr als das: eine Vorstellung, ein Begriff, der keine äußere Entsprechung hat. Kants Hypostase.

Auch die ökonomische Lehre als Soziologie hat da ja einige Verdunklungen hervorgebracht: den berühmten "Walras-Auktionator" bspw. oder überhaupt die Vorstellung des Marktgleichgewicht, der Gleichgewichte als etwas real Existierendes, um das dann die Akteure, Preise und sonst etwas "gravitieren".

Davon sich zu befreien ist die einzig wesentliche Befreiung:

"But to tear down a factory or to revolt against a government or to avoid repair of a motorcycle because it is a system is to attack effects rather than causes; and as long as the attack is upon effects only, no change is possible. The true system, the real system, is our present construction of systematic thought itself, rationality itself, and if a factory is torn down but the rationality which produced it is left standing, then that rationality will simply produce another factory. If a revolution destroys a systematic government, but the systematic patterns of thought that produced that government are left intact, then those patterns will repeat themselves in the succeeding government. There’s so much talk about the system. And so little understanding."


― Robert M. Pirsig, Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry Into Values
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schokoschendrezki
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(13 Dec 2017, 12:59)

Ich bin richtig dankbar, dass diese Bemerkung von dir jetzt noch gekommen ist. Denn ich hab mich beim angestrengten Durcharbeiten durch eure letzten Dialoge immer wieder gefragt: Wo bleibt bei all diesen Betrachtungen eigentlich der Mensch? Der aktive, handelnde, denkende, kritisch wertende, gestalten wollende Mensch? Wo? Ist das dann wieder zu "normativ" und darf es deshalb vielleicht nicht diskutiert werden? Ich finde mich weder in dieser "Fluss"-Theorie wieder, wo ich auch noch lernen soll, einfach mit entlangzugleiten mit all den Tropfen und unter Umständen auch noch mit Würde und ohne Trotz unterzugehen. Noch kann ich was damit anfangen, dass es angeblich keine Verhältnisse (z. B. Wirtschaft, Einkommen, Wohnen, Familie) und keine Lebensumstände geben soll, sondern nur "Kultur" und nur "evolutionär determinierte" Wesen, die miteinander - lediglich auf der Grundlage ihrer biologischen Eigenschaften und Anlagen - auf irgendeine imaginäre Weise agieren. Sorry, aber in meinem Menschenbild gibt es aktive, kritische Leute, die durchaus etwas verändern wollen an diesen real existierenden Verhältnissen. Sie ertragen das massenhafte Leid auf der Welt nicht, es lässt sie nicht gut schlafen. Deshalb tun sie etwas, gehen zeitweilig in entsprechende Vereine und Organisationen - und das selbstverständlich, ohne deshalb ihre Individualität irgendeiner Sache oder "Gruppenzugehörigkeit" zu opfern, sondern einfach, um zu helfen, um ein Stück mehr Menschlichkeit in das Leben von extrem Armen, von afrikanischen Aids-Kranken, von genital Verstümmelten, von Verdurstenden und Verhungernden zu bringen. Oder auch, um Flüchtlinge, darunter Kinder, vor dem Ertrinken auf offener See zu bewahren. Und einige ganz Böse denken sogar über eine Transformation der Gesellschaft nach. Tja, auch solche Erwägungen gibt es.
Der Mensch ist weder an seine Biologie noch an die sozialen Verhältnisse vollständig gebunden. Seine Freiheit besteht in seinem persönlichen Handeln.
Mal als Anregung:
Eine der bekanntesten existentialistischen Äußerungen, die jedoch sinngemäß schon bei Schelling nachgewiesen werden kann, ist die Aussage Sartres „Die Existenz geht der Essenz (dem Wesen) voraus“ aus dem 1946 veröffentlichten Essay Der Existentialismus ist ein Humanismus.

Hier wird thematisch an die Wesens­bestimmung (Essenz) des Menschen in der Philosophie angeknüpft. Durch die Bestimmung des Menschen als biologisches Wesen, als Vernunft­wesen, als göttliches Wesen etc. erhält der Mensch vor seiner Existenz zunächst schon eine Bedeutung, eben biologisch, vernünftig, gottähnlich. Der Existentialismus kritisiert diese der Existenz vorgängige Sinnbestimmung und setzt ihr die Existenz entgegen: Der Mensch ist als Mensch nicht zu erfassen, wenn nicht je von seiner eigenen individuellen Existenz ausgegangen wird. Jede Wesensbestimmung enthält, so die Kritik durch den Existentialismus, immer schon einen Theorieaspekt, der sich nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung der Existenz speist, sondern in der Existenz „nachrangig“ gebildet wird.
Das ist der erste Abschnitt des Wikipedia-Artikels zu "Existenzialismus".
Ich bin an dieser philosophischen Ebene der Diskussion gar nicht mal so sehr interessiert und auch nicht besonders kompetent. Aber ich muss zugeben, dass das Wenige, was ich aus dieser Richtung (Existenzialismus, Sartre) zu lesen oder zu hören bekam, grundsätzlich immer Faszination ausgelöst hat.

Ich würde sagen, der Autor von "Die Gesellschaft der Singularitäten" ist wesentlich näher an empirisch unterlegten soziologischen Tatbeständen als an solchen abstrakt-philosophischen Deutungen dran.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Selina
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2017, 15:38)

Der Mensch ist weder an seine Biologie noch an die sozialen Verhältnisse vollständig gebunden. Seine Freiheit besteht in seinem persönlichen Handeln.
Mal als Anregung:

Das ist der erste Abschnitt des Wikipedia-Artikels zu "Existenzialismus".
Ich bin an dieser philosophischen Ebene der Diskussion gar nicht mal so sehr interessiert und auch nicht besonders kompetent. Aber ich muss zugeben, dass das Wenige, was ich aus dieser Richtung (Existenzialismus, Sartre) zu lesen oder zu hören bekam, grundsätzlich immer Faszination ausgelöst hat.

Ich würde sagen, der Autor von "Die Gesellschaft der Singularitäten" ist wesentlich näher an empirisch unterlegten soziologischen Tatbeständen als an solchen abstrakt-philosophischen Deutungen dran.
Ja, danke für den Tipp. Ich hatte vorhin auch mal ein wenig gegoogelt, um zu schauen, worum es hier eigentlich geht und dabei natürlich auch genau den von dir zitierten Wiki-Text zum Existenzialismus gesehen. Ich weiß, da kriegt man meistens Prügel, wenn man auf Wikipedia verweist (ich hab ja zur "ehrenamtlichen Enzyklopädie" ne andere, eher positive Meinung, wie ich hier schon oft schrieb und begründete). Aber: Interessant und wirklich ein paar Überlegungen wert. Nachdenkenswert finde ich auch deine Bemerkung "Der Mensch ist weder an seine Biologie noch an die sozialen Verhältnisse vollständig gebunden. Seine Freiheit besteht in seinem persönlichen Handeln." So ist es. Daher bin ich auch immer so skeptisch, wenn Theorien aller Art erläutert werden, die dieses freie persönliche Handeln so gut wie überhaupt nicht berücksichtigen, wo der Mensch nicht aktives, sondern eher passives Subjekt ist.
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