Dennoch ist das subjektive Empfinden vieler heute ein anderes. Auch hier im Forum liest man immer wieder von einem Problem mit der inneren Sicherheit. Der Ruf nach mehr Polizei und Militär wird laut. Spüren wir in den letzten Jahren nicht gar wieder einen Zuwachs an Gewalt?Es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Antworten. So haben zum Beispiel demokratische Regierungen dafür gesorgt, dass sich Menschen nicht mehr wahllos die Köpfe einschlagen. Der Aufstieg des Handels führte dazu, dass Menschen lebendig mehr wert waren als tot, denn mit Leichen macht man keine guten Geschäfte. Sobald Menschen anfangen zu handeln, ist es plötzlich billiger, Dinge zu kaufen als zu stehlen. Auch die Alphabetisierung hat beim Rückgang der Gewalt eine Rolle gespielt. Wenn wir Romane und Zeitungen lesen, lernen wir, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und für fremdes Leid empfänglich zu werden. Und der Aufschwung von Bildung und Wissenschaft führte wiederum dazu, dass wir Gewalt – so wie Hunger oder Krankheit – als ein Problem begreifen konnten, das wir lösen wollen.
Woher kommt die Illusion der zunehmenden Gewalt?Wenn man die Welt in den Nachrichten sieht, erscheint es doch immer so, als würde alles nur noch schlimmer. Aber das ist eine Illusion! Sie haben recht, Putin und die Islamisten haben Fortschritte von ungefähr zwölf Jahren ausradiert: Die Todesrate durch Bürgerkriege ist wieder leicht angestiegen. Aber sie ist nicht in Ansätzen so hoch wie in den 1960ern, 1970ern, 1980ern oder den frühen 1990ern, von den 1940ern ganz zu Schweigen. Und alle anderen Gewaltraten – beispielsweise Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Todesstrafe – fallen weiter.
https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty ... henrechnerJa, es fällt uns so schwer, daran zu glauben, weil wir die Welt durch die Brille der Medien sehen. Das führt systematisch in die Irre. Wenn Sie die Fernsehnachrichten einschalten, erfahren Sie immer nur von Dingen, die passiert sind. Nie von Dingen, die nicht passiert sind. Sie werden keinen Reporter sagen hören: «Ich berichte live aus einer Grossstadt, in der kein Bürgerkrieg herrscht.» Oder: «Ich stehe vor einer Schule, in der niemand Amok gelaufen ist.» Solange die Gewaltrate nicht auf null gesunken ist, wird es immer genügend Grausamkeiten geben, um die Abendnachrichten zu füllen. Aber es wäre ein Trugschluss, daraus statistische Trends abzuleiten.
Wie seht ihr das?