Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

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Platon
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Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
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Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Platon »

Hallo Nutzer

Immer wieder wenn man die Meinungen vieler User liest, hat man den Eindruck wir werden unterdrückt, verfolgt und ausgebeutet. Die da OBEN oder andere Gruppen (Frauen z.B.) wollen uns alles nehmen, das Leben ist hart und die Welt ungerecht.
Dabei handelt es sich in meinen Augen um eine Interpretation äußerst komplexer Sachverhalte, mit dem Ziel einer Reduktion von Komplexität zu erreichen. Natürlich kann sich nicht jeder mit den Feinheiten politischer Entscheidungsprozesse befassen oder gesamtgesellschaftliche Prozesse Stück für Stück studieren, man hat schließlich anderes zu tun und so ist es denke ich normal, dass der Einzelne für sich Theorien entwickelt wie die "wahren" Zusammenhänge sind, was teilweise äußerst amüsante Ausmaße annehmen kann.
Dabei fiel mir wie gesagt auf, dass es sich dabei im Normalfall um Theorien handelt die einen selbst als Opfer gegenüber einer übermächtig scheinenden Umwelt/Gesellschaft erscheinen lassen die darüberhinaus oft feindlich gegenüber einen eingestellt ist.
Wo könnten eurer Meinung nach die Gründe in dieser auffallenden Tendenz liegen?
Dieser Beitrag ist sehr gut.
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Mind-X
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Mind-X »

Opfermentalität hat den Vorteil, dass man die Schuld abschieben kann.
Man kann seine Passivität damit rechtfertigen. Somit braucht man nur noch jammern und muss selbst nicht aktiv werden.
Denn aktiv werden bedeutet auch, die Gefahr Fehler zu machen und Niederlagen einzustecken.
Das ist als Opfer in erster Sicht nicht gegeben, da ein Opfer die Chance hat, seine Rolle passiv zu betrachten und damit seine eigene Unzulänglichkeit zu überdecken.
Das jedoch in vielen Fällen(hier gehts jetzt nicht um ein kriminelles Verbrechen) gerade die Passivität der weitaus größte Fehler und katastrophalste Niederlage ist, wird meistens zwar zur Kenntnis genommen, aber der Drang Opfer zu spielen ist höher. Man kann sich auch als Opfer seiner eigenen Unzulänglichkeit machen, was dann zu einem gefährlichen Kreislauf führt, da dieser zu schwerer Depressionen führen kann.

Das Problem in immer stärker werdenen Kommuniktionszeitalter ist, dass die Einflüsse auf die Menschen eine Reaktion hervorrufen, was die Opfermentalität geradezu extrem verstärkt. In jeder Lage scheint man nun hilflos zu sein. Daher gibt es heutzutage weit mehr(selbst im Verhältnis) depressive Menschen, als noch vor einigen Jahrzehnten, obwohl unser Lebensstandard eigentlich gestiegen ist.
"und du wirst wahnsinnig werden von dem, was deine Augen sehen müssen." (5. Mose 28,34)

BLINDER SIEH! TAUBER HÖR! NAZI BEDENKE!
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Tirolerin
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Tirolerin »

Das Problem ist die Verantwortung.

Wenn "die da oben" oder "die (Gruppe deiner Wahl einsetzen)" nicht wären, dann wäre man ja plötzlich für sein Leben und dessen Verlauf zum größten Teil selbst verantwortlich. Und man müsste sich eingestehen, dass man selber etwas verbockt hat, dass man selber zu faul oder zu dumm war, dass man selber ganz allein auf die Schnauze gefallen ist, ohne dass dich jemand gestoßen hätte.

Plötzlich käme raus, dass es gar nicht unmöglich gewesen wäre, mehr aus sich zu machen. Schwer, das mag sein. Aber es gibt nicht eine böse Kraft dahinter, die dir absichtlich in die Suppe spuckt.


Und wenn man das erkennt, dann muss man sowohl die Verantwortung für vergangene Fehler und Misserfolge akzeptieren (seltsamerweise werden die vergangenen Erfolge immer gleich der eigenen Verantwortlichkeit zugeschoben, und nicht "denen da oben", da haut das schon prächtig hin ;) ), als auch sich aufrichten und sich der eigenen Zukunft stellen. Entscheidungen treffen, sich aufraffen, was tun. Und wissen, dass man selber etwas ändern kann. Dass man Einfluss auf den weiteren Verlauf seines Daseins hat.


Diese Vorstellung mag für manche einfach zu beschämend oder zu beängstigend sein, als dass sie sie akzeptieren könnten.



Was natürlich nicht heißt, dass es nicht tatsächlich Menschen gibt, die laufend von anderen, selber unverschuldet, ausgebremst werden. Manchmal von der Gruppe, die sie dafür verantwortlich machen, manchmal von anderen (Bsp.: Die Mutter hat das Kind "gequält", was den Menschen durchaus im weiteren Leben behindern kann, jetzt sind dann aber plötzlich "die Frauen" generell an all dem schuld, was schief gelaufen ist). Der Mensch ist nunmal keine Insel. Nur zu Paranoia und Passivität sollte es dann halt doch nicht führen.
"Höret, was Erfahrung spricht: Hier ist's so wie anderswo. Nichts Genaues weiß man nicht, dieses aber ebenso."
(Otto - Ein Komiker muss ja nicht immer aus der Politik kommen - Grünmandl)
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Kopernikus
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Kopernikus »

als Begründung für dieses Verhalten lässt sich auch die Tatsache interpretieren, dass sich die "Störer" oder "Verantwortlichen" für o.g. Entwicklungen stets außerhalb einer angeblich in sich weitgehend homogenen, ähnliche Interessen zeigenden Masse/ Mitte/ Mehrheitsgesellschaft bewegen.


Bsp.:

Politker als "geldgierige Karrieristen", "Marionetten der Wirtschafts(bosse)" (in der Extremform dann offener Antisemitismus);

Migranten als "Lohndrücker", "potenzielle Terroristen" (in der Extremform dann offene Xenophobie, Rassismus) usw.


In jedem Fall werden die angesprochenen Gruppen als "Die Anderen" wahr genommen, um nach innen "Gemeinschaftssinn" und "Zusammenhalt" beschwören zu können.
Das Individuum habe sich dabei im Zweifel unterzuordnen, da es gegen einen gemeinsamen Feind geht und man entweder mit seiner "Gruppe" kämpft oder sich der Kollaboration mit den Feinden schuldig mache.
Dies scheint mMn. tatsächlich ein wichtiges Motiv dieses Prozesses zu sein und ist der Grundstein totalitärer Ideologien sowie wichtiges Element jedweden Nationalismus/ Patriotismus.
http://kartoffeln-im-netz.tumblr.com/
"Das Volk ist immer da, wo das große Maul, die heftigste Phrase ist." Alfred Döblin
http://www.youtube.com/watch?v=xwsOi0ypuSI
mabf61
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von mabf61 »

Ich bin sowieo anders
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Coniuratio Lamiae Imperatricis Terrarum Obscurarum, Raptorum, Interfectorum Servorumque
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LuckyGeorge
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von LuckyGeorge »

Zum einen finde ich den Begriff "Opfermythos" etwas unglücklich gewählt - dabei muss ich immer zuerst an Österreich denken. Und zum anderen ist "Mythos" auch der vollkommen falsche Begriff, denn jeder ist nachweislich irgendwann ein Opfer einer Entscheidung die er nicht selbts zu verantworten hat. Das bleibt in einer vom Konsens geprägten Gesellschaft garnicht aus und reicht vom kleinen ins große. Sei es ein Händler, der einen mal beschissen hat, der Chef der mal eben den Jahresurlaub streicht, der Kunde, der meint sich durch diverse Kniffe um die Rechnung zu drücken oder eben auch die Steuererhöhung die man schmerzhaft im Geldbeutel merkt.

Da der Mensch an sich jedoch garnicht zu großer Differenzierung fähig ist bleibt am Ende nur das Gefühl, daß die "Anderen" einen nicht mögen | betrügen | unter einer Decke stecken. In altbewährter Stammtischmanier wird dann sehr häufig ein "Die da oben" gegene "Wir hier unten" ohne das dabei bemerkt wird, daß "Die da oben" ebenso an ihrem Stammtisch über die jeweilig anderen meckern.

Das diese Opferhaltung zunimmt kann ich so nicht bestätigen. Man schaue sich doch nur mal einen beliebigen politischen Kommentar aus den letzten 200 Jahren an - das lamentieren klingt häufig gleich und einigfe Kommentare von Tucholsky oder Twain könnten ebenso von Schramm und Priol stammen. Ja sogar die Themen sind ähnlich.

@Tirolerin:
Das Problem ist die Verantwortung.
Jein. Natürlich ist es häufig einfacher mal eben zu meckern, als sich seine eigenen Handlungsmöglichkeiten einzugestehen und diese zu nutzen - oder eben die Nichtnutzbarkeit ebendieser als Faktum hinzunehmen. Nur ist darin auf Dauer auch keine Lösung zu finden. Kannst Du ernsthaft behaupten ein komplett selbstverantwortliches Leben zu leben? Falls Du nicht gerade allein auf einer Südseeinsel sitzt wage ich das zu bezweifeln.
Häufig ist das Verfallen in die Opferrolle auch nur inneres Aufgeben ob der Erkenntniss, daß die viel gepriesene Freiheit des Einzelnen einfach nicht existiert. Diese Erkenntniss kann zu Pragmatismus im eigenen Handeln führen - oder eben zu einem ausgeprägten Stammtischgemeckere.
Wer lügt stiehlt einem anderen die Möglichkeit die Wahrheit zu sagen.
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Tirolerin
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Tirolerin »

LuckyGeorge hat geschrieben:
@Tirolerin:



Jein. Natürlich ist es häufig einfacher mal eben zu meckern, als sich seine eigenen Handlungsmöglichkeiten einzugestehen und diese zu nutzen - oder eben die Nichtnutzbarkeit ebendieser als Faktum hinzunehmen. Nur ist darin auf Dauer auch keine Lösung zu finden. Kannst Du ernsthaft behaupten ein komplett selbstverantwortliches Leben zu leben? Falls Du nicht gerade allein auf einer Südseeinsel sitzt wage ich das zu bezweifeln.
Häufig ist das Verfallen in die Opferrolle auch nur inneres Aufgeben ob der Erkenntniss, daß die viel gepriesene Freiheit des Einzelnen einfach nicht existiert. Diese Erkenntniss kann zu Pragmatismus im eigenen Handeln führen - oder eben zu einem ausgeprägten Stammtischgemeckere.
Das weiß ich ja, darum habe ich im letzten Absatz meines Beitrages auch eingeschränkt. Ich hätte dies deutlicher tun sollen.

Mir ging es um die, die tatsächlich immer, bei allem, ständig und ausschließlich alles auf "die da" schieben.

Dass man leider (oder glücklicherweise?) im Leben nicht alles selbst in der Hand hat, ist klar. Aber ganz so machtlos, wie manche "ewigen Opfer" tun, ist man in aller Regel eben auch nicht.
"Höret, was Erfahrung spricht: Hier ist's so wie anderswo. Nichts Genaues weiß man nicht, dieses aber ebenso."
(Otto - Ein Komiker muss ja nicht immer aus der Politik kommen - Grünmandl)
Gestriger

Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Gestriger »

Offenbar haben wir als Zeichen unserer Zivilisierung das Vogelnest-Prinzip aufgehoben: Das lauteste und kräftigste Vöglein bekommt bekanntlich am meisten Futter. Wir dagegen haben uns angewöhnt zu vermuten, dass arme, kranke Menschen besonders wertvoll sind und da ist es nur logisch, wenn viele auf der Opfernummer reiten - das bringt den höchsten moralischen und finanziellen Gewinn und spart eigenen Aufwand.
adal
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von adal »

Gestriger hat geschrieben:Offenbar haben wir als Zeichen unserer Zivilisierung das Vogelnest-Prinzip aufgehoben: Das lauteste und kräftigste Vöglein bekommt bekanntlich am meisten Futter. Wir dagegen haben uns angewöhnt zu vermuten, dass arme, kranke Menschen besonders wertvoll sind und da ist es nur logisch, wenn viele auf der Opfernummer reiten - das bringt den höchsten moralischen und finanziellen Gewinn und spart eigenen Aufwand.
Ja, besonders den Aufwand an Gehirnschmalz.

Gestriger, ein Opfer des Feminismus und ein Fels der Aufklärung in der Brandung der Unwissenheit:

..vermutlich ist von der Mutter erstochen werden irgendwie netter und bunter als vom Vater zerschmettert zu werden...

...Frauen morden bekanntlich nicht, sie sind allenfalls 'psychisch gestört' oder 'überfordert'...

...Dabei sitzen Frauen nur deshalb nicht im Knast, weil man sie sehr milde oder gar nicht bestraft - Stichwort 'Frauenrabatt'. Den gibt's bekanntlich, weil Frauen es angeblich 'schwerer haben im Leben'...
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Machine Head
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Machine Head »

Hallo Platon,

hast du zufällig was von Luhmann gelesen oder verwendest du nur zufällig diverse Begriffe?
Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren. - Karl Popper: The Open Society and its Enemies
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Caschny
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user title: ... auch Aufklärer genannt
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Re: Der Opfermythos als Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung

Beitrag von Caschny »

Platon hat geschrieben:Hallo Nutzer

Immer wieder wenn man die Meinungen vieler User liest, hat man den Eindruck wir werden unterdrückt, verfolgt und ausgebeutet. Die da OBEN oder andere Gruppen (Frauen z.B.) wollen uns alles nehmen, das Leben ist hart und die Welt ungerecht.
Dabei handelt es sich in meinen Augen um eine Interpretation äußerst komplexer Sachverhalte, mit dem Ziel einer Reduktion von Komplexität zu erreichen. Natürlich kann sich nicht jeder mit den Feinheiten politischer Entscheidungsprozesse befassen oder gesamtgesellschaftliche Prozesse Stück für Stück studieren, man hat schließlich anderes zu tun und so ist es denke ich normal, dass der Einzelne für sich Theorien entwickelt wie die "wahren" Zusammenhänge sind, was teilweise äußerst amüsante Ausmaße annehmen kann.
Dabei fiel mir wie gesagt auf, dass es sich dabei im Normalfall um Theorien handelt die einen selbst als Opfer gegenüber einer übermächtig scheinenden Umwelt/Gesellschaft erscheinen lassen die darüberhinaus oft feindlich gegenüber einen eingestellt ist.
Wo könnten eurer Meinung nach die Gründe in dieser auffallenden Tendenz liegen?
Das scheint mir eine höchst philosophische Frage zu sein, weil sie direkt auf das individuelle Weltbild abzielt. Wie sich ein solches Weltbild manifestiert, wissen wir ja ziemlich genau: Man bemühe dazu die Linguistik, die Soziologie und die Psychologie.

Die Betonung der Opferrolle sehe ich dabei als eine mögliche Facette dieses Weltbildes, das sehr genau die Stellung des eigenen Ichs im sozialen Umfeld berührt. Viele Menschen tun dies unbewusst und meist als Ergebnis individueller Erfahrungen, auch im chronolgischen Vergleich. Einige Menschen machen dies aber auch vollkommen bewusst. Sie befassen sich mit dieser Stellung ihrer selbst im Weltganzen im Bewusstsein der von Dir genannten Komplexität. So etwa entstehen Verschwörungstheorien, Systemkritiken, Utopien, Visionen oder auch individuelle Handlungsweisen im Endresultat.

Letztlich würde ich als zentralen Aspekt immer den der Quote zwischen Selbst- und Fremdbestimmung sehen, wobei das Ergebnis stets zwischen 0 und 1 liegt. Je höher diese Quote ist, desto weniger ist diese Opferrolle objektiv zu rechtfertigen. Subjektiv kann das natürlich erheblich abweichen, denn dabei fließen die Größe der individuellen Wahrnehmung sowie auch Vergleichsgrößen entscheidend ein.

Gerade in Bezug auf die persönliche bewusste Wahrnehmung dürften Bildung und Aufklärung die entscheidenden Rollen spielen.

Caschny.
DIE LINKE - Dem Neoliberalismus und dem Raubtierkapitalismus die Stirn bieten!
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