NMA hat geschrieben:Aus Küster, Hansjörg 2008: Geschichte des Waldes:
"(...)Dabei waren die Waldschäden, die man zuerst bei der Tanne, dann bei anderen Baumarten diagnostizierte, keineswegs neu. Seit dem 19. Jahrhundert wusste man, dass Bäume durch Rauch geschädigt werden; in der Nähe von Erzaufbereitungsanlagen im Harz, Erzgebirge, Siegerland starben Bäume ab. Schon damals regte man an, Schornsteine zu erhöhen und die Schadstoffe in größere Höhen zu emittieren, doch war man von Anfang an sich darüber im Klaren, dass dies zu einer weiteren Verbreitung der Schadstoffe und zu einer Schädigung von Bäumen in einem größeren Gebiet führen würde. Dass dies mutmaßlich bereits eingetreten war, bemerkte man um 1980. In den Jahren zuvor schon mehrten sich Hinweise auf Schädigungen bei Tannen im Schwarzwald und in anderen Gebirgen, die man sich zunächst nicht erklären konnte; seit 1979 lag es auf der Hand: Der Saure Regen, in dem die Industrie-Emissionen wieder auf die Erde zurückfielen, schien die Wälder zu zerstören. In Illustrierten und Magazinen wurde alsbald der Untergang der Wälder prophezeit. Eilends entwickelte man Schätzverfahren, mit denen objektiv die Zu- oder Abnahme der Walderkrankung gemessen werden sollte. Detailgetreue Fotos zeigten die Zustände gesunder und geschädigter Bäume; an diesen Bildern wurden die Augen der Schätzer geschult, die den Zustand des Waldes ermitteln sollten. Von Jahr zu Jahr waren die Schätzer besser ausgebildet, und man muss den Eindruck haben, dass allein durch ihre bessere Schulung die als geschädigt deklarierten Flächen zugenommen haben.
Inzwischen weiß man, dass das Ende des Waldes nicht gekommen ist. Vielmehr stellt sich heraus, dass gerade in den Jahren, in den das Waldsterben entdeckt wurde, viele Bäume besonders gute Zuwachsraten erbrachten. Waren sie also wirklich sterbenskrank? Heinz Ellenberg, jahrzehntelang einer der führenden Ökologen in Deutschland, bemängelte vor allem die "Objektivität" des Schätzverfahrens für den Zustand der Wälder. Denn da waren Bilder von Waldzuständen zu sehen, die nicht in einer Zeitreihe am gleichen Baum aufgenommen worden waren, sondern bei Bäumen, die an unterschiedlichen Standorten wuchsen. Selbstverständlich haben Bäume auf günstigen Standorten mehr Blätter und Nadeln als solche auf ungünstigen. Auch wurde vor Einführung des Schätzverfahrens nicht geklärt, ob die geschädigten Bäume nicht nur deswegen so aussahen, weil sie auf einem ungünstigen Standort wuchsen, in Wirklichkeit also ihrem Milieu entsprechend gesund waren. (1)
Abgesehen davon: Es konnte bis heute nicht geklärt werden, inwieweit Emissionen der Industrie an den Baumschäden in großen Regionen beteiligt waren und sind. Es wurden und werden viele verschiedene Ursachen für die "neuartigen Waldschäden“ ins Gespräch gebracht. Möglicherweise wirkten die sauren Depositionen aus den Niederschlägen direkt auf Nadeln und Blätter ein. Oder sie machten sich vor allem im Boden bemerkbar, weil sie unmittelbar die Wurzeln der Bäume schädigten oder zur Verlagerung von bestimmten chemischen Elementen führten, die dann zur Ernährung der Bäume nicht mehr zur Verfügung standen. Oder es wurde zu viel toxisches Aluminium freigesetzt. (…)
Ellenberg bekannte, dass viele Ökologen längst wussten, dass das Waldsterben in der prognostizierten Form(2) nicht eintrat, doch schwiegen sie darüber. Das Phänomen Waldsterben hatte nämlich weite Teile der Bevölkerung Deutschlands tief schockiert und die Politiker zum Handeln genötigt(3). Es wurden große Anstrengungen unternommen, die Luft zu reinigen.(…)(4)Die Luft wurde nicht nur in Deutschland, wo der Schock über das Sterben der Wälder besonders tief saß, sondern auch in vielen anderen Industrieländern messbar erheblich sauberer. „Ökologie“ wurde zu einem populären Anliegen und ökologische Forschung im Zusammenhang mit der Waldschadensforschung(5) ganz erheblich ausgebaut. Dies ist alles zweifellos positiv zu bewerten; jede Pressemeldung über das Waldsterben gab Anlass zum Handeln und begünstigte ökologische Forschungsprojekte. Bei der Luftreinhaltung und anderen Umweltschutzmaßnahmen entwickelte sich Deutschland bald zu einer weltweit führenden Nation. Auch in anderen Industriestaaten dachte man verstärkt über den Schutz der Umwelt und die Reinhaltung der Luft nach, ergriff Maßnahmen, die sich oft an den Vorbildern der Deutschen orientierten, und man begann, auf internationaler Ebene über die Zukunft des Planeten nachzudenken.
Daher war klar: Aus politischen Gründen und im Interesse der Zukunft der Menschheit war es opportun, das Ausmaß des Waldsterbens nicht kleiner zu reden, als es zu sein schien.(7)
Wenn Ökologen heute bekennen, sie hätten gewusst, dass das Waldsterben nicht den gleichen Umfang hatte und hat, wie es berichtet worden war, könnte ökologische Forschung in Misskredit kommen. Dies ist aber gefährlich, denn gerade die Waldschadensforschung, die durch das Phänomen Waldsterben in Gang kam, hat wesentliche Zusammenhänge in Waldökosystemen aufgedeckt. Und es sind noch längst nicht alle relevanten Forschungsfragen in Angriff genommen worden. Vor allem hat man über langfristige Änderungen und über die Dynamik in Ökosystemen bisher viel zu wenig nachgedacht, (…)
Von einer ganz wesentlichen Folge der Diskussion um das Waldsterben war bisher noch gar nicht die Rede: Man dachte nun auch verstärkt über das rigorose Abholzen des tropischen Regenwalds im Amazonasgebiet, in Afrika und Südostasien nach. (…)(6)"
(1) Freilich wurden methodische Fehler bei solchen Unternehmungen immer gemacht. Aber es ist ein herausgegriffenes Beispiel. Ich möchte schon ergänzen: Schon damals gab es heftige Kontroversen zwischen Forschern, sprich, es gab auch viele, welche sinnvoller arbeiteten bzw. ihren Beitrag leisteten, dass solche Fehler erkannt, kritisiert und korrigiert werden.
(2) Besser: In diesem Ausmaß
(3) Man kann Politiker offenbar doch zum Handeln bringen.
(4) Katalysator, Bleifrei, Luftfilter usw … hat das Jemandem weh getan? Nein, das war Futter für die Konjunktur und beschaffte Innovationsschübe.
(5) Da haben wir also die sachliche Bezeichnung. Wald ist in Deutschland ein erheblicher Wirtschaftsfaktor, vom Rohstoff bis zum Tourismus. „Waldschadensforschung“ ist die Aufgabe, sehr wertvolle Erkenntnisse für optimale Ausnutzung eines nachhaltigen Wachstumpotenzials sind die Ergebnisse. Erst das Problem „Waldsterben“ schaffte unabhängig vom sauren Regen auch Bewusstsein für das Problem „Borkenkäfer“ . Die Konsequenzen sind heute offensichtlich: Klugerweise forstet man nun schon lange viel mehr Mischwälder auf. Heute wird das sichtbar: Mehr stabile, gesunde, wertvolle Mischwälder. Monokulturen sind gezielter gesetzt und insgesamt seltener
(6) Mit dem Ergebnis, dass inzwischen die Fläche des brasilianischen Regenwaldes heute endlich aufgehört hat zu schwinden.
(7) Das kann man gar nicht dick genug unterstreichen. Es ist definitiv aus mehrerlei Gründen wichtig für die Zukunft der Menscheit, vom Schlimmsten auszugehen. Das Waldsterben war nie eine Lüge. Der Dilettantismus, der zur Panikmache geführt hat, habt aber die notwendigen, richtigen Maßnahmen erheblich beschleunigt.
Man übertrage das bitte jetzt auf den Klimawandel.