Karl Marx feiern?

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imp
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Re: Karl Marx feiern?

Beitrag von imp »

schokoschendrezki hat geschrieben:(19 Jul 2018, 08:18)

Für das wesentliche und eigentliche Hauptwerk "Das Kapital" beginnt - mit einigen Einschränkungen natürlich - diese Zukunft gerade erst. In allerdjüngster Zeit beginnt unter einigen Ökonomen und Geisteswissenschaftler eine Marx-Renaissance, die ich bis dahin gar nicht für möglich hielt. Sie hat zum einen wahrscheinlich mit den Bankenkrisen zu tun. Zum anderen aber - noch erstaunlicher - mit den modernen technologischen Entwicklungen. "Karl Marx: Was hätte er zum Internet gesagt? Vieles, was uns das Netz gebracht hat, hätte gut in die Theorie des Philosophen gepasst. Heute sollten Clickworker und Uber-Fahrer Marx lesen." ist ein Artikel in der ZEIT im Mai 2018 überschrieben. https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2 ... net-arbeit.

Nicht minder erstaunlich finde ich, wie sehr sich doch eine ganze Menge Anhänger und Mitglieder der Partei, in der man Marxneigung am ehesten vermutet, bemühen, den Bezug auf Marx eher in den Hintergrund zu rücken.
Ich vermute, dass solche Parteien sich bei Marx vor allem für Klimbim und Mythologie interessieren, weniger für eine ökonomische Analyse als Grundlage politischen Verständnisses. Die könnte tagesaktuellen Politikbedürfnissen und Kompromissformeln störend anecken. Internationale singen und vom Gespenst in Europa zitieren, ist dagegen unproblematisch in jeder Lebenslage - und wenn gerade ein Durchbruch zu neuen Wählerklientelen angesagt ist, packt man den ganzen Zirkus für eine Weile in den Schrank. Marx als Dekoartikel fürs geistige Ambiente in der Parteijugend, als politkulturelle Motivtapete für hohe Feiertage - harmlos, zeitlos, sinnlos.
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Sorgenking
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Re: Karl Marx feiern?

Beitrag von Sorgenking »

Misterfritz hat geschrieben:(18 Jul 2018, 21:29)

Nur ist diese "Zukunft" von Marx eben auch schon lange vorbei.
Wenn man zuviel Zeit hat, kann man sicherlich auch Marx lesen, muss man aber trotzdem nicht.
Die Globalisierung & der Kapitalismus sind also vorbei? Interessan:D
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schokoschendrezki
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Re: Karl Marx feiern?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sole.survivor@web.de hat geschrieben:(19 Jul 2018, 11:22)

Ich vermute, dass solche Parteien sich bei Marx vor allem für Klimbim und Mythologie interessieren, weniger für eine ökonomische Analyse als Grundlage politischen Verständnisses. Die könnte tagesaktuellen Politikbedürfnissen und Kompromissformeln störend anecken. Internationale singen und vom Gespenst in Europa zitieren, ist dagegen unproblematisch in jeder Lebenslage - und wenn gerade ein Durchbruch zu neuen Wählerklientelen angesagt ist, packt man den ganzen Zirkus für eine Weile in den Schrank. Marx als Dekoartikel fürs geistige Ambiente in der Parteijugend, als politkulturelle Motivtapete für hohe Feiertage - harmlos, zeitlos, sinnlos.
Ja, klar. Als Politkult-Ikone liegt Marx in der Hitparade allerdings wohl nich immer weit weit hinter "Che" zurück. Der Partei "DIe Linke" kann ich das allerdings so pauschal nicht vorhalten. Dazu müsste ich mich etwas mehr mit ihren Programmen beschäftigen.

Eine offizielle Verlautbarung zur Rolle von Marx bei der Linken gibt es:
https://www.die-linke.de/partei/parteis ... marx-lebt/
Die ist aber meiner Ansicht nach ziemlich widerpsrüchlich. Zum einen wird Marx erstmal und vor allem als Initiator politischer Bewegungen angesehen. Gleich im ersten Absatz:
Vor 200 Jahren, am 5. Mai 1818, wurde Karl Marx geboren. Er hob gemeinsam mit Friedrich Engels die Kritik der politischen Ökonomie und die Philosophie auf eine neue Stufe und gab somit der entstehenden sozialistischen Bewegung wissenschaftliche sowie praktische Impulse.

Marx war ein politischer Mensch.
Und dann aber:
Marx war ein philosophisch geschulter, denkender Politökonom und Historiker. Er analysierte die Entstehung des Kapitalismus (bzw. der kapitalistischen Produktionsweise), untersuchte die Gründe für dessen Funktionieren sowie für seine Krisenhaftigkeit und kam zu dem Schluss, dass der Kapitalismus zwar einerseits ungeheure Umwälzungen und Entwicklungen vollbringt, aber gerade dadurch bestimmte Widersprüche verschärft und damit zu seinem eigenen Niedergang beiträgt.
Und dann aber:
Marx und Engels begriffen im »Kommunistischen Manifest« die Geschichte noch als »eine Geschichte von Klassenkämpfen«
Das ist natürlich korrekt.

Diese drei Punkte würde ich als wichtig für eine sinnvolle Marx-Rezeption heute sehen: Marx vor allem als einen Initiator (wieder Willen) politischer Bewegungen zu sehen, als einen Maximo Lider, ist günstigstensfalls politische Folklore und ansonsten Unsinn. Die ganze Theorie sozialer Klassen, des Klassenkampfes, der historischen Mission der Arbeiterklasse usw. waren vor allem historische Totalirrtümer. Und: Die eigentliche Leistung besteht in seiner Rolle als "philosophisch geschulter, denkender Politökonom und Historiker".
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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