...älterer Beitrag :
Der Antisemitimusforscher Klaus Holz hält den sog. „neuen Antisemitismus“ für den alten. Nicht die Grundstrukturen hätten sich geändert, sondern der Bezugsrahmen nach dem Zweiten Weltkrieg und ein weiteres Mal nach Ende des Kalten Krieges, an den sich die antisemitischen Prämissen und Denkmuster angepasst haben (zur Grundstruktur des Antisemitismus siehe ganz unten*).
Aus dem Beitrag von Klaus Holz in der Broschüre des Bundesinnenministers „Neuer Antisemitismus?“:
1. „Der arabische Nationalismus kämpft... gegen den Imperialismus und für die Freiheit. [...] Und schließlich leidet die arabische Nation unter dem Terror des Zionismus, der auf arabischem Boden seinen Piratenstaat Israel errichtete und das arabische Volk der Palästinenser teils tötete und vertrieb, teils unterwarf und bis heute unterdrückt.“
Ein Antiimp? Weiter im Text:
„...Der Zionismus aber ist bekanntlich der Hauptfeind des Nationalsozialismus, der dem zionistischen Streben nach Weltherrschaft einen erbarmungslosen Widerstand entgegensetzt. Dies alles sind Voraussetzungen zur Bildung eines europäisch-arabischen Großraumes...“,
so Michael Kühnen, der 1991 verstorbene Vordenker der Neonazis.
2. Islamistischer Antisemitismus
„...Der Konflikt zwischen PLO und Hamas ist symptomatisch für den Umbruch der Leitideologien in der arabischen Welt. Die Islamisten verstehen sich als revolutionäre Bewegung, die die arabischen Nationalstaaten von ihrem gottlosen, westlich korrumpierten Weg abbringen will.... keine Rückkehr zu einem ursprünglichen, authentischen Islam, sondern eine mit Koranzitaten ausstaffierte Erfindung von Traditionen zu gegenwärtigen politischen Zwecken. ... In diese Grundorientierung fügt sich der moderne Antisemitismus problemlos ein...“
„...In den Worten von Said Qutb: ‚Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der geheiligten Beziehungen in der Gesellschaft steckte ebenfalls ein Jude.’ Gemeint sind Karl Marx, Sigmund Freud und Émile Durkheim, deren Lehren angeblich die religiösen, ökonomischen, sexuellen und familialen Grundlagen der islamischen Lebensgemeinschaft zerstören. Solche antimodernen Klagen lassen sich je nach zeitlichem Kontext auf eine Vielzahl von Themen ausweiten...“
„Die Hamas ... erklärt, dass die Juden durch ihren Reichtum in der Lage sind, die ‚Weltmedien’ zu beherrschen und ‚Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt anzustacheln’. Sie steckten ‚hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen’ sowie hinter dem Ersten Weltkrieg, ‚um das islamische
Kalifat auszulöschen. [...] Sie standen auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie immensen Nutzen aus dem Handel mit Kriegsgütern zogen und die Etablierung ihres Staates vorbereiteten.’ Diese macht- und verschwörungstheoretische Rhetorik entnehmen die Islamisten offensichtlich nicht dem Koran, sondern den Grundtexten des europäischen Antisemitismus. ‚Ihre Machenschaften wurden in den Protokollen der Weisen von
Zion geplant, und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was dort gesagt wurde.’...“
3. Antizionistischer Antisemitismus
Er entwickelte sich zur sowjetischen Staatsdoktrin nach dem 2. Weltkrieg, seine Wurzeln reichen bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
“...So wird zum Beispiel 1952 in einem stalinistischen Schauprozess Israel als ‚amerikanischer Paschalik’, das heißt als amerikanischer Verwaltungsbezirk, bezeichnet. Überdies seien die Zionisten unter den ‚amerikanischen Monopolisten’ zahlreich vertreten und würden generell nicht dem ‚werktätigen Volk Israels’, sondern dem ‚amerikanischen Imperialismus’ dienen. Der machtpolitische Hintergrund für diese Identifikation von Zionismus und Amerikanismus ist für die Epoche des Kalten Kriegs offensichtlich. Hinzu kommt, dass die USA als Chiffre für besonders rabiate Modernisierung und kapitalistische Vergesellschaftung stehen, so dass sich Antisemitismus und Antiamerikanismus leicht verbinden lassen.
Das zweite Element bezeichnet man in der Antisemitismusforschung als
Täter-Opfer-Umkehr. Sie wird nach der Shoah zentral. Denn angesichts der nationalsozialistischen Judenvernichtung steht jeder Antisemitismus vor dem Problem, die Fortsetzung des Antisemitismus rechtfertigen zu müssen. Im Grunde gibt es hierfür nur drei Möglichkeiten: Entweder man begrüßt den Mord an den Juden oder man leugnet Auschwitz. In der bürgerlichen, linken und linksradikalen Öffentlichkeit jeder Couleur sind solche Behauptungen tabuisiert.
Für die dritte Möglichkeit gilt dies nicht. Sie ist die, die sich bis weit in das rechtsradikale Lager hinein durchgesetzt hat und die nicht nur, aber auch im antizionistischen Antisemitismus zentral ist. In dem schon genannten Schauprozess wird den angeklagten Zionisten, tatsächlich jüdischen Kommunisten, vorgeworfen, sie seien Nazikollaborateure gewesen, hätten nach dem Krieg Nazitäter gerettet und seien mit den westdeutschen Neonazis verbündet. Sie hätten die Shoah benutzt, um ‚sich mit einem Panzer gegen jegliche Kritik zu wappnen und ihr wahres Gesicht geschworener Klassenfeinde mit dem Leiden der Juden zur Zeit der wütenden Naziherrschaft zu verhüllen...’“
(Aktuell beliebte Topoi: Havaara-Abkommen, „Shoah-Business“, oder die von dem user Gawen in diesem Forum gepostete Unterstellung, der „antideutsche“ Boykott der Jewish War Veterans von 1933 habe eine Eskalation in Gang gesetzt, die in den Holocaust mündete).
„...Gegenwärtig etabliert sich eine „Konstellation, in der gerade diese Spielart des Antisemitismus die unterschiedlichsten politischen Lager im Antisemitismus kooperations- und koalitionsfähig macht. Im antizionistischen Antisemitismus können sich der islamisierte, der rechtsradikale, der marxistischleninistische (i. e. stalinistische), der globalisierungskritische und der Antisemitismus der Mitte treffen. Hierfür ist die (allerdings nicht neue) Legitimation des Antisemitismus als Antirassismus und Antifaschismus und, damit verbunden, die Camouflage des Antisemitismus als Antizionismus wesentlich....
....Die Täter-Opfer-Umkehr ist im säkularen wie im islamistischen Antisemitismus so attraktiv, weil sie die israelische Staatsgründung delegitimiert. Israel erscheint nicht mehr als ein Staat der Überlebenden, vielmehr figuriert Auschwitz als ein ‚jüdisch-nazistisches Komplott’, um Israel gründen zu können....“
4. Neue Eintracht im Ost-West-Konflikt
„...Nach 1989, also nach dem Zusammenbruch des alten Ost-West-Gegensatzes, fügen sich die unterschiedlichen Entwicklungslinien des marxistisch-leninistischen beziehungsweise islamistischen Antizionismus und der antisemitischen Vergangenheitsbewältigung zunehmend ineinander, so dass sich ansonsten schwer kompatible Ideologien, Parteien und Bewegungen im Antisemitismus amalgamieren können. Nicht nur die RAF, Möllemann und der Ex-Grüne Karsli haben die palästinensische Sache, oder was sie dafür halten, mit antisemitischen Begründungen unterstützt. Inzwischen gibt es nicht nur eine beträchtliche Zahl rechtsradikaler Sympathie-Erklärungen zugunsten des arabischen Antisemitismus, sondern auch direkte Verbindungen zwischen Organisationen...“
(rechtsextreme und islamistische Blogs verlinken aufeinander, siehe auch NPD-Auftritte im iranischen Fernsehen. Immigrantenvereine vernetzen sich mit dezidiert antisemitischen Organisationen wie Milli Görüs).
Die „...extremen islamistischen beziehungsweise neonazistischen Positionen haben mittlerweile zumindest in Bruchstücken und in etwas anders vorgetragener Terminologie sogar die
Mitte des politischen Spektrums erreicht.
Man muss diese Fragmente nur entsprechend zusammenfügen:
Martin Walser schlägt Ignatz Bubis und Genossen zunächst die „Moralkeule“aus der Hand und lässt seinem Todeswunsch gegen den zum Täter erklärten Überlebenden der Shoah, Marcel Reich-Ranicki, dann freien Lauf. Möllemann glaubt öffentlich, dass Friedman und Scharon schuld am Antisemitismus seien – ein Bekenntnis, das die deutsch-arabische Freundschaft stützt, während Roland Kochs hessische CDU illegale Geldzuwendungen als Zuflüsse aus dem Nachlass von Juden tarnt. Der Bundeskanzler und die Justizministerin a. D.steuern eine Portion Antiamerikanismus bei, während die Grünen in Karslis proarabischem Engagement den Antisemitismus erst entdecken, nachdem er zur FDP wechselte.
Dieses Gebräu enthält fünf der attraktivsten Elemente eines zukünftigen Antisemitismus:
Täter- Opfer-Umkehr, Tötungswunsch, jüdisches Geld, Antiamerikanismus, Feindschaft gegen Israel....“
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Strukturmerkmale des neuen (alten) Antisemitismus nach Klaus Holz:
(1) "...Jeder Antisemitismus erhebt eine umfassende Klage gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Zerstörung der angeblich traditionellen, harmonischen und authentischen Lebensformen. Dabei werden die Juden insbesondere für den Materialismus, die Geldwirtschaft“ und eine amoralische Verrohung verantwortlich gemacht...
(2 )...Das zweite Merkmal des modernen Antisemitismus, die angebliche jüdische Macht. Genauer: Im Antisemitismus personifizieren die Juden die zentralen modernen Machtmittel und die Medien der modernen Gesellschaft. Sie verkörpern das Geld, die Börse, das Finanzkapital, die Presse. Dadurch verfügen die Juden vermeintlich über eine weltumspannende Macht, kraft derer sie alle Völker, Religionen und Kulturen bedrohen. Das Phantasma jüdischer Macht führt im Antisemitismus dazu, jedes nur erdenkliche und als verwerflich beurteilte historische Ereignis den Juden zur Last zu legen. Entscheidend hierfür ist die Personifikation von Macht. Denn dadurch erscheint jedes beliebige historische Ereignis oder der soziale Wandel generell als eine absichtsvolle, geplante Tat, für die ein namhaft zu machender Täter verantwortlich ist....
.... Dieses Merkmal wird in einem immer wiederkehrenden Bild ausgedrückt: Ein blutrünstiger Jude beugt sich über die Weltkugel und hält, wie ein Marionettenspieler, Uncle Sam oder eine andere Machtfigur in der Hand....
...Da 'der Jude' im Verborgenen agiert, spannt er andere ein, um seine klandestinen Machenschaften auszuführen.
(3) Hieraus ergibt sich ein drittes, nicht minder wesentliches und generelles Merkmal. Der Antisemitismus hat eine dreigliedrige Struktur.
Erstens gibt es die jeweilige Wir-Gruppe, also zum Beispiel die Muslime oder die Deutschen. ... Solche partikularen Gruppen sind notwendigerweise nicht singulär. Völker, Rassen und Religionen gibt es nur im Plural. Dem deutschen Volk steht
zweitens das französische gegenüber, den Ariern die Slawen, den Muslimen die Christen. In solchen Gegensatzpaaren werden zeitgenössische Feindschaften und Konkurrenzen festgehalten. Mit dem Antisemitismus aber kommt etwas
Drittes hinzu: Die Juden werden gerade nicht in der gleichen Weise wie die Franzosen, Slawen oder Christen als anderes Volk, als andere Rasse oder andere Religion konzipiert, sondern als Träger einer weltumspannenden, verborgenen Macht, die nicht nur die Weltherrschaft anstrebt, sondern die Unterschiede zwischen allen Völkern, Rassen und Religionen zersetzen will. Dementsprechend verkörpern die Juden den Internationalismus und werden sowohl vom ‚kapitalistischen Westen als auch vom kommunistischen Osten’ unterstützt. ‚Sie regten die Errichtung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates an, um [...] die Welt mit Hilfe ihrer Mittelsmänner zu beherrschen.’ Letztlich ist das Ziel der ‚jüdischen’ Bestrebungen, alle unsere partikularen Identitäten aufzulösen.
‚Der Jude’ als Dritter transzendiert, bedroht und zersetzt die binäre Unterscheidung zwischen ‚uns und den anderen’, dank derer die partikulare Gruppenidentität konstruiert wird....
....verblüffende Konsequenz: Da ‚der Jude’ in die Position des Dritten gerückt wird, ist der moderne Antisemitismus genuin transnational, transrassisch beziehungsweise transreligiös und im gleichen Atemzug und aus dem gleichen Grund heraus national, rassisch und religiös. Dies vermeintliche Paradox hat zu großen Verwirrungen und Ungereimtheiten in geläufigen Antisemitismustheorien geführt, da häufig der eine Aspekt gegen den anderen ausgespielt wurde, anstatt ihre konstitutive Zusammengehörigkeit zu begreifen. Der Antisemitismus ist national, rassisch beziehungsweise religiös, je nachdem, wie er die eigene Wir-Gruppe definiert. Er ist transnational, transrassisch oder transreligiös, weil er die Juden als Weltfeind imaginiert....“
der Dritte „... ist als Antagonist aller Wir-Gruppen identifiziert, als der große Verschwörer und Zersetzer aller Ordnung. Deshalb ergibt sich aus der Logik dieser antisemitischen Konstruktion, den Juden das Existenzrecht zu bestreiten. Diese Konsequenz wird manchmal ausdrücklich gezogen, manchmal bleibt sie implizit....“
Siehe auch Küntzel:
"Sprache der Vernichtung"