Liegestuhl hat geschrieben:(11 Oct 2017, 10:09)
In Israel haben Juden und Nichtjuden die gleichen Rechte und Israel ist trotzdem eine jüdische Demokratie. Die Praxis zeigt doch, dass es möglich ist. Wo siehst du ein Problem?
Ich vermute mal, es gibt ein Fragezeichen hinter dem Begriff "jüdische Demokratie" und den "gleichen Rechten". Nicht in dem Sinne, dass dem Individuum irgendetwas fehlen würde. Ob das so ist, ist in der Frage jedenfalls nicht relevant. Sondern in der Frage inwieweit sich die israelische Gesetzgebung von der deutschen wirklich unterscheidet.
Nehmen wir einmal Deutschland: Da gibt es eine Definition vom Staatsbürger, die sich - mit einigen Nebenbestimmungen - darauf kapriziert, dass jemand die Staatsbürgerschaft durch Geburt von Staatsbürger-Eltern oder nachträglichen Erwerb hat und damit ist er, soweit es das Recht interessiert, ein fertiger Deutscher. Er kann auch ein besonderer Deutscher sein, der einer traditionellen Minderheit angehört, etwa Friese, Däne oder Sorbe. Diese Minderheiten haben gesonderte Schutzrechte. Daneben gibt es allerhand große und kleine Minderheiten nach Herkunft, die für das deutsche Recht nichts besonderes sind, sondern ganz normale Deutsche. Es ist den Verfassungsgebern nie in den Sinn gekommen, dass es deutsche Deutsche und andere Deutsche geben könnte und dass man den Vorrang der deutschen Deutschen irgendwie garantieren müsse. Entweder war es ihnen egal und sie wollten offenlassen, dass "gewordene Deutsche" oder Deutsche aus den alten Minderheiten einmal die Mehrheit stellen könnten, oder die ganze Frage schien ihnen weit hergeholt, nicht dringlich.
Nehmen wir einmal Andorra. In Andorra sind die Staatsbürger unter den Einwohnern in der Minderheit, die Staatsbürgerschaft ist schwer zu erlangen. Die Fertilität beträgt rund 1,1 Kinder pro Frau, die Staatsbürger können sich also allein durch wahlweise Einbürgerung der langjährigen Einwohner bevölkerungserhaltend reproduzieren. Andorra war historisch immer ein Grenzfall zwischen zwei dominanten angrenzenden Kulturen. Die andorranische Verfassung unterscheidet aber nicht zwischen verschiedenen Sorten Staatsbürger.
Das alles ist aus verständlichen Gründen in Israel heute etwas anders. Die Bevölkerung zerfällt in "Juden", "Araber" und "andere". Ich denke, wir haben hier viele Experten für die Feinheiten dieser Einteilung, die sich mit religiösen Einstellungen nur teilweise deckt. Israel hat eine andere Verfassungstradition als wir, es gibt keine einheitlichen Verfassungsdokumente sondern eine Reihe von Dokumenten, die zusammen die Verfassung des Staates ergeben. Israels Einwohnerschaft ist stark geprägt durch doppelte Staatsbürgerschaften, Zuwanderer aus aller Welt und natürlich auch die Tatsache, dass es innerhalb des Staates immer eine arabische Bevölkerung gab und durch die verschiedenen politischen Veränderungen weitere hinzukamen. Bei der Zuwanderung gibt es Menschen, die rechtlich als Juden und deren Verwandte definiert sind und einen besonderen Zugang zur Staatsbürgerschaft haben und alle anderen, die einen mehrjährigen Aufenthalt im Land absolvieren und verschiedene Bedingungen erfüllen müssen. Seit der Unabhängigkeit Israels hat sich die Einwohnerzahl mehr als verzehnfacht. Den Gesetzgebern scheint es unter diesen Umständen wichtig zu sein, die "jüdische" Ausprägung des Staates festzuhalten. Darum entsteht viel Verwirrung bei auswärtigen Lesern. 43% der als "Juden" nach dem Gesetz bezeichneten Menschen bezeichnen sich als säkular, was nicht heißt, dass sie nicht Traditionen und Geschmäcker haben können, die bei den als "arabisch" bezeichneten Einwohnern nicht weit verbreitet sind. Von denen gibt es rund 20%, beim Glauben herrschen sunnitische Ideen vor. 8% der arabischen Einwohner gelten als Christen. Auch wieder kompliziert: Es gibt Einwohner mit arabischer Abstammung, die nach dem Gesetz in der Zählung als Juden gelten. Sie gelten damit nicht als Araber. Rund 200.000 arabische Einwohner Jerusalems haben sich gegen die israelische Staatsbürgerschaft entschieden und haben einen eigenen Rechtsstatus. Den Staatsbürgern stehen alle wesentlichen Rechte gleich zu, egal wie sie einsortiert werden. Nur 13 der 120 Parlamentssitze entfallen auf die sogenannten arabischen Staatsbürger. Die Wahlbeteiligung ist mitunter sehr gering. 24% der Araber gelten als "patriotisch" oder "sehr patriotisch". In wie weit bedarf es eines besonderen jüdischen Charakters dieser Demokratie? Es sind wohl weniger die Fragen des heute als die Fragen eines denkbaren morgen, die ein Spannungsfeld zwischen einer staatlichen Festlegung und einer Demokratie eröffnen. Ist es im Sinne dieser jüdischen Staatseigenschaft notwendig, dass der Staat sich um eine vorwiegend - nach seiner Definition - jüdischen Bevölkerungsmehrheit bemüht? Welche Maßnahmen stehen im Raum, wenn sich absehbar diese Zusammensetzung durch Geburten und Zuwanderung nicht erhalten ließe? Es ist nichts besonderes an Israel, dass sich identitäre Minderheiten benachteiligt fühlen und vielleicht im Leben auch Nachteile erleben, ohne dass dies an den staatlichen Einrichtungen ablesbar wäre. Man denke nur einmal an Nordirland, an Spanien oder an Lettland. Es ist daher wichtig, zu verstehen, inwieweit eine besondere Staatseigenschaft "jüdisch" praktische Folgen hat und was das für die Rechte einer Minderheit bedeutet, wenn konkret im Raum steht, dass sie Mehrheit sein könnte. Dazu können die entsprechenden Experten im Forum sicher viel erzählen.