http://murat-kayman.de/2017/03/08/sprachlos/
Unverständlich, all die „Diener nur eines Herren“, all die „entweder, oder“ Loyalitätsforderungen, all die „Leitkultur“-Deutschen, die glauben, „über allem“ zu stehen. Meine Erfahrungen – gerade in dieser deutsch-türkischen Vielfalt – sind aber so reich, so übervoll an kulturellen Schätzen, dass eine Hierarchisierung doch nur eine „Leidkultur“ hervorbrächte.
Unverständlich auch, all die leichtfertigen Fahnenschwenker, all die Symbolpatrioten, all die „wiedergeborenen Türken“. Bis gestern nicht in der Lage, zwei Sätze akzentfrei Türkisch zu sprechen, heute im Poltern und Pöbeln versunken, ohne Vorstellung von der lyrischen Pracht der türkischen Sprache, mit einem historischen Bewusstsein, das sich ausschließlich aus fiktionalen Fernsehsendungen speist. Die bis zu ihrem Erweckungserlebnis gänzlich unbefangen, heute das Religiöse mit dem Nationalen so amalgamiert haben, dass es keine aufrechteren Verteidiger ihres unbedingt einzigen Heimatlandes und ihres wahren Glaubens geben kann, als sie, die überzeugt sind, „über allem“ zu stehen. Eine Existenz, die sich aber permanent in Ort und Zeit als entfremdet begreift, kann doch nichts hervorbringen, das andere von der Glaubwürdigkeit des Eigenen überzeugt.
Es ist Lessing, der in seinem Werk „Nathan der Weise“ Rachel fragen lässt: „Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?“
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Und was ist der aktuelle deutsch-türkische Realzustand? Überhebliche Geringschätzung auf der einen, bornierte Feindseligkeit auf der anderen Seite. Beides vergiftet derzeit zunehmend unser Zusammenleben. Und beides ignoriert, dass Deutschland und die Türkei zwar keine gemeinsame Grenze, aber mehr als 3 Millionen gemeinsame Menschen haben.
Deutschland verlangt von diesen Menschen eine ausschließliche, exklusive, exkludierende Zugehörigkeit, ein Sich-Loslösen von der Türkei, ohne je auch nur ansatzweise ein offensives, ein appellatives Angebot einer emotionalen Beheimatung angeboten zu haben – und wundert sich, warum die Menschen sich zunehmend in einer konstruierten geistig-ausländischen Enklave einrichten.