MG-42 » Do 27. Feb 2014, 01:46 hat geschrieben:
Erstmal vielen Dank für die ausführliche Antwort.
zu deinen Wuenschen.
1. insgesamt ging es der Tuerkei dank der Anbindung an der EU wirtschaftlich sehr gut, das Macht Sinn den Kurs beizubehalten. Der kranke Mann hat durchaus Muskeln wachsen lassen.
Das leugnet auch niemand. Selbst in der Türkei nicht. Aber das Land ist heute eben anders als in den 90er Jahren. Die Zollunion mit der EU hemmt türkische Exporte und vergrößert das Leistungsbilanzdefizit.
2. Die Nato mag nicht immer im Interesse der Tuerkei handeln, als Mitglied hat man Rechte, die die Tuerkei wahrscheinlich eher hilfreich sind, als neutraler waere der Einfluss geringer aus meiner Sicht.
Kurz- und mittelfrsitig, ja. Aber langfristig? Darüber lässt es sich vorzüglich streiten. Rein aus der Perspektive der Türkei betrachtet, wäre der Nato-Austritt dann sinnvoll, wenn Ankara weiterhin auf westliche Militärtechnologie Zugriff hat. Im Falle eines Austritts wird der Zugang zu dieser Technologie allerdings automatisch begrenzt werden. Nicht-Nato-Staaten können viele Waffensysteme nicht käuflich erwerben im Westen. Sofern China oder Russland ihre Rüstungsindustrie weiterhin in diesem Tempo modernisieren, wird sich für Ankara so oder so eine Alternative auftun.
Du darfst nicht vergessen, dass sich die Interessen der Türkei und des Westen in den letzten 10 Jahren eher auseinander statt zueinander entwickelt haben. Das Engagement Ankaras in Nordafrika wird von Frankreich genauestens beobachtet. In Syrien haben die USA enttäuscht, im Irak die Sicherheit der Türkei sogar gefährdet. Durch die Iran-Sanktionen entgehen der Türkei jedes Jahr Milliarden-Exporterlöse. Entsprechend tiefrot ist der Handel mit dem Iran zu Lasten der Türkei, denn die USA erlauben aufgrund der Wirtschaftsabhängigkeit den Import von Energie aus der islamischen Republik, aber den darüber hinausgehenden Handel mit Waren und Dienstleistungen verbieten sie. Das schadet der Wirtschaft im Osten der Türkei, ausgerechnet die ärmste Region des Landes. Der Zentralregierung entgehen Steuereinnahmen; die Arbeitslosigkeit in diesem Gebiet ist weiterhin hoch. Es ist auch zu erwarten, dass der Iran-Handel positive Auswirkungen auf die Kurden in jenem Landesteil hätte, sie wären wohl die ersten Profiteure, was das Land im Allgemeinen stabilisieren würde. Dass das geht und keine spekulativen Annahme meinerseits ist, zeigt der lebendige Irak-Handel.
Es gibt auch weitere Konfliktpunkte. Jetzt, wo Putin die Krim an sich gezogen hat, wird man in Brüssel, Paris und Berlin die Energievorkommen vor Zypern noch schneller erschließen wollen. Das Gleiche gilt auch für Griechenland. Ohne eine Einigung im Zypern- und Ägäiskonflikt wird dies zu einer direkten, im schlimmsten Fall militärischen Konfrontation führen. Wir reden hier über die elementarsten Interessen der Türkei.
Hinzu kommt aber, dass das Land ein
game changer ist. Was wäre wohl in Europa los, wenn man anstelle amerikanischer Nuklearwaffen im Süden des Landes, chinesische in der Westtürkei stationieren würde oder bloß laut darüber nachdächte? Das klingt im Moment sehr utopisch - das ist es auch, sofern ein potenzieller Austritt aus der Nato friedvoll geschieht. In keinem anderen Nato-Staat ist die Zustimmung zur Mitgliedschaft so niedrig wie in der Türkei. Eine international anerkannte Neutralität würde am Bosporus bei jeder Volksbefragung eine Mehrheit erlangen.
Aber, warum will ich überhaupt, dass die Türkei austritt? Ganz einfach: das ist eine Kosten-Nutzen-Analyse und Projektion für die Zukunft, nicht die Gegenwart. Eine Türkei, die sich auf der weltpolitischen Gegenseite positionieren könnte, hat vielmehr Einflussmöglichkeiten im Westen als die Nato-Mitgliedschaft hergibt, sofern die oben angesprochenen Bedingungen erfüllt sind.
3. Was versteht du darunter?
Dass der Kemalismus als Staatsideologie aufgehoben wird.
Die Kurden, was waere denn die optimale Loesung aus deiner Sicht des Kurdenproblems, es scheint die Regierung versucht den Einfluss von radikalen Kurdengruppen ausserhalb der Tuerkei durch eine mehr tolerante Kurdenpolitik zu minimieren,
Wenn feststeht, dass Syrien und der Irak endgültig verloren sind, dann wird die Türkei alles in ihrer Macht stehende daran setzen, ein pro-türkisches Kurdistan oder Defacto-Staat als Pufferzone an der Südgrenze zu unterstützen. Das tut sie bereits im Nordirak. Die Aufnahmen, die jetzt aufgetaucht sind, kann man auch dahingehend interpretieren. Viele vergessen auch, dass die türk. Regierung zu allen kurdischen Parteien Verbindungen unterhält. Selbst zur PKK und viel stärker noch zur syrischen PYD, mit der sie sich schon mal über das Thema Autonomie unterhielt.