schokoschendrezki hat geschrieben:(23 Jan 2019, 08:32)
Der aus meiner Sicht entscheidende Punkt ist, dass das, was User "Der General" als "Demokratie nach westlichem Standard" nannte und was angeblich "den RUssen vom Westen aufgezwungen" werden solle im sogenannten "Westen" gar nicht mehr unhinterfragt Konsens ist.
Jein. In den maßgeblichen Ländern - und da gehören Österreich oder Venezuela nun mal nicht dazu - ist die offizielle Linie der regierenden Parteien immer noch noch das Ideal von Demokratie durch Freihandel und "regelbasierte Außenpolitik" - wobei hier der Witz ist, wer die Regeln macht und wer sie zu befolgen hat. Dass es in den maßgeblichen Ländern auch Minderheitenpositionen gibt, von USA bis Frankreich, ist die eine Abweichung davon. Der aktuelle Trend in zweitrangigen Ländern, dass dort auch eher rustikale Interpretationen von Demokratie und eher sparsame Darreichungsformen von Freiheit mit aggressivem Nationalismus einher gehen, fügt sich natürlich in die Lage Osteuropas samt Ukraine und Russland ein. Da soll man sich ruhig Sorgen drüber machen, genau wie über Minderheiten hier im Land.
Ein drittes, klassisches Thema der Kritik ist, da kommt auch der General oft drauf, dass bei der Auswahl von Methoden und Bündnispartnern in der praktischen Außenpolitik die offiziellen hohen Standards schnell zurücktreten. Da haben wir die gern schnell wieder vergessenen Entführungen und Deportationen in Drittländer, um dort quasilegal foltern zu können. Da haben wir Kooperationen mit Regimen und Rebellengruppen der fragwürdigsten Schublade. Sowas macht USA vor, sowas macht Deutschland mit oder unterbindet es zumindest nicht nach Möglichkeiten. Erhebliche Geldbeträge in die Beeinflussung von auswärtigen Wahlkämpfen zu stecken, von Südamerika bis Osteuropa, heißt löblich, solange es nicht die Russen tun. Da wundert man sich dann?
Was wir seit mehreren Jahren in vielfältigen Formen und Varianten erleben, ist die langsame Auflösung dieses Grundkonsens. Zu großen Teilen vermutlich dem Ende des Ost-West-Konflikts zu verdanken.
Ich meine, dass wir es eher mit etwas anderem zu tun haben: Die real praktizierte Politik fiel hinter die Prinzipien schon immer zurück, wenn es kommod war. Durch das Ende eines homogenen und als insgesamt nicht anzugreifenden Blocks bot sich nach 1985 ein sehr großes neues Feld in Osteuropa und Asien, in dem nun plötzlich weitgehend folgenlos möglich war, was man sich sonst eher in Randlagen wie Afrika oder im eigenen Strafraum Südamerika herausnahm. Dazu kam, dass weitere Player wie das erstarkte und vergrößerte Deutschland mit seiner EU oder die britisch-französische Militärachse eine eigene Außenpolitik nun wieder für möglich hielten.
Solange das so ist, ist es für vernünftige Menschen wahrscheinlich schon das vernünftigste, sich an den Minimalkonsens des Völkerrechts zu halten. Und davon ausgehend sind nun einmal die Interventionen Russlands völkerrechtswidrig und zu verurteilen. Ohne wenn und aber. Und auch wenn Staaten des sogenannten Westens dies zumindest in der Vergangenheit in noch flagranterer Weise taten.
Das ist eine sehr idealistische Sicht auf das Wesen von "Völkerrecht". Damit meine ich nicht, dass es oft nicht wirksam wurde, sondern dass es überhaupt eine fragwürdige Einrichtung ist. Man findet zu jedem Grundsatz nicht nur den Ausnahmefall, sondern auch den berechtigten Einwand, warum der Grundsatz dort nicht gelten soll - oder eben doch. Das ist eine herrliche Produktion von Gründen für das, was die jeweilige Außenpolitik sowieso tut. Deshalb hast du völlig berechtigt gemeint, nach dem Wortlaut könnte man die Interventionen Russlands für völkerrechtswidrig halten. Jedoch sind Völkerrecht, Menschenrecht etc vielfach auslegbar. Man kann diese Übereinkünfte als eine eher allgemeine Dokumentation von Gepflogenheiten verstehen, die der realen Entwicklung von Machtverhältnissen und der realen Akzeptanz von Handlungen Dritter immer hinterher läuft.
Ich würde in der Krimfrage nicht so sehr auf Völkerrecht als geduldiges Papier setzen sondern eher darauf, dass alle miteinander irgendwann wieder Lust auf Handel und Zugang verspüren und miteinander ins Geschäft kommen wollen - und dafür wird Russland sich in irgendeiner Weise qualifizieren müssen, wie auch die Ukraine sich irgendwann zu den dann schon wieder alten Grenzen verhalten muss. In Deutschland hat das Jahrzehnte gedauert und ist in manchem Kopf sicher nicht abschließend akzeptiert, nicht unhinterfragt. Die Zäune, die Russland und Ukraine heute hochziehen, brauchen schon morgen Spielregeln, für welche Fälle sie gelten sollen und für welche nicht.
Die liberale Demokratie in Deutschland, in der Ukraine, in Russland und anderswo wird nicht durch das Pochen auf altes Papier gestärkt, durchgesetzt oder gerettet. Sie lebt von materiellem Wohlstand so sehr wie vom aktiven eigenen Gebrauch. Statt dreimal täglich gen Moskau zu zetern sollten wir vor allem eigenes Handeln prüfen, ob es wirklich in eine liberale und regelbasierte Ordnung passt oder nicht eher ein Ausdruck davon ist, was wir glauben durchdrücken zu können. Wir haben nur Zugriff auf die eigenen Spielfiguren.